Filmrezension: The Zone of Interest

Filmrezension: The Zone of Interest

Triggerwarnung: In diesem Artikel wird über die schweren Kriegsverbrechen im Konzentrationslager Auschwitz während des zweiten Weltkrieges gesprochen.

Die Schrecken hinter den Mauern der Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges sind jedem bekannt. Der Horror, den die Gefangenen dort tagtäglich durch die Hand der Nazis durchleben mussten. Der oscarprämierte Film “The Zone of Interest” spielt direkt vor den Mauern des Konzentrationslagers in Auschwitz und zeigt den Alltag der Familie des KZ-Kommandanten Höß.

Der Film des britischen Regisseurs Jonathan Glazer, welcher auch das Drehbuch geschrieben, hat, wurde bereits 2023 bei den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt. Im deutschsprachigen Raum startete der Film am 29. Februar 2024 in den Kinos. Es handelt sich bei dem Projekt um eine internationale Koproduktion zwischen dem Vereinigten Königreich, den USA und Polen. Die Hauptrollen übernahmen die beiden deutschen Schauspieler*innen Christian Friedel und Sandra Hüller.
Gedreht wurde an den Originalschauplätzen in Auschwitz. Das Haus der Familie Höß wurde für den Dreh nachgebildet und innerhalb des Hauses wurden mehrere versteckte Kameras eingebaut, was es ermöglichte, dass die Schauspieler*innen sich ohne Filmteam frei in den Räumen bewegen konnten. Es wurde außerdem während der Dreharbeiten kein künstliches Licht verwendet, damit die Szenerie nicht zu ästhetisch wirkt. 

Trailer

Die Familie Höß

Der Film begleitet die Familie Höß in ihrem alltäglichen Leben direkt neben dem Konzentrationslager Auschwitz, wie es auch wirklich stattgefunden haben könnte, denn die Charaktere im Film basieren auf historischen Personen. Der Familienvater Rudolf Höß baute 1940 im Auftrag Heinrich Himmlers das Konzentrationslager Auschwitz auf, welches aufgrund der vielen Gefangenen, die dorthin gebracht wurden, immer wieder vergrößert wurde. Täglich kamen Züge mit neuen Gefangenen aus ganz Europa. In den folgenden Jahren organisierte Höß den Massenmord der Gefangenen in den Gaskammern. Bis 1943 war er Kommandant des Konzentrationslagers. Dann wurde er abberufen und als Leiter der für die Konzentrationslager zuständigen Amtsgruppe D im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt eingesetzt. Bereits ein Jahr später wurde er wieder nach Auschwitz zurückbeordert, um die Leitung der Massenermordung der ungarischen Juden zu übernehmen. Insgesamt starben in Auschwitz und den dazugehörigen Außenlagern mindestens 1,1 Millionen Menschen. 

Das Grundstück der Familie Höß grenzte an die Außenmauer des Konzentrationslagers. Eine künstlich geschaffene Idylle mit Blumenbeeten, einem Gartenhaus und Pool direkt neben dem Horror. Während ihr Mann tagsüber im Lager arbeitete, kümmerte sich Hedwig Höß um den Garten der Familie, befehligte ihre Bediensteten und die Gefangenen, die für die Familie arbeiteten, und zog ihre fünf Kinder auf. Machten die Gefangenen, die für die Familie arbeiteten, einen Fehler, mussten sie den Tod befürchten. In der filmischen Umsetzung droht Hedwig einem Mädchen beispielsweise damit, dass, wenn sie es wollte, ihr Mann Rudolf die Asche des Mädchen über die Felder von Babice verteilen würde. Tatsächlich wurde die Asche aus den Krematorien als Dünger für die Pflanzen im Garten der Familie benutzt.

„Rudolf nennt mich die Königin von Auschwitz.”

Hedwig Höß (gespielt von Sandra Hüller) zu ihrer Mutter (gespielt von Imogen Kogge)

Bereits zu Beginn des Films überreicht ein Häftling der Hausherrin einen Beutel mit Kleidung, darin befinden sich mehrere Stücke von denen sich die Mädchen im Hause jeweils eines aussuchen dürfen. Währenddessen geht Hedwig in das elterliche Schlafzimmer und probiert dort einen Pelzmantel an. In dessen Tasche findet sie außerdem einen Lippenstift, den sie ausprobiert, aber dann sofort wieder abwischt. Bei all dieser Kleidung handelt es sich um die ehemaligen Besitztümer von Gefangenen.

„Die Kinder der Familie und die Ehefrau trugen Kleider von Menschen, die ihr Mann und Vater vergast hatte.”

Historikerin Raphaela Schmitz (2019)

Die Familie lebte bis 1944 neben dem Lager, bis Rudolf Höß endgültig von seinem Posten dort entbunden wurde. 1945 floh die Familie nach Flensburg und Rudolf Höß verschaffte sich dort unter falschem Namen Arbeit, bis er ein Jahr später verhaftet wurde. Aufgrund seiner Kriegsverbrechen wurde Höß 1947 auf dem Gelände des Stammlagers in Auschwitz hingerichtet. Hedwig sagte als Zeugin bei den Frankfurter Auschwitzprozessen aus und gab sich dabei vor allem unwissend.

Die Idylle vor Augen, den Schrecken im Ohr

Durch die besondere Drehweise mit versteckten Kameras gibt es keinen Charakter, der besonders im Vordergrund steht oder dem die Kamera folgt. Die Zuschauenden versetzt dies in eine unbeteiligte Beobachtungsperspektive einer besonderen Art. Es ist, als würde man vom Nachbarhaus aus das Geschehen auf dem Grundstück der Familie Höß beobachten. Dadurch wird eine Distanz zu den Familienmitgliedern aufgebaut und eine persönliche Bindung könnte gar nicht erst entstehen. 

Es gibt im gesamten Film nur sehr wenige Szenen, die im Lager direkt spielen. Die Gewalt und der Horror, die sich innerhalb der Mauern des Konzentrationslagers in Auschwitz abspielen, werden nie direkt gezeigt, aber man kann sie den ganzen Film über hören. Man hört die Schüsse hinter der Mauer, während Hedwig ihrem Baby die Blumen im Garten zeigt. Man hört die Schreie der Insassen, während Hedwig sich im Gartenstuhl sonnt. Man hört das Brüllen der Wärter, während die Kinder im Garten spielen. Der Film spielt mit der Vorstellungskraft der Zuschauer*innen. Ohne den Horror direkt auf der Leinwand zu verbildlichen, werden durch die Sounds und die Filmmusik die Schrecken hinter der Mauer verdeutlicht. Diese kontrastreiche Umsetzung, in der Kinderlachen und Schüsse zeitgleich aus den Lautsprechern kommen, erschafft eine sehr bedrückende Atmosphäre. Man kann gar nicht glauben, dass das wirklich Realität war. Dass Menschen wirklich eine solch grauenhafte Ignoranz an den Tag gelegt haben und Augen und Ohren vor dem verschlossen haben, was neben ihnen geschah. 

Und plötzlich wird die Leinwand rot. Ein maschineller Sound erfüllt den Saal. Das Dröhnen wird immer lauter. Schreie vermengen sich mit den industriellen Klängen. Und dann Ruhe… Die Macher*innen des Films schaffen es auch hier durch den bloßen Einsatz von Klängen, die Schrecken von Auschwitz in den Köpfen der Zuschauer*innen hervorzurufen. Die Hintergrundgeräusche haben die wohl größte Macht im Film, denn vor allem in ihnen steckt der geschichtliche Hintergrund des Filmes. Die Geschichte, die hinter den Mauern passiert ist, die Hedwig mit Wein zuwachsen lassen will, damit man sie nicht mehr so sieht. 

Hinter der Mauer

Auch wenn sich das Gezeigte zum Großteil vor den Mauern des Konzentrationslagers abspielt, wird dennoch auch bildlich offenbart, was vor sich geht. So sieht man den Dampf der ankommenden Züge, die neue Gefangene ins Lager bringen. Man sieht die Rauchschwaden der Verbrennungsöfen. Sieht wie die Asche aus den Krematorien von einem Häftling als Dünger über die Erdbeerpflanzen verteilt wird und wie ein anderer das Blut von den Schuhen von Rudolf Höß abwäscht, nachdem dieser aus dem Lager nach Hause kommt.
In einer Szene wird Höß von anderen Männern die Funktionsweise eines Verbrennungsofens erklärt. Dabei wird von eben jenen Vertretern hervorgehoben, dass dieser besonders gut sei, da er im Dauerbetrieb eingesetzt werden könne. 
Als er einmal mit seinen Kindern im Fluss schwimmen ist, bemerkt er ein Knochenstück im Wasser, welches von den Krematorien stammt. Daraufhin sieht man, wie die Kinder von Hedwig und den Bediensteten schnell sauber gemacht werden.
Doch für Hedwig ist es ihr Traumzuhause, welches sie nicht einmal verlassen will, als ihr Mann für einige Zeit nach Oranienburg versetzt wird. 

Der Film macht deutlich, dass die Anwohner rund um die Lager gewusst haben müssen, was dort vor sich ging. Es wird gezeigt, wie Frauen die Fenster schließen und die Wäsche reinholen, wenn die Brennöfen im Krematorium laufen. Hedwigs Mutter, die zu Besuch ist, verlässt abrupt und ohne Verabschiedung das Haus, als sie scheinbar realisiert, was dort vor sich geht. Sie hinterlässt Hedwig einen Brief, den diese wütend verbrennt und daraufhin einer jungen Gefangenen mit der Einäscherung droht. 

Am Ende des Films wird das Konzentrationslager in der heutigen Zeit von innen gezeigt. Putzfrauen reinigen die Scheiben hinter, denen sich die Schuhe der Häftlinge türmen. Sie reinigen die Fußböden, und man sieht das erste und einzige Mal das Krematorium von innen. Danach springt der Film wieder in der Zeit zurück und zeigt Rudolf Höß; der Familienvater, der seinen Töchtern zum Einschlafen Gute-Nacht-Geschichten vorliest, und der Mann, der verantwortlich ist für all die Morde in Auschwitz. 

„Monster existieren, aber sie sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein. Gefährlicher sind die einfachen Männer, die bereit sind zu glauben und zu handeln, ohne Fragen zu stellen.”

Primo Levi, Holocaust-Überlebender

Das Licht im Schatten

Zwischendurch taucht im Film immer wieder ein polnisches Mädchen auf, welches nachts auf den Feldern in der Nähe des Lagers für die dort arbeitenden Insassen Obst verteilt. Sie ist im Gegensatz zu der dunklen Nacht hell erleuchtet. Ihre Figur basiert auf einer polnischen Frau namens Alexandria, die der Regisseur Jonathan Glazer getroffen hat. Sie arbeitete im Alter von 12 Jahren für den polnischen Widerstand und fuhr mit ihrem Fahrrad zum Lager, um dort Äpfel zu verteilen. Glazer hat ihr diesen Film gewidmet.

„It was her bike we used, and the dress the actor wears was her dress. Sadly, she died a few weeks after we spoke.” 

Jonathan Glazer im Interview mit The Guardian (2023)

Mein Eindruck

Der Film ist definitiv durch die Art und Weise wie gedreht wurde, von einzigartiger Natur. Ebenso möchte ich auch die schauspielerische Leistung von Sandra Hüller (Hedwig) und Christian Friedel (Rudolf) hervorheben, die die Ignoranz, Empathielosigkeit und Gefühlsarmut ihrer Charaktere absolut überzeugend dargestellt haben. Der Film ist ein Kunstwerk, das mit Farben und Klängen erschaffen wurde und das Schreckliche abbildet.

Es ist auch gleichzeitig einer der schlimmsten Filme, die ich je gesehen habe. Ich meine damit nicht schlimm im Sinne von schlecht, sondern dass dieser Film für mich vor allem emotional sehr belastend war. Ich wurde, während ich den Film geschaut habe, sehr wütend. Am liebsten hätte ich all diesen grauenhaft ignoranten Charakteren zugerufen, dass sie aufwachen und hinhören sollen und sehen, was um sie herum geschieht. Es hat außerdem ein Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit bei mir eingesetzt, während ich vor der Leinwand saß. Das dringende Bedürfnis, den Menschen hinter der Mauer helfen zu wollen, kam auf, obwohl ich weiß, dass das gar nicht mehr geht. 

Der Film hat mich auch nachdem ich das Kino verlassen habe, nicht losgelassen, und auch während ich diesen Artikel hier schreibe, habe ich immer noch die Schüsse und Schreie im Ohr. Es ist einer dieser Filme, über den man mit anderen reden muss, nachdem man ihn gesehen hat, und ich bin sehr dankbar, dass mir das möglich war. 
Für mich hat sich im Zuge der Recherche für diesen Artikel die Wirkung des Films noch mehr intensiviert, da sich die Bedeutung einiger Szenen erst dann für mich offenbart haben. Dementsprechend nehme ich an, dass mit dem entsprechenden Hintergrundwissen die Wirkung des Filmes noch viel härter ist.

„The Zone of Interest“ ist meiner Meinung nach einer der wichtigsten Filme dieser Zeit, denn er zeigt, wie grauenhaft es ist, das Leid um sich herum zu ignorieren. Er zeigt, dass man die Augen offen halten muss, damit man das Schlimmste verhindern kann. Und vor allem durch die Szenen mit dem polnischen Mädchen wird verdeutlicht, dass auch kleine Dinge große Auswirkungen haben können. Also haltet die Augen offen, helft wo ihr helfen könnt und engagiert euch, damit Dinge wie sie im Film gezeigt werden, nie wieder passieren. Wir können die Vergangenheit nicht mehr ändern, aber die Zukunft liegt in unseren Händen.

Beitragsbild: Carlotta Silvestrini auf Pixabay

Eine Liebeserklärung an “Society of the Snow”

Eine Liebeserklärung an “Society of the Snow”

Geschichten über Katastrophen haben Menschen schon immer fasziniert. Wie überlebt man so etwas? Was würde ich tun? Kann man so was überhaupt überleben? “Society of the Snow” nimmt sich all dieser Fragen an und bietet einen stillen, realistischen und tragischen Film der ganz anderen Art der Filmkunst.

Vielleicht gehört ihr zu denen, die von dem Unglück schon einmal gehört haben: eine uruguayische Rugby Mannschaft, die in den 70er Jahren irgendwo auf dem Weg nach Chile in den Anden abstürzt und zweieinhalb Monate in eisiger Höhe auf Rettung warten muss. Dabei sind es vor allem der Kampf gegen Hunger und Kälte, der die Lage immer hoffnungsloser macht – bis schließlich zu undenkbaren Maßnahmen gegriffen werden muss…

Ich hatte auch schon von dem recht reißerisch klingenden Ereignis gehört, mir aber nichts weiter dabei gedacht. Dann, vor ein paar Wochen, habe ich spontan auf eine Empfehlung hin ohne große Erwartungen den Film einmal angemacht – und wurde definitiv eines Besseren belehrt.

Hintergründe zum Film

Zunächst einige Eckdaten zu “Society of the Snow” (im Original:  “La sociedad de la nieve”): Es geht in dem Biopic um die wahre Geschichte einer Rugby Mannschaft aus Uruguay, welche am 13. Oktober 1972 in den Anden abstürzt und 72 Tage überleben muss. Von den ursprünglich 45 Menschen an Bord (19 Mitglieder des “Old Christians Club rugby union Teams”, deren Freunde und Familie sowie fünf Crewmitglieder) werden schlussendlich 16 gerettet. Der spanisch produzierte Film erschien im Dezember 2023 in den Kinos und ist seit Januar bei Netflix verfügbar.

Spoiler- und Triggerwarnung!
Auch wenn die Geschichte inzwischen weltbekannt ist und die Daten überall online nachgelesen werden können, nimmt sich der Film dennoch einige stilistische Freiheiten und beinhaltet Szenen, die Spoilerpotenzial bieten könnten. Außerdem wird es um das Thema Kannibalismus gehen – bitte bedenkt das, bevor ihr weiterlest.

Absurde Normalität

Grundsätzlich stellt der Film Themen wie Freundschaft und Zusammenhalt, Glaube, Hunger und Angst in den Vordergrund. Es ist kein blutiger Hollywood-Actionschinken, sondern beschäftigt sich vielmehr mit den psychologischen und metaphysischen Aspekten des Geschehens. Der Fokus liegt dabei fast ausschließlich auf den Geschehnissen in den Anden. Wir erfahren sehr wenig von den Betroffenen vor- und hinterher, nur einige Gesprächs- und Trainingsszenen sind zu sehen, und manchmal erfolgen ganz kurze Rückblenden. Der Absturz geschieht recht zügig, ungefähr in den ersten 25 Minuten, wobei 16 Menschen bereits sterben. Dabei wird sich hier, wie auch immer wieder durch den Film hinweg, an zwei Grundsätze gehalten: simpel und schonungslos ehrlich. Es erfolgt keine bombastische Musik, keine lauten Explosionen, niemand erleidet unrealistisch anmutende Verletzungen. Doch genau das macht es so schrecklich; der Film schafft es, ein so schlimmes Thema wie das eines Flugzeugabsturzes, wobei man immer denkt: “sowas passiert nur anderen, nicht mir”, einem ganz, ganz nah zu bringen.

Den größten Teil der restlichen Zeit verbringen wir mit den Überlebenden in den Anden, beim Wrack des Flugzeugs, worin sich die Verbliebenen eine notdürftige Zuflucht vor der Eiseskälte und dem Schnee suchen. Anfangs sind sie noch zuversichtlich, dass Hilfe rasch eintreffen wird. Als jedoch nach Tagen zwar ein Helikopter über ihre Köpfe hinweg fliegt, das Flugzeug aber nicht sehen kann, da es in einer Schneise versteckt liegt, wird ihnen klar: sie sind erstmal auf sich allein gestellt. Von dort an erleben wir die Tage als genauso quälend und einsam, wie die Überlebenden es tun, verfolgen ihre verzweifelten oder zuversichtlichen Gespräche und müssen zusehen, wie die Verwundeten schreien und nach ihrer Mutter rufen.

Hunger

Im Laufe der Zeit wird die Lage immer hoffnungsloser. Weitere Menschen sterben durch Verletzungen und die eisigen nächtlichen Temperaturen (ca. -30°C bis -40°C). Durch ein Transistorradio erfahren die Überlebenden, dass die Suche erst im Frühling fortgesetzt werden wird, um die Körper zu bergen; für sie eine Nachricht, die einem Todesurteil gleicht. Ihre Körper muten vor unseren Augen immer abgemagerter an. Bärte wachsen. Die Haut verbrennt durch die Sonne, wirkt spröde und dunkel. Die Gesichter sind verhärmt, die Augenhöhlen fallen immer weiter ein. Zähne werden gelb. Die Lage spitzt sich ohne Essen immer weiter zu. Verzweifelt werden erst Schnürsenkel und das Leder der Flugzeugsitze, der eigene Schorf oder Zigaretten gegessen – bis schließlich jemand auf die Idee kommt, die toten Körper zu essen.

“There’s food out there.”

Fernando ‘Nando’ Parrado (Agustín Pardella)

Der zunächst unvorstellbare Gedanke nistet sich immer mehr in den Köpfen ein, bis er schließlich in die Tat umgesetzt wird. Einige weigern sich zunächst, von dem Fleisch zu essen. Aber nach und nach kann niemand mehr widerstehen, und so wird diese anfangs grauenvoll anmutende Tat zur abgestumpften Gewohnheit.

Ich finde es gut, dass sich hier für eine unblutige, nicht explizite Variante entschieden wurde, denn das braucht der Film überhaupt nicht. Sünde und Vergebung werden diskutiert, denn viele der Gestrandeten sind gläubig, aber ansonsten lässt der Film das Thema sehr offen für eigene Meinungen und Schlussfolgerungen und beschränkt sich auf die Mimik in den Gesichtern. Er urteilt nicht. Später schließen die Verbliebenen sogar einen Pakt, in dem sie einander die Erlaubnis erteilen, sich essen zu dürfen, sollten sie sterben.

Diese metaphysischen Themen, gepaart mit all den anderen Ereignissen wie eine scheiternde Expedition durch die Berge wegen des schlechten Wetters, Schneestürme oder eine Lawine, die aus dem Nichts alle lebendig im Wrack begräbt und weitere acht Menschen ersticken lässt, haben mich emotional auf jeden Fall auf meine Kosten kommen lassen, und nicht zum letzten Mal habe ich mich gefragt, wie unmöglich diese ganze Geschichte eigentlich klingt.

Eine ganz andere Herangehensweise

Ich muss gestehen, dass ich nicht gedacht hätte, wie nah mir das Ganze geht. Das ist wohl vor allem auf die Technik des Regisseurs Juan Antonio Bayona zurückzuführen. Der Film sticht nämlich unter anderem dadurch hervor, dass er niemanden so wirklich in den Vordergrund stellt, mit Ausnahme des Erzählers vielleicht (zu ihm später mehr). Wie der Name verspricht, hat “Society of the Snow” die ganze Zeit die Gemeinschaft als Ganzes im Auge. Hier geht es nicht um die Heldengeschichte einer einzelnen Person, denn alle sind Opfer des Unglücks – auf welche Weise auch immer. Und es nimmt nicht die Anteilnahme, wenn wieder jemand den Bedingungen des Berges zum Opfer fällt; im Gegenteil war ich jedes Mal sehr berührt und schockiert. Übrigens tragen alle Figuren die echten Namen der Betroffenen. Diese werden auch zusammen mit dem Alter bei jedem neuen Toten kurz eingeblendet, um ihnen Respekt zu zollen.

Generell wollten Regisseur Bayona und sein Team die Geschehnisse so real wie nur möglich darstellen. Sie recherchierten jahrelang ausgiebig, führten Interviews mit Überlebenden und Verwandten von Opfern, suchten die südamerikanischen Schauspielenden genau nach ihren echten Vorbildern aus (die meisten ohne schauspielerische Erfahrung) und drehten fast alles chronologisch, weil die Schauspieler parallel zum Geschehen bewusst Gewicht verloren.

Zudem nimmt der Film sich Zeit. Es gibt mitunter sehr lange Kameraeinstellungen auf Landschaften oder Gesichter. Gerade bei ernsten Monologen über Themen, wie Tod oder das eigene Sterben, hält die Kamera sehr lange ungerührt aufs Gesicht und verleiht dem Ganzen so eine krasse Intensität.

Außerdem gibt es wenig Filmmusik; es wird viel mit den natürlichen Tönen von Bergen, Wind und Schnee gearbeitet. Oft ist es auch totenstill. Doch wenn Musik einsetzt, unterstreicht sie vor allem die unruhige und sehr hoffnungslose Lage. Komponiert wurde sie von Michael Giacchino, der u.a. den Soundtrack zu “Up”, “The Batman” oder “The Incredibles” anfertigte.

Die Stimmen der Toten

Numa Turcatti ist der Erzähler des Films. Durch ihn hören wir nicht nur seine, sondern auch die Gedanken des Teams immer wieder im Voice-Over. Auch hier gibt es eine Besonderheit: Numa ist eins der Opfer, welches seine Geschichte für immer in den Bergen zurücklassen wird, dessen Stimme wir jedoch bis zum Ende des Films hören. Regisseur Bayona sagt dazu, dass er denjenigen, die es nie vom Berg zurückgeschafft haben, eine Stimme geben und deren Perspektive einnehmen wollte. Numa stirbt schließlich an einer Beinwunde, die sich infiziert, als das Wetter langsam wärmer wird. Er ist der letzte Tote des Unglücks.

“There is no greater love than to give one’s life for friends.”

Numa Turcatti (Enzo Vogrincic)

Sein Tod sorgt dafür, dass zwei der Überlebenden, Roberto Canessa und Fernando Parrado, eine erneute Expedition bei besseren Wetterbedingungen (denn inzwischen werden die Tage wieder wärmer) durch die Berge machen können mit der Hoffnung, auf andere Menschen zu treffen. Zehn Tage dauert sie, und endet auch unverhofft mit der ersehnten Rettung am 22. Dezember. Die letzte Einstellung zeigt die 16 Überlebenden, die zusammen in einem großen Krankenhauszimmer warm und geborgen zusammensitzen, während Numa ihnen im Voice-Over alles Gute wünscht.

Was bleibt

Ich musste, nachdem ich den Film zu Ende geguckt hatte, noch lange darüber nachdenken. Über den Film, aber auch die Geschichte an sich, und die verrückte Willkür des Lebens. Ich habe mir sehr viele Interviews und Making-Ofs des Films angeschaut und später Interviews mit denen, die tatsächlich in den Bergen waren und heute noch leben. Ein paar von ihnen sind sogar für einige Sekunden im Film zu sehen (z. B. als Arzt oder Arbeiter am Flughafen). Was mich auf jeden Fall beeindruckt hat: wie stark alle zusammengehalten haben und füreinander da waren. Sich beistehen, gegenseitig ärgern oder Witze reißen, selbst in so einer Situation, hat etwas unglaublich Menschliches und Tröstliches. Mit einer Kamera, die den Absturz überstand, wurden sogar Fotos während der Zeit in den Bergen aufgenommen, für die die Überlebenden posten.

“Society of the Snow” ist einer meiner liebsten Filme der letzten Jahre geworden, nicht nur wegen der fantastischen Ensembleleistung vor und hinter der Kamera, sondern weil sich getraut wurde, Dinge einfach so wie sie waren, darzustellen und darauf zu vertrauen, dass das ausreicht, um eine fesselnde Geschichte zu erzählen.

Sometimes, this story is romanticised, but it was a horrifying tragedy. We were in hell. I mean, compared to what we went through, hell was comfortable. When fate hits you it doesn’t warn you. Fate doesn’t warn you. The best day of your life and the worst day of your life dawn the same. […] so I tell people: enjoy the present. The past is gone.

Fernando ‘Nando’ Parrado im Interview mit euronews 2022

Beitragsbild: Maitane Azurmendi auf Wikipedia Commons

Der König des Greifswalder Deutsch-Raps

Der König des Greifswalder Deutsch-Raps

Diese Ausgabe der moritz.playlist ist eine besondere. Heute geht es um jemanden, der in seiner Musik einen unvergleichbaren Bezug zu seiner Heimatstadt herstellt. Er ist der Greifswalder Deutsch-Rapper. Der König des Greifswalder Deutsch-Raps, wenn man so will und ich habe mich mit LEX177 auf ein Interview getroffen.

Wie wir den König gefunden haben

Einleitend möchte ich aber eine Geschichte erzählen. Sie beginnt an einem Donnerstag, kurz vor 19:15 Uhr. Eine Redaktionssitzung des webmoritz. steht an. Um aber die Zeit zu überbrücken und auch um ein wenig zu socializen, werden meisten lustige Videos auf YouTube geschaut. Gut, zugegeben, meist finden nur die Chefredakteure diese lustig, das ist aber ‘ne andere Geschichte. Auf jeden Fall sollte ein Video mit Bezug zu Greifswald über den Beamer flimmern. Also Greifswald in die Suchleiste eingeben und der dritte Suchvorschlag war “Greifswald Rap”. Wir wurden neugierig. Und dann fanden wir ihn. Den Track “Ich bin Greifswalder”. Zugegeben; den Reupload. Wir hatten in der Gruppe direkt einen Gedanken. Ein Interview wäre mega. Als wir dann wussten, wer der Urheber dieses Meisterwerkes ist, war klar: es wird eine moritz.playlist geben.

Wie der König zu rappen begann

Wir machen eine kleine Zeitreise ans Ende der 90er. LEX177 ist zu diesem Zeitpunkt fünf oder sechs Jahre alt. Als Geschenk seiner Schwester bekommt er das Album „Flesh of my Flesh, Blood of my Blood“ von DMX in die Finger. Nach eigener Aussage habe „er nicht geschnallt, was da erzählt wurde“. Aber gerade der „Groove und die Energie dahinter“ hatten es dem kleinen Lex angetan. Bis heute zähle DMX zu seinen absoluten Lieblingsrappern. LEX177 beginnt also schon früh mit dem bloßen Hören von Rap. Die spätere Ära um die 2000er herum war der bloße Traum für ihn.

[Die] 2000er Ära mit Eminem und 50 Cent […] war die Definition von Coolness und das wollte ich sein.

LEX177

Den Entschluss gefasst, selber mit dem Rappen anzufangen, habe er, als er “Mein Block” von Sido in die Hände bekommen hatte. Der allererste Text aus seiner Feder ging dann auch gleich um eine ominöse Stadt mit dem Greifen, weil über seinen Block zu schreiben nach seiner Aussage keinen Sinn ergeben habe.

Was soll ich erzählen? Meine Nachbarin ist 70 und bringt uns Mittagessen vorbei, ist ja totaler Quatsch, will kein Mensch hören. Also habe ich meinen ersten Text über Greifswald geschrieben. […] Dann standen da halt so Sachen drin, wie: ich treffe mich mit meinen Freunden und wir fahren BMX.

LEX177 über seinen ersten Text

Zeitlich befinden wir uns im Dezember 2005. Erste Aufnahmen machte LEX177 2007 mit einem Headset. Thematisch ging es nach seiner Aussage amerikaorientiert zu. So wusste er, dass er das darstellen wolle, was die Amerikaner darstellen.

Ich will Wert auf Klammotten legen. Schon die Frauenthemen haben, auch mit 13, 14, [..] Ketten. Alles. Hauptsächlich Amerika.

LEX177 über seine ersten Anfänge

Aber eins war ihm damals und ist ihm heute immer noch wichtig: Dass er “keinen Scheiß erzählt”. Wenn er kein Geld habe, könne er nicht rappen, dass er Geld habe, so LEX177 weiter.

So sind damals schon die Tracks vor 2007 entstanden. Mit ein paar Freunden seien sie damals durch die Stadt gelaufen, hätten Videos gedreht und ihre Texte in die Kamera gerappt, ohne Beat, nur der rohe Rap. So hätten sie am Ende ihr Album gehabt und dieses auch auf DVD verewigt. Ab 2007 wurden dann auch die ersten Songs, immer noch mit Headset aufgenommen, für 3€ in seiner Schulklasse verkauft. Ab 2008 sind dann die ersten Tracks als Free-Download erschienen. Möglich war dies, weil LEX177 sich genügend Geld für eben erwähntes Headset zusammengespart und seine Schwester ihm Magics Music Maker geschenkt hatte.

Eigentlich ist alles immer rausgekommen. Irgendwie. Ob als CD oder als Free-Download im Internet. Irgendwie kam es immer raus.

LEX177 auf die Frage, ob Rap erst nur eine Sache für sich war oder ob er auch gleich seine Tracks veröffentlichte.

LEX177 beginnt also, erste Tracks zu veröffentlichen. Damals noch bis zu drei Mixtapes im Jahr. Dass man so viele Songs produzieren konnte, habe daran gelegen, dass man zu einem keine hauseigenen Produzenten gehabt habe und Zeit bei den Beats sparte.

Wir hatten ja keine hauseigenen Produzenten. Das heißt: wir haben uns die Beats von den Amerikanern gerippt und haben die Instrumentals heruntergeladen oder sind extra in den MediaMarkt gelaufen und haben die Maxi Single gekauft, weil meistens das Instumental da mit drauf war.

LEX177 dazu, wie ein Track damals entstanden ist

Wie heute ein Track entsteht

Heute sei die Arbeitsweise eine ganz andere. Anfangen würde es damit, das LEX177 heute keinen fertigen Beat mehr habe, sondern LEX177 baut sich ein Sample zusammen, schreibt den Text und lässt seinen Produzenten TyZe die Magie machen und einen Beat bauen.

Dann sitzt du schonmal zwischen einer und vier Stunden an nem Beat. Aufnehmen ist immer ruckzuck. Ich bin One-Taker. Aufnehmen ist ne Sache von zehn, fünfzehn Minuten. Je nachdem, ob wir viel mit Effekten arbeiten.

LEX177 über den Prozess hin zu einem fertigen Song

Mit TyZe arbeitet LEX177 seit 2015 zusammen. Die “Geheimformel” für ihre Zusammenarbeit auf Augenhöhe sei, dass man die Meinung des anderen gelten lasse.

Er ist viel wichtiger als ich. Also da spiel ich mich gar nicht auf. Also Rapper gibt’s wie Sand am Meer, aber [nicht] so einen Produzenten. TyZe ist schon Bombe.

LEX177 über den Stellenwert von TyZe

Neben TyZe und LEX177 ist aber noch eine weitere Person an den Tracks beteiligt. Rico Scheunemann, von 25ART, als Videograph.

Heutzutage machst du ja nicht mehr die Über-High-Budget Videos. Du versuchst halt, das Beste rauszuholen mit dem, was du hast. Wir haben einfach ne stabile Kamera und wenn auch noch das Licht stimmt und die Story hinter dem Video stimmt, kann dann gar nichts mehr schiefgehen. Du brauchst nicht viel.

LEX177 auf die Frage, warum er kein riesiges Kamerateam hat

Auch sei Rico Scheunemann “ein Genie” und liebe das Anfertigen von Musikvideos.

Früher habe ich keinen rangelassen. Da war [es] so: “Ok, Ey film mal, aber gib mir das alles. Ich schneid’ das”. Weil ich keinem vertraut hab. Heute ist [es] so: Rico macht das schon.

LEX177 über sein Vertrauen in die Arbeit von Rico Scheunemann

Wie der König zum König wurde

Bekannt wurde LEX177 gerade in Greifswald und Umgebung durch seinen Song “Ich bin Greifswalder”. Eine Lobenshymne auf die Hansestadt. Ein Song, der nach Meinung von LEX177 gerade aufgrund des Gemeinschaftsgefühls funktioniert habe. Damals hätten sie nicht gewusst, dass der Song so funktionieren würde.

Wir haben das Video nur gemacht, weil ich Werbung für mein Album brauchte. Weil ich mein Album angekündigt habe und ich hatte noch keine Single draußen, kein Video, nichts. Und dann saß uns die Zeit im Nacken und dann war so: Kacke, was machen wir? Das einfachste was geht ist, schnappt dir die Kamera und wir rennen durch Greifswald und filmen die Stadt. Mach den “Ich bin Greifswald”-Song, “Ich bin Greifswalder”. Und er hat gezündet.

LEX177 über die Entstehung des Videos zu “Ich bin Greifswalder”

Der breiten Masse ist LEX177 gerade aber noch unter seinem alten Namen “RohlexXx” aus Battle-Rap Turnieren, wie dem JBB oder dem JMC bekannt. Dort trat er nicht unerfolgreich an. Auch sei die Aufmerksamkeit, die ihm durch das Publikum, welches teilweise jenseits der Million lag, später vorteilhaft für Bookings geworden.

Aufgrund der JBB-Geschichte, weil das ja auch nochmal Millionen von Klicks sind, konntest du halt auch dementsprechend die Gagen anpassen und die Anfrage war halt höher.

LEX177 über die Nachwirkungen seiner Teilnahmen

Im Verlauf der Zeit wollte LEX177 aber nicht mehr nur mit Battle-Rap in Verbindung gebracht werden. Weshalb er sich zu einem drastischen Schritt entschied. Er macht einen klaren Cut. Löscht den YouTube-Kanal und ändert seinen Namen. Aus “RohlexXx” wurde “LEX177”.

Ich wollte irgendwann mit diesem nur Battle-Rap [aufhören]. “Du kannst nur Battle-Rap”, [damit] wollte ich nicht mehr so hardcore in Verbindung gebracht werden. Es war irgendwann so: Ey, ich hab auch andere Songs. Ich kann nicht nur die Mutter von dem und dem, ich kann nicht den ganzen Tag nur batteln, ich hab auch ein bisschen was zu erzählen und das hat aber keinen Anklang gefunden. Also dachte ich: Ok, mach ich Reset.

LEX177 über seine Beweggründe

Die Entscheidung habe er sich gut überlegt und den Gedanken des Resets schon länger gehabt, aber sich dennoch die Entscheidung nicht leicht gemacht.

Ich habe schon viel länger mit dem Gedanken gespielt, mich aber nie getraut, weil da ja auch was dran hing. Ich hab den Kanal seit 2009 gehabt, da war “Ich bin Greifswalder drauf” mit am Ende 150.000 Klicks. Das war halt für uns das Ding, für uns hier alle. Ich weiß nicht, wie viele Abonnenten, 7.000 oder so. Damals war es halt alles krass irgendwie. Und dann war aber so: Ey, ich kann jetzt den tollsten Song der Welt hochladen und dir von meinem Herzschmerz erzählen, aber es juckt dich einfach nicht, weil ich darauf niemanden beleidige oder battle, weil ich immer nur der Battle-Rapper bin und dann hab ich die Schnauze voll gehabt.

LEX177 über die Entscheidungsfindung zum Reset

Der endgültige Cut sie bei dem ersten Release bei TyZe im Studio dann passiert. Bei der “RedCup”-EP. Da habe man dann gemerkt, dass diese nichts mehr mit RohlexXx zu tun habe.

Was man noch erwarten kann

Aktuell arbeitet LEX177 im Rahmen seiner neuen EP an einem Mammutremix eines Songs mit 19 weiteren Künstlern. Daneben laufen die Arbeiten an seinem neuen Album “Zuhause”. Und natürlich dürfen auch Liveauftritte nicht fehlen. Der nächste Auftritt findet bereits am 16.03.24 in der Kulturvilla hier in Greifswald statt.

Die Top 3 Tracks des LEX177

Abschließend wollte ich von LEX177 wissen, welche seine eigenen Track für ihn persönlich die Top 3 darstellen. Die Wahl fiel auf die Tracks “Zuhause”, “Trigger” und “Eine Millionen”.

“Zuhause”. Ein Track, der noch nicht veröffentlich ist und als Intro des demnächst erscheinenden gleichnamigen Albums dient.

“Trigger”. Ein “Rumprollsong des Grauens”, wie LEX177 ihn selbst beschreibt. Aber dies würde auf eine lustige Art und Weise geschehen mit brutal stumpfem Humor, dem er freien Lauf gelassen habe.

“Eine Millionen”. Ein Track, den LEX177 seinen Eltern widmet und bei dem das gesamte Musikvideo ein Zusammenschnitt aus alten Videos aus seiner Kindheit sind.

Meine Eltern sind alles für mich. Natürlich muss ich den Song nehmen.

LEX177 über den Song “Eine Millionen”

Abschließend bleibt mir nur, mich bei LEX177 für das Interview zu bedanken. Also, vielen Dank! Natürlich hoffen wir auch, dass wir euch einen lokalen Künstler nähergebracht haben. Kennt ihr denn noch mehr Künstler*innen? Dann schreibt sie uns gerne in die Kommentare.

Beitragsbild: Jan-Niklas Heil

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Money Mules, Geldwäsche, billige Onlinewaren – ein Staatsanwalt berichtet.

Betrug – ohne Enkel oder Porsche

Schon König Midas träumte vom schnellen Geld. Diesen Wunsch bekam er zwar erfüllt, doch spätestens als er verhungerte, brachte ihm all sein Reichtum herzlich wenig. Trotzdem lebt dieser Traum bis heute weiter, und fordert weiter seine Opfer. Heute ist es weniger ein Gott, der einem verheißungsvolle und wohlhabende Versprechungen macht, eher kommen mir persönlich die testosterongeladenen Individuen mit Colgate-Lächeln und Gewinner-Mindsets aus diversen YouTube-Werbeclips in den Sinn. Betrug muss nicht immer subtil sein – das sind die überzeugten Porschefahrer auch nicht – der Betrug, um den es heute geht, zieht seine Opfer dafür verlockend vertrauenserweckend in seinen Bann. Doch wer sind hier überhaupt die Opfer? Und was haben Provisionen, Geldwäsche und Maultiere damit zu tun?

Um diese neue und komplexe Form von Betrug korrekt darstellen zu können, nahm ich Kontakt mit einem Staatsanwalt für Jugendstrafverfahren auf. Er schilderte mir – außer dem Prozess einer perfiden Täuschung – auch eine vorausgehende, nahezu systematisch anmutende, Personalrekrutierung. Bevor wir uns also dem Schema des Betruges widmen, sollten wir ein Auge auf die Rekrutierung werfen.

Der Staatsanwalt erklärte, dass diese Anwerbung über viele verschiedene Wege beginnen kann. Besonders junge Menschen seien mögliche Ziele. Oft würden professionell aufgemachte Anzeigen geschaltet werden, welche mit viel Geld für wenig Arbeit locken, worauf sich dann mögliche Ziele in Eigeninitiative bewerben. Nach der anschließenden Unterzeichnung eines offiziell wirkenden Arbeitsvertrages steht potenziellen Arbeitnehmer*innen nichts mehr im Wege. Die Jobbeschreibung sei so lukrativ wie einfach. Man erhält eine Transaktion auf das eigene Konto, leitet dieses Geld dann an ein ausländisches Konto weiter, und behält 10 bis 15 % als Provision ein. Es ist also durchaus realistisch, beispielsweise 80 € für 5 Minuten Arbeit zu verdienen.

Der einzige Haken: Das weitergeleitete Geld ist deliktisch erwirtschaftet worden. In der Konsequenz heißt das, dass die oft noch minderjährigen “Arbeitnehmenden” vor Gericht gestellt werden, da sie sich der Geldwäsche schuldig gemacht haben.

Diese Strategie, kombiniert mit der aktuellen Höhe der Fallzahlen zur Zeit, weckte meine Neugier. Höchste Zeit also, ein Auge auf den eigentlichen Betrugsablauf zu werfen! 

Schema F – How to Betrug

Das Schema in aller Kürze

Zuallererst ist es keine besondere Herausforderung, eine augenscheinlich seriöse Website zu erstellen. Diese lässt sich namentlich von erfolgreichen und bekannten Marken kaum unterscheiden, auffällig sind oft nur einzelne Buchstaben.

Verkauft werden dann vorrangig Elektronik. Besonders beliebt ist sogenannte “weiße Ware”, wie beispielsweise Waschmaschinen, Herde etc. . Waren, die man im Regelfall schnell und kostengünstig erwerben will, und bei denen der Onlinehandel durch niedrigere Preise und eine größere Auswahl besticht. Betrüger*innen, welche ihre Ware besonders günstig anbieten, können im direkten Preisvergleich für Interessierte besonders attraktiv wirken.

Sobald sich ein*e Käufer*in für eine Ware entscheidet, kommen die Maultiere ins Spiel. Sogenannte Money Mules – meistens Jugendliche – werden jene Akteure genannt, welche mit attraktiven Stellen gelockt werden und illegal erwirtschaftetes Geld ins Ausland überweisen. Die Mules werden den Verbraucher*innen also als Zahlungsadresse angegeben, und leiten das Geld ins Ausland weiter. Die Ware selbst kommt nie an.

Spätestens wenn dieser Fall eintritt und die Versandhandel-Seite gelöscht wird, ist für Käufer*innen offensichtlich, dass es sich um Betrug handelt. Aus den Schilderungen des Staatsanwaltes geht hervor, dass es in circa 30% der Fälle zur Selbstanzeige der Jugendlichen kommt. Wahlweise weil ihnen die Zwielichtigkeit ihres vermeintlich seriösen Nebenjobs erst zu spät selbst, oder auf Drängen von Eltern und Freund*innen, bewusst wird.

Die Nachverfolgbarkeit der Initiator*innen gestaltet sich für die Ermittelnden mehr als schwierig. Das Geld wurde längst ins Ausland transferiert, die betroffenen Konten existieren nicht mehr, oder die involvierten Banken handeln unkooperativ. Die internationale Schnitzeljagd ist also verzwickt und größtenteils aussichtslos. 

Der einzige verbleibende Akteur ist dann also das Mule, oder die jugendliche Person, die nur wenige Tage zuvor noch den perfekten Job hatte. Diese schuldet nicht nur die erhaltene Provision, sondern die volle Schadenssumme, da sich diese zwischenzeitlich auf dem eigenen Konto befunden hat. Darüber hinaus hat sich das Mule nach §261 StGB strafbar gemacht – dem Geldwäscheparagraph. 

§ 261 Geldwäsche

(1) Wer einen Gegenstand, der aus einer rechtswidrigen Tat herrührt, 

1.verbirgt,

2.in der Absicht, dessen Auffinden, dessen Einziehung oder die Ermittlung von dessen Herkunft zu vereiteln, umtauscht, überträgt oder verbringt,

3.sich oder einem Dritten verschafft oder

4.verwahrt oder für sich oder einen Dritten verwendet, wenn er dessen Herkunft zu dem Zeitpunkt gekannt hat, zu dem er ihn erlangt hat,

wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 und 4 gilt dies nicht in Bezug auf einen Gegenstand, den ein Dritter zuvor erlangt hat, ohne hierdurch eine rechtswidrige Tat zu begehen. Wer als Strafverteidiger ein Honorar für seine Tätigkeit annimmt, handelt in den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 und 4 nur dann vorsätzlich, wenn er zu dem Zeitpunkt der Annahme des Honorars sichere Kenntnis von dessen Herkunft hatte.

Strafgesetzbuch

Das bloße Abheben des Geldes würde schon ausreichen, um eine Veruntreuung zu begründen. Der Staatsanwalt berichtete von Jugendlichen, welche z.T. auf Schulden in fünfstelliger Summe sitzen blieben. 

“Der Hintergrund ist, dass wenn man ein bisschen nachgedacht hätte, mitbekommen würde, dass die Sache stinkt. [… Dadurch, dass] mehr als Fahrlässigkeit vorliegt – [wird der Sachverhalt] damit eine Leichtfertigkeit. Das ist eine Schuldform die für den Tatbestand der Geldwäsche ausreicht.”

Staatsanwalt

Wie kann man sich selbst und andere schützen?

Auch wenn der Artikel dies impliziert: Nicht nur Jugendliche lassen sich schnell von solchen Angeboten blenden, auch Erwachsene können dieser Masche zum Opfer fallen. Darum sollte man – auch wenn es offensichtlich erscheint – immer vorsichtig sein, wenn überbezahlte Stellen für wenig Arbeit locken.

Die erste Intuition bei so unseriösen Angeboten sollte es folgerichtig sein, diese sofort zu melden. Mit ein wenig Glück sind die Strafverfolgungsbehörden schnell genug, die Betrügenden ausfindig zu machen und wegen Gewerbebetrugs zu verklagen.  

Hattet ihr bereits Erfahrungen mit solchen Angeboten? Und wer ist hier Opfer und wer Täter*in?

Beitragsbild: AI

Was Poor Things besonders macht

Was Poor Things besonders macht

Kürzlich habe ich mir den Film “Poor Things” von Yorgos Lanthimos angesehen. Ich kann leider nicht behaupten, dass ich mit allen Filmen dieses Griechen vertraut bin, aber “The Lobster” und “The Killing of a Sacred Deer” waren mir zu dem Moment bereits bekannt.

Ich muss zugeben, dass ich auf diesen Film gewartet habe seit ich den Trailer zum ersten Mal gesehen habe. Die Anwesenheit von Schauspielern wie Emma Stone und Willem Dafoe hat meiner Vorstellung nach den Erfolg dieses Films praktisch im Voraus garantiert. Kleiner Spoiler: Meine Erwartungen an den Film wurden erfüllt.

Was passiert?

Die Handlung des Films basiert auf einem Buch von Alasdair Gray. Bereits zu Beginn des Films werden die Zuschauenden mit dem neurodivergenten Prototypen von Frankenstein – Bella Baxter in einem weißen Nachthemd – bekannt gemacht, begleitet von einer quasi Kinderschwester und unrealistischen gekreuzten Tieren in einem großen Haus, das halb Wohnhaus, halb Versuchslabor ist. Neben den Tieren wird sie auch von einem Medizinassistenten namens Max McCandles begleitet, der Protokoll über ihren täglichen Fortschritt führen soll. Jedoch stellt der Junge ständig Fragen über Bellas Herkunft aufgrund ihres abnormen Daseins. Nicht unwichtig ist die Figur ihres Patrons Dr. Godwin Baxter, dem das Haus gehört und der Max engagiert hat, um sich um Bella zu kümmern. Man könnte natürlich viel über die Handlung erzählen, aber ich möchte hier darauf eingehen was mich an dem Film so angesprochen hat.

Eine deutliche Tendenz ist im Film zu erkennen. Gleich zu Beginn ist der Film schwarz-weiß und einige Szenen werden gelegentlich entweder durch Fischaugenoptik oder blutendes Bokeh gezeigt, als ob man sich in einem Traum befände.

Auch das Aussehen der Hauptcharaktere, die in dem Haus leben, ist eigenartig. Bella trägt täglich neue Outfits, die weder barock noch modern sind (manchmal sogar kinky). Dr. Godwin Baxter ist normal gekleidet, aber sein Gesicht ist schwer als “gewöhnlich” zu bezeichnen. Die vielen unförmigen Narben könnten sogar ein leicht gruseliges Gefühl vermitteln bevor man sich daran gewöhnt. Während des Essens wird deutlich, dass sein Körper nicht nur äußerlich “komisch” ist, sondern auch seine Essgewohnheiten und seine Gesundheit allgemein. Bella nennt ihn “God”, was die Dissonanz verstärkt und die Konzepte von Schönheit und Gut/Böse gut hervorhebt. Später erwähnt “God” die Kastration, die sein Vater bei ihm vorgenommen hat. Diese Erfahrung nach Freuds psychoanalytischer Theorie könnte zu seiner emotionalen Distanzierung geführt haben, da er versucht sich vor emotionalen Verletzungen zu schützen, indem er seine eigenen Emotionen unterdrückt. Dies wiederum könnte erklären warum er immer versucht Bella wie ein Versuchskaninchen zu behandeln, was letztendlich eine Herausforderung für ihn darstellt. Ähnlich wie die Nietzsche’sche Debatte darüber, ob Gott böse ist, weil er Leiden zulässt oder weil er die Menschen kontrolliert.

Die Darstellung eines Traums ist nicht zufällig, da seine Wahrnehmung kindlich ist und gut zeigt wie Kinder die Dinge durch ihre Gefühle betrachten.

Im Vergleich dazu sind die Menschen aus der äußeren Welt nur kleine Zeichnungen, die hinter der Haustür der normalen Welt existieren. Man könnte sich natürlich fragen, ob Dr. Baxter später aus diesem Grund mit Max einen Vertrag abschließt, um ihn länger in diesem “Wunderland” wie Alice zu halten.

Als der Anwalt, der den Vertrag abschließt – Duncan Wedderburn – auftaucht, beginnt für Bella eine neue Phase ihres Lebens, die den Film plötzlich mit Farben erfüllt. Dies wird dadurch bestimmt, dass sie anfängt die Pubertät zu erleben, was aber ironischerweise durch übermäßiges “Fortpflanzungsbegehren” revolutioniert wird. Außerdem zeigt sie sich ganz pubertär, indem sie Fernweh verspürt und trotz aller Redflags sich selbst und die Welt entdeckt und sich auf eine Reise begibt, unterstützt vom Frauenheld Duncan Wedderburn.

Genau wie Bellas Kleidung demonstriert auch die Umgebung ihre innere Metamorphose. Jedes Reiseziel wird originell und ungewöhnlich präsentiert. Man bemerkt viele surrealistische und Steampunk-Elemente, die die Landschaften erfüllen. Trotz Bellas einfacher Sprechweise teilt sie sehr tiefgründige Gedanken zu vielen Themen über soziale zwischenmenschliche Beziehungen. Diese Entwicklung wirft Fragen auf über Liebe und Ethik sowie Männlichkeit auf, was man anhand von Duncans anständigem Kampf, wie in Tanzszenen, sowie wörtlich gegen alle und gegen Bella selbst, wegen ihrer Liebe und Anerkennung, gut ablesen kann. Dies ist wieder ein ironisches Kontrastspiel das zeigt wie “eine starke Figur” versucht ihr empfindliches Inneres durch Dominanzschichten zu verbergen. Neben der sehr förmlichen Hauptlinie des Plots zeigt “Poor Things” auch die Bedeutung von Frauen in der Gesellschaft, was ähnlich in der neuen Barbie-Erscheinung erwähnt wurde, auf.

Was kann ich abschließend sagen?

Der Film lohnt sich nicht nur, weil er spannend und unterhaltsam ist, wenn man die Entwicklung der Hauptfigur betrachtet, ähnlich wie in “Flowers for Algernon” von Daniel Keyes oder “Heart of a Dog” von Mikhail Bulgakov, sondern auch, weil er wichtige Gedanken zum Nachdenken anregt. Auf jeden Fall ist der Film für mich zu einem meiner Lieblingsfilme geworden.

Beitragsbild: Wendy Scofield auf Unsplash