Wer steht zur Wahl?

Wer steht zur Wahl?

Die Gremienwahlen stehen kurz bevor. Auch dieses Jahr stellen sich wieder einige politische Hochschulgruppen zur Wahl. Was fordern Sie und wie genau unterscheiden sie sich? Ein Überblick.

Linksjugend solid

von Allan Kant

Die Linksjugend solid sieht sich selbst vor allem als antifaschistisch. Zudem möchte sie sich gegen Diskriminierung und Rassismus einsetzen. Sie fordert Feminismus und möchte linke Politik betreiben. Mehrere Kandidierende betonen hierbei ein antagonistisches Verhältnis zu Personen, die diese Ziele nicht teilen, und sehen deren Präsenz durch einen Rechtsruck verstärkt. Zudem werden in diesem Zusammenhang ablehnende Haltungen gegenüber Mitgliedern von Burschenschaften und anderen Studierendenverbindungen beschrieben. Diese Haltungen werden teilweise mit Formulierungen wie „Papierkorb der Geschichte“ als einzig legitimer Ort für „Faschisten“ beschrieben. Ferner wünscht sich ein Kandidat mehr ostdeutsche Produkte an der Universität. Mitglieder der Hochschulgruppe haben dazu bei der letzten Vollversammlung auch einen Antrag gestellt, der dort angenommen wurde. Weitere Ideale sind Inklusion, Gewerkschaftlichkeit und Solidarität. In den vergangenen Jahren war sie bei den Senatswahlen Teil des Bündnisses „Solidarische Universität (SoliUni)“. Bei diesen Gremienwahlen treten dieses Jahr Teile für „Campus Solidarisch“ an.

 

Die letzte Legislatur und Vollversammlungen

 

In den StuPa-Sitzungen der letzten Monate haben ihre Mitglieder häufig kritische Fragen an den AStA gestellt oder Kritik an ihm geäußert. Dies geschah vor allem dann, wenn sie durch dessen Handeln die Rechte des StuPas verletzt oder eingeschränkt sahen.

Bei den letzten beiden Vollversammlungen stellten Mitglieder der Linksjugend solid mehrere Anträge. Dabei wurden eine regelmäßige Gedenkveranstaltung in Erinnerung an die nationalsozialistische Bücherverbrennung in Greifswald, ein Statement zur Solidarität mit mit den durch das iranische Regime unterdrückten Frauen, eine externe Beratungsstelle für Opfer sexualisierter Gewalt, die Umwidmung der universitären Damentoiletten in FINTA-Toiletten und verpflichtende Awareness-Schulungen für die Mitglieder aller studentischen Organe und der moritz.medien gefordert. Zudem sollte ein Statement für eine BAföG-Reform entwickelt werden. BAföG sollte unabhängig vom Gehalt der Eltern ausgezahlt werden; die Bedarfssätze sollten automatisch mit der Inflation jährlich steigen. Außerdem sollte die bisherige Altersgrenze wegfallen und es sollte auch an Personen ohne Daueraufenthaltsbescheinigung ausgezahlt werden. In Krisenzeiten sollte BAföG für noch mehr Studierende einfacher zugänglich sein. Hierbei wird auf die Covid19-Pandemie verwiesen, bei der das BAföG vielen Studierenden nicht habe helfen können. In einem weiteren Antrag forderten sie, dass das Studierendenwerk den Bewohner*innen seiner Wohnheime Mülleimer und -beutel zur Verfügung stellt, die eine Mülltrennung ermöglichen. Darüber hinaus forderten sie in einem Antrag eine Zivilklausel für die Universität, die garantiert, dass diese keine Forschung zu militärischen Zwecken betreibt.

 

Die Ziele

 

Unsere Redakteur*innen haben diverse Fragen an die Hochschulgruppe gestellt zu Themen wie konkreten Zielen für die nächste Legislaturperiode, Hindernisse bei deren Umsetzung in der Vergangenheit Unterschieden und Kooperationen in Bezug auf andere Hochschulgruppen (insbesondere die mit anderen linken Hochschulgruppen). Zudem wurden Ideen für einen konstruktiveren Diskurs als in dieser Legislaturperiode, Erfolgsaussichten einer klar linken Hochschulpolitik im Zuge erstarkender liberaler und konservativer Kräfte sowie ihre Sichtweise auf ihre bisherigen Leistungen in Anbetracht dessen als weitere Themenpunkte in den Fragen angesprochen, jedoch hat die Linksjugend solid leider nicht geantwortet.

Jusos

von Allan Kant

Die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD (Jusos) fordert zunächst mehrfach Solidarität. Weiterhin charakterisiert sich ihr politisches Profil durch Forderungen nach Nachhaltigkeit, Feminismus, Antifaschismus, Gleichberechtigung und Progressivität sowie eine eindeutige Abgrenzung zu rechtsextremen Personen. Konkret möchte sie sich für mehr Transparenz für Studierende, flexible Studienzeiten, preiswertere und hochwertigere Lebensumstände für Studierende, die Unterstützung einkommensschwacher Studierender, Tarifverträge für studentische Hilfskräfte, Fairness beim PJ (Praktisches Jahr der Medizinstudierenden), weniger Barrieren und günstigere Preise in der Mensa, einsetzen. In den vergangenen Jahren war sie bei den Senatswahlen Teil des Bündnisses „Solidarische Universität (SoliUni)“. Bei diesen Gremienwahlen treten Teile von ihnen für „Campus Solidarisch“ an.

 

Die Ziele

 

Auf Nachfrage unserer Redaktion gaben sie zudem an, sich in der nächsten Legislaturperiode um ein „kostenfreies Studium […] unabhängig vom Einkommen der Eltern“, eine ausreichende Finanzierung der Uni und des Studierendenwerks durch die Landesregierung, mehr „Nachhaltigkeit und Klimaschutz“, zum Beispiel durch umweltfreundlichere Flächenausweisung und Mobilität, mehr psychologische Beratungsangebote, eine flexible sowie barrierefreie Lernumgebung, „Maßnahmen gegen strukturellen Machtmissbrauch und Diskriminierung“ sowie ein „inklusives und respektvolles Hochschulklima“ zu bemühen. In der Vergangenheit seien ein fehlender politischer Wille bei Entscheidungsträger*innen in der Universität und eine unzureichende Finanzierung durch die Landesregierung hierbei Hindernisgründe gewesen. Zudem habe es bei der Studienfinanzierung und der sozialen Gleichstellung, Widerstände gegen das Ausmaß ihrer Reformideen gegeben. Auch
strukturelle Probleme innerhalb der Hochschulpolitik, wie der begrenzte Einfluss von Studierenden und die fehlende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Hochschulgruppen, seien bei der Umsetzung ihrer Ziele in der Vergangenheit hinderlich gewesen.

 

Zusammenarbeit und Unterschiede

 

Unsere Redaktion hat sie zudem gefragt, was sie von anderen Hochschulgruppen unterscheide, wozu mehrere Punkte genannt wurden. Bei ihnen stünden „soziale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ im Zentrum. Sie seien „inklusiv und respektvoll“ und daher für „ein solidarisches Miteinander und gegen Diskriminierung, Machtmissbrauch und rechte Narrative“. Ferner würden sie sich für alle Studierenden unabhängig von deren Lebenssituationen engagieren, was sich etwa an ihren Plänen zu einem kostenfreien Studium, mehr psychologischen Beratungsangeboten sowie Möglichkeiten zum „barrierefreien Lernen“ zeige. Zudem könnten sie, auch aufgrund ihres Bundesverbands, mit vielen anderen Juso-Hochschulgruppen zusammenarbeiten und so beispielsweise an Seminarwochenenden zur politischen Bildung und Vernetzung teilnehmen. Auf unsere weiterführende Frage, was sie von anderen linken Hochschulgruppen unterscheide, haben die Jusos noch weitere Punkte genannt: Sie würden sich dafür einsetzen, dass an der Uni selbstbestimmt studiert werden könne und sich jede*r wohlfühle. Hierbei betonen sie sowohl die Notwendigkeit des Realismus als auch ihren Wunsch, trotzdem an ihren Utopien wie einer „Welt der Freien und Gleichen“ festzuhalten. Hierbei weisen sie erneut auf bereits genannte Ideen und Forderungen wie Unterstützungen zur psychischen Gesundheit hin. Ihre Gruppe bereichere außerdem die Vielfältigkeit ihrer Mitglieder, was unterschiedliche Perspektiven in ihren Forderungen ermögliche. Sie verweisen zudem erneut auf ihre Vernetzung mit anderen Juso-Hochschulgruppen durch den Bundesverband sowie ihre Verbindungen zu politischen Akteur*innen in Kommunal-, Landes- und Bundespolitik, die laut ihnen keine andere Greifswalder Hochschulgruppe in diesem Ausmaß besitze.

Auch auf unsere Frage, wie sie mit den anderen Greifswalder Hochschulgruppen zusammenarbeiten wollen, wurden mehrere Punkte genannt. Sie wollen „einen offenen Dialog und transparente Kommunikation“, um gemeinsame Ziele mit anderen Hochschulgruppen zu erkennen und diese dann gemeinsam umzusetzen. Hierbei solle auf „einen respektvollen Umgang“ geachtet und ein Konsens angestrebt werden. Sie fänden es im Zuge aktueller Entwicklungen wichtig, mit anderen demokratischen Hochschulgruppen zusammenzuarbeiten. Eine Zusammenarbeit mit Hochschulgruppen, die der AfD nahe stehen sowie mit Burschenschaften und anderen Studierendenverbindungen würden sie ablehnen. Thematische Überschneidungen hätten sie vor allem mit sozialen, sozialistischen, feministischen und ökologischen Hochschulgruppen, weshalb sie primär mit diesen zusammenarbeiten werden.

Wir haben sie zudem gefragt, wie sie im Zuge der unangenehmen Grundstimmung im StuPa in dieser Legislaturperiode in der nächsten eine konstruktivere Diskussionskultur erreichen möchten. Hierzu geben sie an, dass diese von Respekt, Offenheit und Inhaltlichkeit geprägt sein solle. Im Zuge dessen könnten auch aufgrund von inhaltlichen Differenzen bei Personaldebatten Kandidat*innen abgelehnt werden, was für eine demokratische Kultur unabdingbar sei. Nur bei fundamental anderen Vorstellungen von „ordentlicher hochschulpolitischer Arbeit“ könne Kritik auf persönlicher Ebene gerechtfertigt sein. In jedem Fall seien sie gegen persönliche Angriffe.

Des Weiteren hat unsere Redaktion die Jusos gebeten, konkret darzustellen, inwiefern sie sich für niedrige Mieten einsetzen wollen. Dazu gaben sie zunächst an, den Bau von Wohnheimen durch öffentliche Gelder zu fordern. Weitere Ziele hierzu seien eine Ausweitung der BAföG-Berechtigung, eine Anpassung der dortigen Regelsätze fürs Wohnen an die Realität, eine WG-Garantie sowie eine „Anpassung der Mieten an studentische Bedürfnisse“. Zudem würden sie verhindern wollen, dass bereits vorhandene Wohnheime geschlossen oder privatisiert würden. Mitglieder ihrer Hochschulgruppe und ihrer Liste hätten sich zudem häufig im Aufsichtsrat der Wohnheime für studentische Interessen eingesetzt. Das sei in enger Kooperation mit dem studentischen Prorektor und weiteren universitären Gremien erfolgt. Auch in der Kommunalpolitik würden sich ihre Fraktionen um niedrige Mietpreise bemühen.

In den letzten beiden Vollversammlungen forderten Mitglieder der Jusos einen Mietenstopp bei den Wohnheimen des Studierendenwerks, einen umfassenden Maßnahmenkatalog zur Unterstützung psychisch kranker Studierender, ein größeres veganes Angebot in der Mensa, mehr queere Lehrinhalte und ein Statement gegen eine allgemeine Anwesenheitspflicht bei Lehrveranstaltungen.

Grüne Jugend

von Allan Kant

Die Grüne Jugend fordert mehr Barrierefreiheit, Weltoffenheit, Progressivität sowie eine konstruktive und sichtbare Gremienarbeit. Einige ihrer Kandidierenden sind Teil von „Campus Solidarisch“.

 

Die letzten Vollversammlungen

 

Bei der letzten Vollversammlung forderten ihre Mitglieder eine juristische Beratung für studentische Hilfskräfte, eine barrierefreie Zufahrt zum Campus Loefflerstraße, offene Universitätsräume für Pausenzeiten bei schlechtem Wetter, längere Öffnungszeiten der Zentralen Universitätsbibliothek und der Bereichsbibliothek, eine Prüfung der Sinnhaftigkeit weiterer Kampagnen zum Ummelden des Wohnsitzes bei Studierenden, kostenlose Restkarten des Theaters Vorpommern für Studierende, die Möglichkeit, in der Mensa zu Abend zu essen, Sitzmöglichkeiten auf dem Campus Loefflerstraße sowie ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Barrierefreiheit. Dieses sieht bauliche Erleichterungen für Gehbehinderte und Blinde, universitäre und Lehrinhaltsdokumente in einfacher Sprache sowie eine Betreuung der Erstsemester durch Buddys vor.

 

Ziele

 

Auf Nachfragen unserer Redaktion zu konkreten Zielen für die nächste Legislaturperiode, Hindernisse bei deren Umsetzung in der Vergangenheit, Unterschieden und Kooperationen in Bezug auf andere Hochschulgruppen – insbesondere andere linke Hochschulgruppen –, Ideen für einen konstruktiveren Diskurs als in dieser Legislaturperiode sowie zur Bedeutung des grünen Kernthemas Umweltschutz in ihren hochschulpolitischen Zielen hat die Grüne Jugend leider nicht geantwortet.

RCDS

von Robert Wallenhauer/ moritz.Millennium

Der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) ist die CDU-nahe Hochschulgruppe. In Greifswald gründete sich die aktuelle Zusammensetzung des RCDS 2022 neu. Die Mitglieder des Gründungsteams treten auch dieses Jahr wieder zur Wahl des Studierendenparlament (StuPa) an. Für die Gremienwahlen, schickt der RCDS acht Kandidierende ins Rennen. Viele von ihnen engagieren sich außerhalb der Hochschulpolitik in der CDU oder ihr nahestehende Organisationen. In der vergangenen StuPa-Legislatur war die Hochschulgruppe mit fünf Stupist*innen vertreten.

Bei der Vollversammlungen (VV) im Wintersemester 2024/25 forderten Mitglieder des RCDS die Installation von mehr Trinkwasserspendern in Universitäts-Gebäuden. Im Sommersemester 2024 setzten sich die RCDS-Mitglieder für mehr Fahrradbügel auf dem Berthold-Beitz-Platz ein.

 

Der Fokus auf „das Wesentliche”

 

Der RCDS vertrete „liberale, soziale und christlich-konservative Positionen”, teilt Marcel Neuhaus, Mitglied des RCDS im Namen der Hochschulgruppe auf Anfrage der moritz.medien mit. „Wir sind bekannt für eine konstruktiv-kritische Perspektive und wollen die Hochschulpolitik nicht allein linken politischen Kräften überlassen.” In der kommenden Legislatur wolle man sich auf das Wesentliche konzentrieren. Für den RCDS heißt das: „Solide Finanzen und keine steigenden Beiträge, verlängerte Öffnungszeiten der Bibliothek und eine gute Ausstattung der Lernorte.” Dafür möchte die christ-demokratische Gruppe „weiterhin mit anderen demokratischen Gruppen zusammenarbeiten”, man wolle Anträge unterstützen, „sofern sie für uns in der Sache richtig erscheinen“. In der vergangenen Legislatur hing der Haussegen im StuPa schief. Diskussionen arteten aus, wurden teilweise destruktiv. Der RCDS teilt uns mit, dass heftige Diskussionen vor allem im Anschluss an „umstrittene Aktionen entstanden” seien. Es sei wichtig, diese Diskussionen „vor wichtigen Entscheidungen zu führen, statt im Nachgang ohne Ziel zu streiten”. Bei den anstehenden Gremienwahlen ist der RCDS jedoch nicht mehr die einzige konservative Gruppe. Die neu gegründete Werte-Konservative Hochschulgruppe (WKH) vertritt ähnliche Positionen und hat scheinbar ähnliche Ziele: Wie die Liberalen und zwei Mitglieder des RCDS wollen sich auch die Vertreter*innen der WKH für eine „ideologiefreie Universität” einsetzen. Ähnlich wie die christ-demokratische Hochschulgruppe fordert die WKH eine strengere Haushaltspolitik des AStAs. Inwiefern unterscheidet sich also der RCDS von der neuen konservativen Gruppe?

 

Konkurrenz auf der rechten Seite?

 

Viel Offizielles sei zu der neuen Gruppe noch nicht bekannt, antwortet uns der RCDS auf Anfrage: „Es zeichnet sich aber ab, dass es sich dabei um ein AfD-nahes Spektrum handelt. Wir vertreten konservative und liberale Positionen und grenzen uns von destruktiven Rechtsaußen-Gruppierungen deutlich ab.” Auch wie die christlich-demokratischen Studierenden Ideologiefreiheit interpretieren, erklärt man uns auf Anfrage: „Eine Politik ohne Wertekompass gibt es nicht”, heißt es. „Wir diskutieren, wägen Positionen ab, bleiben im Gespräch und versuchen nicht unsere Ansicht gegenüber anderen als korrekt und unumstößlich aufzudrücken.” Bezüglich der AStA-Finanzen findet man beim RCDS klare Worte: „Wir als RCDS unterstützen grundsätzlich kulturelle Veranstaltungen durch den AStA.” Die Hochschulgruppe kritisiert jedoch, die „unverhältnismäßige Planung und die maßlose finanzielle Belastung. Anstatt das Geld der Studierenden sinnvoll einzusetzen, wird es aus unserer Sicht regelrecht zum Fenster herausgeworfen.” Statt Events im großen Stil zu organisieren, solle der AStA sich auf die Unterstützung bestehender Institutionen wie Studi-Clubs, FSR-Veranstaltungen und Ersti-Events fokussieren. So werde das Geld für ein studentisches Kulturleben eingesetzt, „das wirklich allen zugutekommt!”

Liberale Hochschulgruppe

von Lina Goldschmidt/ moritz.Millennium

Als Kandidierende der Liberalen Hochschulgruppe (LHG) für das kommende Studierendenparlament (StuPa) aufgestellt sind Charlotte Paul, Julia Sandner, Katharina Beer, Mercedes Spiering und Nico Witteborn. Mit Themen wie Transparenz, verbesserten Studienbedingungen und praxisnaher Hochschulpolitik wollen sie um die Stimmen der Studierenden werben.

 

Die Ziele der Kandidierenden

 

Bis auf Julia Sandner gaben die anderen vier Kandidierenden an, sich für mehr Transparenz einsetzen zu wollen. Ein Defizit an Transparenz stellt sich als zentralste Motivation zur Kandidatur heraus. Charlotte Paul und Mercedes Spiering waren in der letzten Legislaturperiode als beratende Mitglieder tätig. Sie waren also aufgrund eines anderen Amtes oder einer Wahl in der beratenden Funktion für das StuPa. Charlotte Paul hat sich mit dem Anspruch zur Wahl aufstellen lassen, für Chancengleichheit, Transparenz der Hochschulpolitik und praxisnahe Inhalte im Lehramtsstudium einzutreten. Auch Mercedes Spiering lässt sich mit diesem Ziel aufstellen: Transparenz & Kommunikation. Sie will sich dafür einsetzen, dass die Hochschulpolitik regelmäßig die Studierenden erreicht. „Als beratendes Mitglied und aktiv teilnehmende Person habe ich die Möglichkeit, Studierende umfangreich über Debatten und Beschlüsse zu informieren und so für mehr Transparenz zu sorgen.“ Die moritz.medien fragte die Hochschulgruppe, warum sie ihre Ziele bisher nicht umsetzen konnten. Außerdem wollten wir wissen, wie genau die Intransparenz in der Hochschulpolitik deutlich wird und mit welchen konkreten Maßnahmen man dem entgegenwirken will. Doch eine Antwort der LHG blieb aus. Julia Sandner saß bereits für die LHG im StuPa und tritt mit Phrasen wie „Freiheit für freie Köpfe“ und für einen „Schluss mit dem Einheitsbrei“ an. Interessant wäre, was sie genau damit meint und welche Unfreiheiten und Einheitlichkeiten empfunden werden. Mit welcher Strategie sollen diese zukünftig aufgehoben werden? Als aktives Mitglied der Gratia Aurora, einer Greifswalder Damenverbindung, scheint sie sehr engagiert. Gleichzeitig engagieren sich Julia Sandner und Mercedes Spiering bei der Jugendorganisation der FDP (Junge Liberale). Diese Gleichzeitigkeit der vertretenen Positionen fällt besonders auf, als das StuPa 2023 entschied, alle Burschenschaften, Verbindungen, Corps und Turnerschaften, vom Markt der Möglichkeiten auszuschließen. Mercedes Spiering positionierte sich im Rahmen eines Instagram-Posts gegen das Verbot, da Verbindungen demokratisch und weltoffen seien und demokratischen Prinzipien folgen würden. Sie forderten, nur Burschenschaften auszuschließen, diese seien politisch nicht neutral. In diesem Posting äußerte sie sich als  Vorsitzende des Kreisverbands der Jungen Liberalen für Vorpommern-Greifswald, als Mitglied der LHG und posierte dabei neben einem farbentragenden Mitglied der Damenverbindung, der auch Julia Sandner – ihre Kommilitonin und organisationsübergreifende Mitstreitende – angehört. An dieser Stelle scheinen sich zumindest verschiedene Interessen zu bündeln. Als Leitziele setzt sich die LHG die Förderung von ideologiefreier Hochschulpolitik und individuellen Entscheidungen. Mehr „Ideologiefreiheit” wollen auch die Hochschulgruppen Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) und die Werte-Konservative Hochschulgruppe.  Letztere gründete sich jüngst zu diesen Gremienwahlen. Verstehen alle drei Gruppen diesen Begriff gleich oder deutet die Gründung einer neuen Hochschulgruppe – mit gleichem Ziel – auf das Scheitern der Bemühungen der LHG und RCDS hin? Unsere Fragen hinsichtlich des Begriffs der „Ideologiefreiheit“ blieben unbeantwortet. Mit welchen Hochschulgruppen sich die LHG zukünftig eine Zusammenarbeit vorstellen kann, blieb ebenfalls offen.

 

Erfolgreiche VV-Anträge?

 

In der Vollversammlung (VV) wurden diverse Anträge durch Mitglieder der LHG eingebracht. Diese Anträge werden auf ihrem Instagram-Account als Errungenschaften dargestellt. Unter anderem ging es dabei um die Nutzung universitärer Räumlichkeiten für Hochschulgruppen und studentische Vereine. In der VV konnte aufmerksamer Weise hinzugefügt werden, dass das StuPa unter dem Kriterium der demokratischen Ausrichtung ein Augenmerk darauf legen soll, wem die Räumlichkeiten zur Verfügung stehen. Ein weiterer Antrag soll durch die allgemeine Verbesserung der Campus-Technik und des Uni-WLANs für schnelleres Internet und funktionierende Beamer und Mikrofone sorgen. „25 und raus?“ – Der Antrag mit der Forderung, dass die Universität Greifswald sich dafür ausspricht, dass die Familienversicherung für Krankenkasse sowie das Kindergeld sich an die Regelstudienzeit des Erststudiums anpasst, fiel durch fehlende Umsetzbarkeit auf. Der Antrag adressiert die höhere finanzielle Belastung ab dem 25. Lebensjahr durch die Beendigung der Mitgliedschaft in familiären Krankenversicherungen und das Wegfallen des Kindergeldes. Einige Punkte des Antrags gestalteten sich zu offen. Unklar definiert und diskutiert wurde die zeitliche Dimension, die ein Erststudium erfordert. Sollte in einigen Studiengängen auch der Masterstudiengang dazu zählen, da er unbedingt relevant für die Berufsausübung ist? Außerdem gibt es ohnehin eine hohe Belastung der Krankenkassen und politisch wird um alle finanziellen Mittel zur staatlichen Unterstützung gerungen. Fraglich war auch die Methode zur Erreichung des genannten Ziels. Kann eine Informationskampagne nützen? Da das Problem unter den Studierenden bekannt ist, müsste es eine öffentliche Kampagne sein und weiter gedacht stellt sich die Frage, welches studentische Organ die Kapazitäten dazu hätte. Schlussendlich soll nun ein Schreiben an die Bundesregierung vertretend für die Studierendenschaft Greifswalds aufgesetzt werden. Aber immerhin eine Anregung für ein mehr oder minder starkes Symbol. Zuletzt wurde sich in der VV für eine Aufbereitung und vermehrte Beheizung der Hörsäle eingesetzt. Offensichtlich ist hier der Kontrast zu den klimafreundlichen Ambitionen der Universität. Da das Anliegen nicht förderlich für eine Verminderung des Energieverbrauchs der Universität ist, stieß dieser Antrag auf Kritik. Neben Schlagwörtern und starken Phrasen fehlt eine Einsicht in klare Strategien der liberalen Hochschulgruppe. Das umfassende Engagement für Transparenz führt möglicherweise in der nächsten Legislatur dazu, dass sich in diesem Punkt keine großen Baustellen mehr auftun.

Werte-Konservative Hochschulgruppe

von Konstantin Ochsenreiter/ moritz.Millennium

„Wir fordern eine ideologiefreie Universität, die differenzierte Meinungen zulässt, damit sie wieder ein Ort der freien Lehre und Debatte werden kann.”  Die neu gegründete Werte-Konservative Hochschulgruppe betont ihr Engagement für differenzierte Meinungen bemerkenswert einheitlich: Alle fünf Kandidierenden verwenden denselben Satz in ihren individuellen Zielen der hochschulpolitischen Arbeit. 

 

Motto mit rechtsextremer Schlagseite

 

Auf Anfrage der moritz.medien erklärt die Werte-Konservative Hochschulgruppe ihre Gründung mit einer vermeintlich links-dominierten Hochschulpolitik. Ziel sei es, dies zu ändern. Ihr Motto: „Die Uni ist zu links.“ Auffällig daran: Dieses Motto stammt keineswegs aus der Feder der Kandidierenden um Luis Weber. 

Bereits die „Aktion 451“ prägte dieses Motto erst im April 2024. Nach Berichten der FAZ handelt es sich dabei um  eine neurechte Initiative, die Teil der metapolitischen Strategie der Neuen Rechten sei. Unterstützt wird die Initiative von Personen wie Götz Kubitschek, Martin Sellner und Benedikt Kaiser, die als prominente Akteure der rechtsextremen Szene bekannt sind.
Ob die Werte-Konservative Hochschulgruppe um Luis Weber diese ideologische Nähe bewusst in Kauf nimmt oder sich davon distanziert, ist unklar.  

 

Die Ziele

 

„Die Studenten dieser Universität zahlen jährlich 195.000,– € durch Ihre Beiträge an den AStA, der diese Gelder missbraucht um linke Ideologieprojekte umzusetzen“, teilt sie auf Anfrage der moritz.medien mit. Inwieweit der AStA Gelder „missbraucht” sei dahingestellt, doch tatsächlich entspricht der Betrag etwa 11 Euro pro Student*in und pro Semester, was vergleichbar zu anderen Hochschulen in Mecklenburg-Vorpommern ist (Rostock 11€, und Stralsund 10€). Dennoch sieht die Werte-Konservative Hochschulgruppe hier ein Problem und will den „Rotstift ansetzen“.  Darüber hinaus wird sich die Hochschulgruppe zukünftig für mehr direkte Demokratie einsetzen. Sie beruft sich dabei auf die Urabstimmung zum Semesterticket: „Die Entscheidung über das Semesterticket hat gezeigt, dass der tatsächliche Wille der Studenten von der des StuPa abweichen kann.“ Der Haken daran, die Urabstimmung zum Semesterticket war aufgrund der zu geringen Wahlbeteiligung nicht bindend. Die Forderung nach mehr direkter Demokratie in der Hochschulpolitik steht also vor einem grundlegenden Problem: Die erforderliche Wahlbeteiligung von 50 Prozent ist kaum zu erreichen. Konkrete Vorschläge, wie die Gruppe um Luis Weber diese Hürde überwinden will, liefern sie bislang nicht. 

 

Ideologiefreie Universität?

 

Einige Informationen zur Werte-Konservativen Hochschulgruppe und den beteiligten Personen sind dennoch bekannt. Die Recherchegruppe der moritz.medien, moritz.Millennium, berichtete erst kürzlich über Luis Weber, dessen Engagement für die AfD-Fraktion in der Greifswalder Bürgerschaft und seine Mitgliedschaft in der Burschenschaft Markomannia Aachen Greifswald. „Eine Verbundenheit zur AfD existiert nicht”, antwortet die Gruppe auf Anfrage der moritz.medien. Trotz dessen, dass eines ihrer Mitglieder für eben jene Partei in der Bürgerschaft sitzt. „Wir sind der Ansicht, dass die Hochschulpolitik kein geeigneter Ort dafür ist, sich mit weltpolitischen Themen zu solidarisieren oder engagieren.” Eine Aussage der Werte-Konservativen, welche fraglich erscheint, wenn man die Verflechtungen näher betrachtet. So schrieb Luis Weber in seiner eigenen Kurzvorstellung: „Ich bin Mitglied der Greifswalder Bürgerschaft und des Universitätsausschuss und kann so Vorschläge direkt in die Greifswalder Politik bringen.” Weber scheint seine Mitgliedschaft in der Greifswalder Bürgerschaft als weltpolitisches Engagement zu verstehen – ein Engagement, das er auch im hochschulpolitischen Wahlkampf zu nutzen weiß. Die angestrebte Trennung zwischen hochschulpolitischen und weltpolitischen Themen, die die Gruppe in ihrer Antwort betont, scheint sie also – zumindest für Wahlkampfzwecke – selbst nicht konsequent einzuhalten. Der Artikel „Die Burschis, die dich vertreten” konnte aufzeigen, dass Luis Weber Teil der Burschenschaft Markomannia Aachen Greifswald ist. Die moritz.medien stellten daher die Nachfrage, wie sich die burschenschaftlichen Prinzipien „Ehre, Freiheit, Vaterland” mit der Forderung nach einer ideologiefreien Universität vereinen lassen.  Die Werte-Konservative Hochschulgruppe antwortet darauf, „dass sich die Ideologiefreiheit auf universitäre Organe wie den AStA bezieht”. Sie führt an anderer Stelle aus: „Uns ist bewusst, dass auch Hochschulpolitik nicht ideologiefrei sein kann. Deswegen wollen wir auch nicht, dass hochschulpolitische Gruppen […] ideologiefreie Hochschulpolitik machen. Wir fordern, dass die universitäre Struktur (darunter fallen bspw. der AStA oder die FSR) ihr Handeln ideologiefrei bestimmen”.  Diese Antwort führt zu weiteren Fragen: Wie verhält sich nun diese ideologische Haltung zu der propagierten, vermeintlich neuen, sachlichen Haltung? Und wie effizient ist wohl ein „ideologiefreier” AStA, welcher von den Mehrheiten „ideologischer Hochschulgruppen” abhängig ist?  Auch auf personeller Ebene gibt es Unstimmigkeiten. Luis Weber erwähnt zwar seine Tätigkeit im Universitätsausschuss der Bürgerschaft, verschweigt jedoch, dass er diese für die AfD ausübt. Seine Begründung: Der AStA habe nicht genügend Zeichen für eine detaillierte Vorstellung bereitgestellt.

 

Das Fazit

 

Die Werte-Konservative Hochschulgruppe präsentiert sich als Stimme gegen eine vermeintlich linke Dominanz an der Universität. Ihr Verständnis von Ideologiefreiheit wirft jedoch Fragen auf, da es sich primär auf den AStA zu beziehen scheint, während eigene Verbindungen – etwa zur Burschenschaft Markomannia Aachen oder zur AfD – ausgeklammert werden. Diese selektive Sichtweise könnte zukünftig auf Kritik stoßen. Ob die Gruppe tatsächlich Reformen anstrebt oder lediglich provoziert, bleibt ungewiss. Ebenso offen ist, ob andere Hochschulgruppen angesichts der Widersprüche und Intransparenz eine Zusammenarbeit überhaupt in Betracht ziehen. Angesichts der Nähe zur Markomannia Aachen und den Überschneidungen mit der AfD erscheint dies unwahrscheinlich.

How to Gremienwahlen 2025

How to Gremienwahlen 2025

Auch dieses Jahr kommt hier von uns eine kleine, aber feine Erinnerung: Die studentischen Gremienwahlen stehen an. Dieses Jahr finden sie vom 07.01. bis zum 10.01. statt. Online könnt ihr die Leute wählen, die euch in der neuen Legislatur ab dem Sommersemester repräsentieren sollen. Doch wen wählen wir eigentlich, wofür wählen wir und was bedeuten diese Wahlen für die Hochschulpolitik? Hier bekommt ihr eine knackige Einführung dazu, was studentische und akademische Wahlen sind und wofür die Personen zuständig wären, die ihr wählt.

Die studentischen Gremien

Im Zuge der studentischen Gremienwahl wählt ihr Kandidierende für das Studierendenparlament und für euren Fachschaftsrat. Im Studierendenparlament kommen alle zwei Wochen die von euch gewählten Stupist*innen zusammen und debattieren aktuelle Belange der Studierendenschaft, es ist das höchste Gremium der Studierendenschaft. Das lang debattierte Semesterticket, der Umgang der Studierendenschaft mit Geld oder studentisches Wohnen – das sind nur ein paar Einblicke in die aktuellen Debatten. Dementsprechend hat es eine Bedeutung, wem ihr eure Stimme gebt, denn all diese Dinge betreffen euch als Studierende direkt. Genau so wichtig ist es sich mit der Wahl eures Fachschaftsrates zu beschäftigen. Dieser vertritt eure Interessen der Universität gegenüber und soll als Anlaufstelle für euch fungieren. Sie sollen euch zum Beispiel bei Problemen mit eurem Studium oder Professor*innen unterstützen. Außerdem sollen die Mitglieder des FSRs an der Gestaltung der Fakultäten teilhaben. Der FSR eures Vertrauens ist aber auch für das Ausrichten von Veranstaltungen zuständig und nimmt aktive Rollen in den Debatten um Haushaltsgelder und zum Beispiel die Änderung der Rahmenprüfungsordnung ein.

Die akademischen Gremien

Im Rahmen der akademischen Wahlen gebt ihr eure Stimme für euren Fakultätsrat und den studentischen Senat ab. Für jede Fakultät gibt es einen Fakultätsrat. In jedem Fakultätsrat sitzen auch Studierende, die ihr im Zuge dieser Wahl wählen könnt. Hier werden grundsätzliche Fragen zum Studium und zur Lehre an der Fakultät besprochen. Außerdem besetzt der Fakultätsrat das Dekanat, also die Fakultätsleitung.
Im studentischen Senat gibt es die Unterteilung in den engeren und den erweiterten Senat. Im erweiterten Senat wird zum Beispiel die Grundordnung besprochen, aber auch das Rektorat und die Kanzler*in werden bestellt. Hierfür könnt ihr Studierende über eine Liste wählen, die euch dort vertreten sollen. Aus dem erweiterten Senat gehören diejenigen mit den meisten Stimmen der Liste zum engeren Senat. Dort geht es zum Beispiel um die Abstimmung des Haushaltsplanes der Universität.

Natürlich ist es schwierig, Personen zu wählen, die ihr teilweise vielleicht nicht kennt. Um euch umfassender für die Wahl zu informieren, haben wir Steckbriefe zu den einzelnen Personen erstellt und veröffentlichen noch vor der Wahl umfassende Einsichten in die Ziele der Hochschulgruppen.

Beitragsbild: moritz.medien

„Mussten das erste Mal eine Bürgerschaftssitzung unter Polizeischutz abhalten“: Der lokalpolitische Jahresrückblick mit dem Bürgermeister

„Mussten das erste Mal eine Bürgerschaftssitzung unter Polizeischutz abhalten“: Der lokalpolitische Jahresrückblick mit dem Bürgermeister

Lokalpolitische Errungenschaften und Niederlagen des Jahres, die Zukunft des ÖPNV in unserer Hansestadt und die angespannte Haushaltslage. All das und noch viel mehr im Interview mit Oberbürgermeister Stefan Fassbinder.

Das Interview führten Carlotta Jarchow, Jette Boeck und Robert Wallenhauer

Mitte Dezember – der Wind bläst kalt durch die Innenstadt, durch das Fenster des Konferenzraums im Rathaus erkennt man noch die Spitze des Weihnachtsbaums auf dem Marktplatz. Oberbürgermeister Stefan Fassbinder (Grüne) wurde im Jahr 2023 wiedergewählt und erhielt dieses Jahr den Ehrentitel „Weltbürgermeister“. Im Gespräch mit den moritz.medien blickt Fassbinder zurück auf das vergangene Jahr und gibt einen Ausblick, was uns lokalpolitisch 2025 erwartet.

Greifswalds OB Stefan Fassbinder im moritz.medien-Interview

moritz.medien: Was war dieses Jahr Ihre größte lokalpolitische Errungenschaft?

Stefan Fassbinder: Das kann man nicht so pauschal beantworten. Was sicher herausragend war für die ganze Stadt, ist unser Caspar-David-Friedrich-Jubiläum, das alle Erwartungen übertroffen und alle Zahlen gesprengt hat. Es gab bisher schon 580 Veranstaltungen, in allen Einrichtungen wurden Besucherrekorde gebrochen, und wir hatten dieses wirklich grandiose Fest am Caspar-David-Friedrich-Geburtstag, wo 5000 Menschen auf dem Markt gefeiert haben. Zudem haben wir dieses Jahr die neue Sporthalle III eröffnet, zahlreiche Straßen saniert und viele Beteiligungsprojekte mit Bürgerinnen und Bürgern umgesetzt. In Summe ist dieses Jahr unheimlich viel passiert.

Woran haben Sie sich dieses Jahr die Zähne ausgebissen? 

Am Dauerthema Bauvorhaben. Vor allem der geplante Neubau des Inklusiven Schulzentrums und die Sanierung des Theaters sind nicht so schnell vorangekommen, wie wir uns das wünschen. Schwierig gestalten sich auch die neuen politischen Mehrheiten in der Bürgerschaft, wenn sie mit Beschlüssen in laufende Projekte eingreifen. Denn das hat Folgen: Umplanungen kosten Geld und Zeit und verzögern die Projekte. Zudem könnte im Fall des gestoppten Verkehrsversuchs für die Innenstadt der Ausstieg aus diesem EU-Projekt langfristig zu einem Vertrauensverlust bei unseren Partnern führen.

Gehen wir nochmal an den Anfang des Jahres zurück. Da startete die Kampagne Gesicht zeigen gegen Rassismus mit einigen Demos. Greifswalder*innen mit Migrationsgeschichte beklagten sich über häufende Anfeindungen. Was haben Sie seitdem dafür getan, dass Greifswald für Migrant*innen, die hier leben, studieren und arbeiten, ein attraktiverer Ort wird?

Das gesellschaftliche Klima entwickelt sich in keine gute Richtung – fast auf der ganzen Welt. Wir sind aber immer noch eine Stadt, in der es sehr starke Gegenbewegungen gibt. Wenn solche Vorfälle gegen Migrant*innen passieren, kommen aus der Zivilgesellschaft, der Politik und auch aus der Stadtverwaltung Initiativen, die versuchen, gegenzusteuern. Das ist nicht überall in Deutschland so.

Ich habe in diesem Jahr das Greifswalder Bündnis für Demokratie ins Leben gerufen. Zu meiner Freude haben sich nicht nur Parteien, sondern auch viele Kirchengemeinden, Firmen, Schulen, Vereine und andere Gruppen zusammengetan und klar gesagt: Es geht darum, die Werte unseres Grundgesetzes zu verteidigen. Denn sie werden deutschlandweit angegriffen.

Dass wir eine weltoffene Stadt sind, in der sich Menschen, die eine andere Hautfarbe oder Muttersprache haben, wohlfühlen, ist uns aus humanitären Gründen wichtig. Aber es hat auch ganz klar einen ökonomischen Aspekt. Wenn wir unseren Wohlstand, soziale Standards und das wirtschaftliche Wachstum in Greifswald aufrechterhalten wollen, brauchen wir für den Arbeitsmarkt Zuwanderung. Wenn Migrant*innen hier permanent angefeindet würden, wäre das ein deutlicher Standortnachteil.

Im Frühjahr dominierte noch ein anderes Thema die Lokalpolitik. Die schlechte Stimmung in der Bürgerschaft. Wie nehmen Sie gerade die Zusammenarbeit mit der neu gewählten Bürgerschaft wahr?

Die Entwicklung in den vergangenen anderthalb Jahren in der Bürgerschaft fand ich schon sehr besorgniserregend. Wir mussten das erste Mal eine Bürgerschaftssitzung unter Polizeischutz abhalten. Es gab Personen, die für demokratiefeindliche Stimmungen sorgten und das verurteile ich – auch, dass Mitglieder der Bürgerschaft sich damit solidarisierten.

Inzwischen habe ich das Gefühl, hat sich die Stimmung leicht verbessert. Die Bürgerschaft ist nach der Wahl im Juni 2024 zersplitterter und vielfältiger geworden.

Noch konkreter: Wie nehmen Sie gerade den Diskurs in der Bürgerschaft wahr? 

Nach den Wahlen gab es zum Teil eine ungute Abbruchstimmung. Doch vor allem die Diskussion um den Haushalt und auch die restliche Debatte während der letzten Bürgerschaftssitzung waren überwiegend konstruktiv. Ich sehe deshalb erste Anzeichen dafür, dass sich die Gesprächskultur wieder verbessert.

Machen wir mit einem Thema weiter, von dem viele Studierende betroffen sind. Die Wohnungsnot für neue Studis geht so weit, dass manche ihr Studium nicht antreten können. Was unternehmen Sie gegen den Wohnraummangel? 

Das Thema Wohnungsmangel ist ein Dauerthema, das uns sicher noch weiter beschäftigen wird. In den letzten Jahren sind im gesamten Stadtgebiet rund 2500 neue Wohnungen in unterschiedlichen Mietpreiskategorien entstanden. Wir brauchen sowohl günstige Wohnungen als auch höherpreisige, weil diese ebenfalls nachgefragt werden. Ich freue mich jetzt auf die 700 neuen Wohnungen, die gerade am Ryck entstehen. Auch da wird es günstige und Sozialwohnungen geben. In den nächsten Jahren werden wir weitere Bebauungsgebiete entwickeln. Unzufrieden bin ich mit der Situation bei den Studierendenwohnheimen. Hier wünschte ich mir mehr Unterstützung für das Studierendenwerk durch die Regierungen in Schwerin und Berlin.

Inwiefern? Dass die bestehenden renoviert oder mehr gebaut werden?

Wir könnten locker ein, zwei neue Wohnheime gebrauchen. Dass einzelne auch saniert werden müssen, ist ebenfalls unstrittig – insbesondere in der Wilhelm-Holtz-Straße. Aber wenn das Studierendenwerk die Mittel nicht hat, ist das alles schwierig. 

Die Studi-Zahlen in Greifswald gehen zurück – mittlerweile sind wir weniger als 10.000 Studierende in Greifswald. Die Uni ist aber ein Herzstück der Stadt. Wie wollen Sie Greifswald als Studienstandort generell beliebter machen?

Wir versuchen insgesamt, als Stadt attraktiv zu bleiben und noch attraktiver zu werden. Dazu gehören natürlich die Klassiker: ein vielfältiges und gutes Kulturangebot, das große Theater, aber auch andere Einrichtungen, wie die Straze, das Pommersche Landesmuseum, das Koeppenhaus oder das Caspar-David-Friedrich–Zentrum. Auch Sport spielt eine große Rolle. In den letzten Jahren haben wir immer mehr freie Sportangebote geschaffen, wie die Calisthenics-Anlage in Eldena. Damit wollen wir ein gutes Lebensumfeld schaffen. Andererseits arbeiten wir auch weiterhin daran, attraktive Arbeitsplätze in der Stadt zu schaffen. Dafür unterstützen wir beispielsweise die Start-up-Szene, in der mittlerweile zahlreiche Studierende aktiv sind. 

Ein anderes Thema, was ab Herbst wieder heiß diskutiert wurde, war die Diagonalquerung an der Europakreuzung. Der geplante Ausbau wurde jetzt nach langen Diskussionen Anfang Oktober gestoppt. Was hätten Sie besser machen können, um das Projekt in der Zeit zum Laufen zu kriegen? Wie erklären Sie rückblickend, warum das Projekt unter Ihrer Führung nicht wie geplant vorankam?

Ich halte die Diagonalquerung immer noch für ein sinnvolles Projekt. Sie hat allerdings mit Blick auf die gesamtstädtische Entwicklung auch nicht die Bedeutung, die ihr manchmal zugeschrieben wird. Es ist bedauerlich, dass das Projekt nicht schneller umgesetzt werden konnte. Dann hätten wir die Diagonalquerung jetzt. Aber das hängt manchmal von vielen Faktoren ab.

An welchen Faktoren lag es in diesem Fall?

Vor allem an personellen Kapazitäten. Für die Beauftragung und Planung braucht man zum Beispiel Planungsbüros, die zuarbeiten. Denen fehlt auch das Personal. Das verzögert einfach viele Prozesse. Es gab jedoch ein Bündel an Gründen, die dazu geführt haben, dass sie nicht schon früher umgesetzt worden ist.

moritz.medien-Redakteur*innen im Interview mit Stefan Fassbinder. (Quelle: Janne Koch / moritz.tv)

Lassen Sie uns jetzt einmal kurz über den ÖPNV in Greifswald sprechen. Es gibt einen Vertrag, der regelt, mit wie viel Geld der Landkreis den ÖPNV der Stadt Greifswald bezuschusst. Dieser musste bis Ende des Jahres neu verhandelt werden. Die Bürgerschaft hat in ihrer letzten Sitzung jetzt kurz vor knapp einem Vertragsangebot zugestimmt. Warum hat es bis Mitte Dezember gedauert, bis dieses erste Angebot ausgehandelt wurde? 

Es stimmt, dass seit Jahren feststand, dass wir den Vertrag bis Ende 2024 neu verhandeln müssen. Wir haben uns Anfang 2023 an den Landkreis gewandt. Aber die Gespräche liefen schwierig und haben auch gewisse Wendungen vollzogen, die für uns nicht immer vorhersehbar waren.

Warum waren die Gespräche so schwierig? 

Wir haben in diesen Verhandlungen einen Partner – den Landkreis. Und mit ihm ist es bis heute nicht einfach, auf eine gemeinsame Linie zu kommen. Wir haben beispielsweise damit gerechnet, dass am 03. Dezember im Kreistag eine Entscheidung fällt. Die entsprechende Vorlage wurde aber kurz vor knapp vom Landrat von der Tagesordnung gestrichen. Ich verstehe bis heute nicht, warum das passiert ist. Deswegen kommen wir jetzt in den Zeitstress, weil wir bis Ende des Jahres kündigen müssen, sollte es zu keiner Einigung kommen.

Ich bin jetzt erstmal froh, dass die Bürgerschaft das Vertragsangebot des Kreises angenommen hat. Auch, wenn es nicht ganz dem entspricht, was wir für notwendig halten. Jetzt hängt es am Kreistag und am Landrat, dass dieser Vertrag auch Realität wird.

Würde dieser Vertrag den Status quo sichern? Oder müssen ÖPNV-Nutzer*innen mit Einsparung bei Taktung oder Liniennetz rechnen?

Wir hatten bereits geplant und in der Bürgerschaft beschlossen, dass das Liniennetz ausgebaut werden sollte. Diese Änderung hätte eine Ausweitung der Fahrbahnkilometer um 25 Prozent bedeutet, was für die Nutzer*innen positiv gewesen wäre. Mit dem Geld, was uns nun durch den neuen Vertrag zur Verfügung stehen würde, können wir das in dem geplanten Umfang leider nicht umsetzen.

Nichtsdestotrotz müssen wir zeitnah das bestehende Liniennetz überarbeiten. Die Bürgerschaft hat bereits beschlossen, dass wir dieses überplanen. Wir wollen ein überarbeitetes Liniennetz anbieten, was den Status quo sichert und gewisse Verbesserungen bringt. Der genaue Umfang ist noch nicht absehbar. Weitere Unwägbarkeiten spielen da hinein. So wissen wir nicht, wie hoch die neuen Tarifabschlüsse für die Busfahrer*innen sein werden – das ist ein Riesenfaktor. Wir wissen auch nicht, wie sich die Energiepreise entwickeln.

Beim Thema ÖPNV haben Sie in der Bürgerschaft auf den Erfolg des neuen Shuttle-Service Friedrich verwiesen. Haben Sie diesbezüglich genaue Zahlen?

Wir hatten lange das Problem, Ladebow und Friedrichshagen an den ÖPNV anzubinden. Dort einen normalen Bus alle Stunde hinfahren zu lassen, der dann häufig leer ist, wäre keine gute Lösung. Deswegen bin ich sehr froh über Friedrich. Mittlerweile wurde die zugehörige App rund 8000 Mal heruntergeladen. Und die Nutzerzahlen steigen an. Im Moment haben wir zwischen 35 und 50 Fahrten mit insgesamt 50 bis 70 Personen pro Tag. Und auch da zeigen unsere Erhebungen, dass die Nachfrage weiterhin ansteigt. Inzwischen kann es sogar passieren, dass man zu Stoßzeiten eine Woche im Voraus buchen muss, weil die Nachfrage so hoch ist. Das ist übrigens auch einer der Gründe, warum ich dafür kämpfe, dass die Verantwortung für den ÖPNV bei der Stadt Greifswald bleibt. Ich bin mir nicht sicher, ob der Landkreis solche spezifischen Angebote weiterführt und entwickeln kann.

Ein weiterer Punkt, der zuletzt ein großes Thema in der Bürgerschaft war, war der Haushalt. Greifswalds finanzielle Situation ist wie die vieler Städte in Deutschland sehr angespannt. Jetzt hatten CDU, SPD, Grüne und die Linke einen Haushaltsentwurf erarbeitet, der dann fraktionsübergreifend eine Mehrheit in der Bürgerschaft gefunden hat. Dieser Haushalt beinhaltet mehr Einsparungen als Sie zuvor vorgeschlagen hatten. Wie schätzen Sie diesen Plan ein?

Ich bin sehr froh, dass die Bürgerschaft dem Doppelhaushalt für 2025/26 zugestimmt hat. Es sah zwischenzeitlich nicht so aus, dass die Bürgerschaft ihrer Aufgabe gerecht wird. Um kurz den Prozess zu erläutern: Es ist unsere Aufgabe als Stadtverwaltung, einen Vorschlag bezüglich des Haushalts zu unterbreiten. Natürlich ist es das Königsrecht der Bürgerschaft, über den Haushalt zu entscheiden – und damit andere Schwerpunkte zu setzen als die Verwaltung. Wir können jetzt mit dem verabschiedeten Haushaltsbeschluss weiterarbeiten und erstmal sehr gut damit leben.

Unter anderem wurde das Personalbudget der Verwaltung beschränkt…

Genau, das Budget für Personal wird jetzt nur noch um jährlich zwei Prozent steigen, wobei wir meistens Tarifabschlüsse haben, die deutlich höher liegen. Ich kann verstehen, dass die Bürgerschaft in dem Bereich sparen will. Mir ist es aber wichtig darauf hinzuweisen, dass das irgendwann auch zu Leistungskürzungen für die Bürger*innen und die Wirtschaft führt. Sei es die Bearbeitung von Bauanträgen, der Geigenunterricht in der Musikschule oder die Beantragung des Führerscheins. Wenn ich weniger Menschen habe, die diese Themen bearbeiten, werden die Wartezeiten länger. Ein anderer Klassiker dahingehend sind die Mülleimer. Es wird häufig gefordert, dass wir diese in der Stadt häufiger leeren. Das machen nun mal Menschen. Wenn ich diese Menschen nicht habe, dann werden die Mülleimer seltener gelehrt.

Ist das der größte Effekt, den die Bürger*innen direkt spüren werden? 

Es wird nicht sofort direkt spürbar. Wir haben es mit keiner dramatischen Kürzung zu tun. Ich weise nur darauf hin, dass diese Folgen langfristig auftreten können. Wir versuchen natürlich, diese Effekte möglichst gering zu halten. Aber das Personal ist nicht irgendeine abstrakte Zahl – da stehen Leistungen für Bürger*innen und Wirtschaft dahinter.

Zum Abschluss noch kurz ein Ausblick auf nächstes Jahr: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen, die da auf uns zukommen werden? 

Das sind natürlich die sinkenden finanziellen Möglichkeiten. Wir haben fallende Einnahmen und steigende Ausgaben. Das wird sich die nächsten ein, zwei Jahre auch nicht ändern. Ich wünsche mir, dass wir unsere großen Bauprojekte trotzdem umsetzen können. Gleichzeitig sollen all die Punkte, die ich vorhin bei Lebensqualität erwähnt habe, aufrechterhalten werden. Ein weiteres Beispiel: Der Kinder- und Jugend-Sport soll kostenlos bleiben. Das ist in vielen Städten nicht der Fall und eine große soziale Leistung hier in Greifswald. Die zweite riesige Herausforderung wird mittelfristig der Arbeitskräftemangel sein, auf den wir rasant zusteuern.

Und worauf freuen Sie sich nächstes Jahr?

Auf viele Sachen. Das Caspar-David-Friedrich-Jubiläum wird uns noch bis zum Sommer begleiten. Im Mai feiert Greifswald 775 Jahre Stadtrecht, im Juni den MV-Tag. Wir werden auch dieses Jahr wieder wunderbare Festivals zelebrieren und hochkarätige Sportveranstaltungen erleben. Ich hoffe außerdem, dass die Sporthalle 2 eröffnet wird. Und ich hoffe eben auch, dass wir zusammen mit einer konstruktiven Mehrheit in der Bürgerschaft die schweren Aufgaben des kommenden Jahres lösen werden.

Vielen Dank für das Interview.

Beitragsbild: Janne Koch / moritz.tv

Adventskalender Türchen 24: Seefahrer und Entdecker mit ambivalenter Leistung

Adventskalender Türchen 24: Seefahrer und Entdecker mit ambivalenter Leistung

Heute vor 500 Jahren ist der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama, Graf von Vidigueira, in Cochin, dem heutigen Kochi, in Indien gestorben.

Seine Entdeckung des Seewegs von Portugal nach Indien entlang der afrikanischen Küste kann als hohe nautische Leistung betrachtet werden und ermöglichte einen deutlich günstigeren Handel zwischen Westeuropa und Ostasien. Sie bildete aber auch den Auftakt für europäische Gewalt und Expansion in Übersee und somit auch für den späteren europäischen Kolonialismus. Informationen über den großen Seefahrer da Gama und seine ambivalenten Leistungen liefert dieser Artikel.

Adeliger Seefahrer

Da Gama kam aus einer portugiesischen Adelsfamilie, wobei Teile seiner Verwandtschaft aus England kamen, und hatte mindestens vier Geschwister. Wie sein Vater war er Mitglied eines christlichen Ritterordens, wodurch er Einnahmen durch die Verwaltung von Ordensbesitz erwerben konnte. 1492 war er im Auftrag König Johanns II. von Portugal für einen Kampf gegen französische Piraten verantwortlich.

Erste Seereise nach Indien

1497 begann die von da Gama geleitete Seereise nach Indien entlang der afrikanischen Küste. In der Forschung ist umstritten, ob da Gama diesen Posten aufgrund bereits gezeigter seemännischer Leistungen oder wegen seiner guten Beziehungen zu König Johann II. und dessen Nachfolger, König Manuel I. von Portugal, erhielt. Die Schiffe fuhren von Lissabon aus auf den Atlantik und folgten in größerem Abstand der afrikanischen Westküste. Nach etwa vier Monaten umfuhren sie das Kap der Guten Hoffnung, die Südspitze Afrikas, und folgten der afrikanischen Ostküste. Hier kamen sie in Gewässer, die zuvor noch nie von Europäer*innen befahren worden waren. Etwa ein halbes Jahr später erreichten sie die Hafenstadt Malindi, deren Sultan da Gama einen Navigator zur Verfügung stellte. Mit dessen Hilfe konnten sie rund einen Monat später nach fast elf Monaten Seereise die indische Malabarküste erreichen. Damit waren sie als erste europäische Seefahrer*innen entlang der afrikanischen Küste bis nach Indien gefahren. Drei Monate später waren die Handelsgeschäfte abgeschlossen und sie begannen, mit teuren Gewürzen als Fracht die Rückreise nach Portugal, die erneut etwa elf Monate dauerte.

Weitere Seereisen nach Indien und Seekrieg

Auf da Gamas erste Seereise nach Indien folgten noch weitere von ihm und anderen. Das führte verstärkt zu Konflikten mit arabischen und indischen Seehändler*innen, die im Indischen Ozean zuvor einen Handelsmonopol besessen hatten. So kam es zu gewaltsamen Konflikten. Bei der vierten portugiesischen Indienreise, der zweiten von da Gama, im Jahr 1502 ließ er militärische portugiesische Stützpunkte an der afrikanischen Ostküste errichten. Vor der indischen Küste gewann er eine Seeschlacht gegen eine sich ihm entgegenstellende indisch-arabische Flotte. Angekommen in Indien, beendete er den Widerstand der lokalen Herrscher*innen gegen die neue portugiesische Handelspräsenz, indem er brutal Gewalt anwendete und die verschiedenen miteinander verfeindeten lokalen Herrscher*innen gegeneinander ausspielte. So erreichte Portugal schnell eine Monopolstellung im indischen Seehandel.

Portugiesischer Kolonialherr

Zudem entstand eine portugiesische Kolonialherrschaft an der indischen Küste, die jedoch von Misswirtschaft geprägt war. Um das zu ändern, entsandte König Johann III. von Portugal da Gama zu einer dritten Seereise nach Indien und ernannte ihn zu dessen Vizekönig. Nach ersten Maßnahmen starb da Gama jedoch nur drei Monate nach seiner Ankunft an Krankheit oder Altersschwäche. Seine Gebeine wurden später nach Portugal überführt.

Europäische Expansion

Die Entdeckungsreise da Gamas fällt in die Zeit der europäischen Expansion. In dieser Epoche reisten Europäer*innen in ihnen bis dahin unbekannte Weltregionen in Ostasien, nach Amerika, in das Landesinnere von Afrika und später nach Ozeanien und Australien. Hintergrund waren vor allem wirtschaftliche Interessen. Reisen nach Ostasien ermöglichten es, die dortigen Produkte zu deutlich günstigeren Preisen in Europa zu verkaufen als bei einem indirekten Handel mit arabischen Händler*innen, bei dem diese auch Gewinn machen wollten. Von den Europäer*innen entdeckte Gebiete wurden aber vielfach auch ausgebeutet und die indigenen Bevölkerungen unterdrückt, um ihre Reichtümer nach Europa zu schaffen. Legitimiert wurde die europäische Expansion mit der Verbreitung des christlichen Glaubens. Zeitlich ist sie sehr grob im 15. bis 17. Jahrhundert zu verorten. Sie war damit vor der Epoche des europäischen Kolonialismus und dem durch pseudo-naturwissenschaftliche Vorstellungen und Charles Darwins Evolutionstheorie geprägtem Rassismus, kann aber als Vorstufe dessen betrachtet werden. Die Entdeckung und Ausbeutung anderer Weltregionen durch die Europäer*innen bildeten die Grundlage für deren spätere Kolonialisierung. Zudem wurden die indigenen Einwohner dieser Regionen bereits zu diesem Zeitpunkt als „barbarisch“ betrachtet, auch wenn dies anderen Argumentationsmustern folgte als dem späteren Konzept des Rassismus.

Insgesamt kann man da Gamas Leistungen als ambivalent bewerten. Seine Leistung, als erster Europäer mit einem Boot um die afrikanische Küste nach Indien zu fahren, war für die Seefahrt von enormer Bedeutung und ermöglichte für Portugal gute Handelsbeziehungen. Sie stellt aber auch einen Startpunkt ausbeuterischer Praktiken durch Europäer*innen in Übersee dar. Weitere Einschätzungen zu den Leistungen da Gamas können gerne in den Kommentaren geschrieben werden.

Titelbild: Vanessa Finsel
Beitragsbild: KI auf Pixabay


Zur Person des Autors

Adventskalender Türchen 23: Unsere Weihnachtsbräuche & Traditionen

Adventskalender Türchen 23: Unsere Weihnachtsbräuche & Traditionen

Jedes Jahr aufs Neue zaubert Weihnachten eine besondere Atmosphäre. Doch welche Rituale und Traditionen pflegen wir eigentlich? Unsere Redaktion hat ihre ganz persönlichen Geschichten und Anekdoten rund um das Fest der Liebe zusammengetragen. Mehr dazu in Türchen Nummer 23 unseres Adventskalenders.

Ein Beitrag von einigen fleißigen webmoritz.-Redakteur*innen

Lucas: 
Was bei uns immer wieder eine Tradition ist, ist der abendliche Spaziergang vor der Bescherung. Früher hat meine Mutter meinen Vater, meinen Opa und mich immer rausgeschickt, damit sie und meine Oma die Geschenke schön unter dem Baum anrichten konnten. Der kleine Lucas war damals noch komplett von der Illusion des Christkinds überzeugt und weil dies auch weiterhin so bleiben sollte, hat meine Familie die Geschenke immer erst kurz vor der Bescherung unter den Baum gelegt, damit ich weiterhin im Glauben sein konnte, dass das Christkind die Geschenke gerade erst vorbeigebracht hat. Um das durchführen zu können, durfte ich natürlich nicht Zuhause sein zu dem Zeitpunkt, daher wurden wir immer auf einen Spaziergang geschickt. Auch, wenn die Illusion des Christkinds heutzutage nicht mehr wirklich präsent ist, wird der Spaziergang trotzdem noch durchgeführt bei uns, um die Vorfreude auf die Bescherung aufzubauen.

Adrian:
Ein neuerer Weihnachtsbrauch in unserer Familie ist das einigen bestimmt bereits bekannte Aufhängen der „Weihnachtsgurke“. Vor ein paar Jahren hat meine Mama eine grüne „Weihnachtskugel“ in Gurkenform an den Weihnachtsbaum gehängt. Seitdem hängt sie jedes Jahr gut versteckt an einer anderen Stelle am Baum im Wohnzimmer. Wegen der grünen Färbung ist sie oft nicht gut oder teilweise gar nicht zu erkennen – und genau das ist die Idee hinter der Gurke. Wer an Heiligabend zuerst die Gurke entdeckt, darf das erste Geschenk auspacken. Mir gefällt der Brauch wegen seiner Einfachheit und der etwas skurrilen Natur der Gurke. Auch funktioniert dieser Brauch mittlerweile besser als früher, da meine Schwester und ich nun schon vor einer Weile von Zuhause ausgezogen sind. Das heißt zum einen, dass wir nicht den halben Dezember damit verbringen können die Gurke zu suchen und wir als Kinder wahrscheinlich den ganzen Baum auf den Kopf gestellt hätten. 

Miriam:
Ein Brauch bei uns ist das Aufsagen von Gedichten und das gemeinsame Singen mit der Familie. Die „Tradition“ besteht schon seitdem wir „Kinder“ klein waren. Das Einprägen von Gedichten war jedes Jahr aufs Neue ein Struggle.

Nessa: 
Bei uns gibt es den jährlichen „Wettkampf“ um den schönsten Weihnachtsbaum. Jeder versucht den anderen zu übertrumpfen und rühmt sich damit den schönsten Weihnachtsbaum zu haben – was die anderen natürlich dementieren. Das ganze hat seinen Höhepunkt gefunden, als mein Vater mir den Auftrag gegeben hat, ihm eine vom Weihnachtsmann unterschriebene Urkunde zu designen. 

Jan-Niklas: 
So richtig geht Weihnachten erst los, wenn Heiligabend angebrochen ist. Wir gehen alle zusammen in die Kirche, danach gab es immer ein kleines Zeitloch und im Anschluss essen wir meistens sehr groß mit der Family. Gekocht wird das Essen von meiner Mutter, die sich jedes Jahr selbst übertrifft. Danach wird das Wohnzimmer aufgeschlossen (ja das ist den ganzen Tag zu, weil wir die Geschenke ja nicht sehen sollen) und es gibt die Bescherung. Meistens wird das Ganze begleitet von Weihnachtsmusik und einem Blitzlichtgewitter. Danach wird bei den Verwandten angerufen und wir verbringen einen schönen Abend miteinander, bevor Weihnachten dann so richtig los geht. 

Ida:
Bei mir in der Familie wird am 24. morgens der Baum geschmückt und sehr spät gefrühstückt. Am Nachmittag treffen sich alle in der Küche und wir machen gemeinsam Sushi. Am 25. morgens ist es bei uns ein absolutes Muss im Schlafanzug und mit Kakao „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu schauen. Zwar haben wir den auch auf DVD, das ist aber nicht das Gleiche.

Wie ihr sehen könnt, hat jeder seine und ihre eigenen Bräuche und Traditionen, die sich durch die Weihnachtsfeiertage ziehen. Habt ihr auch eigene oder familiäre Weihnachtsbräuche oder Traditionen, auf die ihr euch schon freut? Schreibt sie gerne in die Kommentare.

Beitragsbild: Vanessa Finsel

Adventskalender Türchen 22: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 3

Adventskalender Türchen 22: webmoritz.-Weihnachtsgeschichte Teil 3

Heute geht es weiter mit dem letzten Teil der Weihnachtsgeschichte. Den ersten und den zweiten Teil findet ihr hinter den Türchen 8 und 15. Wir wünschen viel Freude beim Lesen.

Die Umgebung um ihn herum veränderte sich. Nun stand er wieder in seiner Bäckerei. Doch diese war verändert. Lichterketten gaben dem Raum eine funkelnde Wärme. Überall waren kleine Dekorationen. Auf dem Tresen war ein Adventskranz platziert worden, überall hingen kleine Weihnachtskugeln, in der Ecke des Ladens stand auf einem kleinen Tisch ein Weihnachtsbaum. Drum herum waren hübsche Tische und Stühle platziert worden, auf denen nun Menschen saßen und Kaffee und Kuchen aßen. Hinter dem Tresen stand eine Kaffeemaschine und zwei Frauen huschten davor hin und her. Sie verkauften, holten neue Ware nach vorne und kochten Kaffee.
Beim genaueren Hinsehen erkannte der Bäckermeister die Frauen. Er hatte sie in seinem Traum in der alten Scheune gesehen. Doch hier sahen sie gesünder und glücklicher aus.
Er ging am Tresen vorbei und betrat die Backstube. Ein junger Mann kam ihm mit schmutzigem Geschirr entgegen und ging zum Abwaschen. In der Backstube herrschte rege Stimmung. Er sah sich selbst mit zwei weiteren Männern an den Arbeitsflächen stehen und Teig vorbereiten. Sie kneteten die Teige, verpackten einen Teil, um sie in die Kühlung zu legen und buken mit dem Rest der Teige Kekse.
Einer der anderen Bäcker, der Mann aus der Scheune, klopfte ihm auf den Rücken. „So, mein Freund.“ – Freund, wie lange hatte ihn niemand mehr so genannt? – „Geh endlich nach Hause. Du bist schon seit frühmorgens hier. Wir machen den Laden zu. Genieß lieber deinen Abend.“ Seinen Abend genießen? Er hatte seit Ewigkeiten keinen freien Tag mehr gehabt. Was sollte er auch machen, hatte er doch niemanden, mit dem er die Zeit verbringen konnte? Außerdem hatte er ja auch nie die Zeit. Er hatte doch bisher alles selbst gemacht. 
„Na gut. Ich geh ja schon“, erwiderte sein Ebenbild mit einem ehrlichen Lachen. Auch das hatte er lange nicht mehr gemacht. 
Der Bäckermeister beobachtete sich selbst dabei, wie er seinen Laden durch die Hintertür verließ. Er wunderte sich, wo er wohl hingehen könnte, lebte er doch in seiner Bäckerei. In einer kleinen Kammer hatte er sich vor Jahren schon ein Feldbett aufgebaut und seither immer dort geschlafen. Eine Wohnung wären nur zusätzliche Kosten gewesen und er hätte dort eh sehr wenig Zeit verbracht.
Doch nun ging sein zweites Ich über die Straße hinter der Bäckerei auf ein großes, schönes Haus zu. Durch die Fenster strahlte helles, warmes Licht. Hier und dort hingen weihnachtliche Ornamente an den Pflanzen und Lichterketten waren um Sträuße aus Tannenzweigen gewickelt. 
Der Bäckermeister beobachtete durch die Scheiben des Hauses, wie sein anderes Ich durch eine Tür in das Wohnzimmer des Hauses eintrat. Dieses war hell erleuchtet durch Kerzen, die einen Tannenbaum schmückten, sowie von einem Kamin, in dem eine wärmendes Feuer brannte. In der Mitte des Raumes stand eine Frau. Sie war dem anderen Bäckermeister mit dem Rücken zugewandt. Er ging zu ihr und umarmte sie von hinten. Die Hände der beiden verschränkten sich ineinander und die Frau schmiegte sich näher an ihn an.
Draußen vor dem Fenster wurde dem Bäckermeister warm ums Herz und gleichzeitig sehnte er sich nach innen. Er wollte diese Version von sich selbst sein. Mit all der Freude und Liebe, die dieses Leben zu bieten hatte. 
„Du hast immer noch die Möglichkeit, dein Leben zu verändern.“ 


Als der Bäcker erwachte, war es noch nachts. Doch er sprang sofort aus seinem Bett. Er hatte einen Plan.
Schnell zog er sich an und machte sich dann auf den Weg in seine Backstube. Und er buk und buk bis die Sonne aufging. Dann lud er Fuhren von Keksen, Lebkuchen, Stollen und weiteren Gebäcken, verpackt in Kisten, auf seine Karre. Seinen Laden würde er heute geschlossen lassen. Er hatte Wichtigeres vor.
Er ging durch die Straßen seiner Stadt. Die Vorgärten der Häuser waren prachtvoll geschmückt. An den Straßenlaternen hingen Girlanden aus Tannengrün und Christbaumschmuck. Vor den Eingangstüren standen hier und da Schuhe von Kindern, die sich erhofften, dass der Nikolaus ein paar Leckereien dort für sie hineintun würde. Der Bäckermeister legte heimlich in all diese Schuhe ein paar Kekse.
Doch sobald er das Stadtzentrum verließ, wurde die Gegend trister. Die Häuser verloren an Farbe und Größe, die Weihnachtsdekoration verschwand. In diesem Teil der Stadt war der Bäcker noch nie zuvor gewesen. Ihm wurde schwer ums Herz. Und noch schwerer, als er die Scheune aus seinem Traum in der Ferne entdeckte. Die Holzwand war schon nicht mehr ganz dicht, Risse und Löcher machten sich auf ihrer Oberfläche breit. Durch die Witterung war das Holz an einigen Stellen mittlerweile morsch.
Als er vor der Scheune stand, drangen die Stimmen der Menschen, die dort lebten, zu ihm hinaus. Ein angeregtes Gemurmel und hier und da Gelächter. Trotz ihrer schweren Schicksale schienen sie doch noch Freude zu haben, weil sie sich gegenseitig als Stütze hatten und wussten, dass sie geliebt wurden.
Der Bäckermeister nahm all seinen Mut zusammen und öffnete die Scheunentür. Er war aufgeregt, wusste er doch, dass einige der Menschen im Inneren ihn nicht leiden konnten, aufgrund dessen, was er ihnen angetan hatte. Die Tür kündigte ihn mit einem lauten Knarren an. Sofort verstummte jedes Gespräch und das Gelächter. Alle schauten zu ihm. Die alte Dame und der Mann aus seinem Traum und so viele Kinder – es befanden sich mindestens fünf Familien in dieser Scheune. Niemand rührte sich. War da Verwunderung in ihren Gesichtern? Angst? Oder einfach nur Wut? Der Bäckermeister konnte die Emotionen nicht deuten. 
Doch dann nahm er eine Bewegung war. Das kleine Mädchen bahnte sich einen Weg zu ihm nach vorne. „Mein Herr, was machen Sie hier? Müssten Sie nicht in ihrem Laden arbeiten?“ Sie klang neugierig.
„Ich…Ich wollte…“, dem Bäcker blieben die Worte im Hals stecken. Er fühlte sich plötzlich ganz klein. So viele Menschen starrten ihn an.
„Mama, guck mal, Kekse!“, ertönte da die freudige Stimme eines kleinen Jungen. Er war an der Hand seiner Mutter und sein kleiner Zeigefinger deutete auf des Bäckers Karren. Seine Augen strahlten.
„Du kannst dir einen nehmen, wenn du möchtest“, sagte der Bäckermeister. „Ihr alle könnt euch so viel nehmen, wie ihr möchtet. Und wenn es nicht reicht, dann bringe ich euch noch mehr. Niemand sollte die Weihnachtszeit ohne Gebäck erleben.“ Aufgeregtes Getuschel machte sich unter den Leuten breit und der kleine Junge riss sich von der Hand seiner Mutter los und rannte zu dem Wagen. Die anderen Kinder folgten seinem Beispiel und bald auch die Erwachsenen. Jeder nahm sich Kekse, Lebkuchen und Stollen. Sie aßen fröhlich, bis auf einer:
Der Mann, der auch einst Bäcker war, saß weiter auf seinem Holzscheit. „Wollen Sie nichts essen?“, fragte ihn der Bäckermeister.
„Nein, nicht wenn es von Ihnen kommt“, erwiderte der Mann. Der Bäcker spürte die eisige Wut auf seiner Haut. Er konnte es ihm nicht verübeln. Doch er konnte vielleicht etwas dagegen machen.
„Sie waren einst auch ein Bäcker“, sagte er und der Mann nickte. „Nun, ich möchte Ihnen ein Angebot machen. Arbeiten Sie bei mir. Ich bräuchte Hilfe bei all der Arbeit. Ich allein kann das auf Dauer nicht schaffen. Und ich werde Sie gut entlohnen.“ Die Stimmen verstummten erneut. Alle beobachteten, was vor sich ging. Und auch der Bäckermeister beobachtete den Mann auf seinem Holzscheit. Er war nachdenklich.
Ein Frau setzte sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schultern. „Ist das nicht das, was du immer wolltest?“
Er wandte sich zu ihr und küsste ihre Stirn. Dann schaute er dem Bäckermeister ins Gesicht. „Ich nehme an.“ Die beiden schlugen ein. Dann wurde der Mann von seinen Kindern belagert, die sich für ihn freuten und er lachte tief und herzlich.
Noch ein letztes Mal sprach der Bäckermeister mit lauter Stimme: „Sie alle können bei mir arbeiten. Wir finden für jeden eine Aufgabe. Kommen Sie einfach morgen vorbei.“ Jubel brach aus in der Scheune. Jemand begann zu musizieren und die Bewohner tanzten und lachten und lebten.
Der Bäcker lächelte. Es wärmte ihn, zu sehen, wie glücklich all diese Menschen waren. Plötzlich tippte jemand ihn an. Es war das kleine Mädchen. „Das haben Sie gut gemacht. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Liebe und Freude viel schöner sind als nur Besitztümer.“
Nun war es der Bäckermeister, der verwirrt das kleine Mädchen anschaute. „Dann warst du wirklich in meinen Träumen?“
Sie nickte. „Nur deinetwegen bin ich hier. Um dir zu helfen, die wichtigen Dinge zu erkennen und auch um diesen liebenswerten Menschen zu helfen. Ich bin eine Fee der Weihnacht.“ Ihre Kleidung veränderte sich. Die dreckigen Lumpen wurden zu einem samtigen roten Anzug. „Und nun muss ich gehen. Es warten noch viel mehr Aufgaben auf mich. Verliere nie die Freude und Liebe.“ Ihre Gestalt verblasste, noch ehe der Bäckermeister sich bei ihr bedanken konnte, trotzdem flüsterte er ein kleines „Danke“ in den Raum hinein.
Er drehte sich zur Tür und wollte den Heimweg antreten, doch wurde er erneut aufgehalten. Diesmal von der Mutter des kleinen Jungen. Eine atemberaubend schöne Frau. So schön, dass sie dem Bäckermeister den Atem raubte. Trotz der schmutzigen Kleidung und des bleichen Gesichts strahlte sie wie ein funkelnder Stern. Als er genauer hinsah, erkannte er sie aus seinem letzten Traum. Es war ebenjene Frau, die auf sein anderes Ich vor dem Kamin gewartet hatte. „Wollen Sie denn wirklich schon gehen? Feiern Sie doch mit uns. Sie sind doch unser Ehrengast heute.“ Noch bevor er antworten konnte, nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn in die Menge.

Am nächsten Tage kamen sie alle zu ihm. Aufgaben wurden verteilt, für jeden hatte er etwas gefunden. Was anfangs ungewohnt war, wurde schnell zur Gewohnheit. Sie alle schmückten den Laden zusammen. Sie erzählten und lachten vor und nach und während der Arbeit. Und schon bald sah der Laden aus, wie in seinem Traum.
Gemeinsam fanden sie auch warme Unterkünfte für die Leute aus der Scheune, sodass keiner von ihnen mehr im Schlaf frieren musste. Der Bäckermeister selbst zog mit einigen von ihnen gemeinsam in das große Haus aus seinem Traum. Er hatte nun ein Zuhause, wo er abends hingehen konnte und es sich gemütlich machte. Dort feierten sie auch alle zusammen Weihnachten. Es war ein schönes Fest mit ausgiebigem Essen. Sie musizierten gemeinsam, erzählten sich Geschichten und die Kinder spielten mit ihren Geschenken.
Die Frau und der Bäckermeister kamen sich auch immer näher. Sie verbrachten so viel Zeit miteinander, wie es nur ging. Ebenso am Weihnachtsabend. Sie hatten gerade das Geschirr weggebracht und kamen wieder in das Wohnzimmer, als über ihnen kurz etwas aufleuchtete. Sie schauten nach oben und über ihnen erschien ein Mistelzweig.

Mit diesen Worten beendet Opa Clausen seine Geschichte. Auch wenn seine Enkel noch viele Fragen hatten: „Wie geht es weiter? Heiraten der Bäckermeister und die Frau? Was musste die Fee noch machen?“ Er antwortete nicht darauf und sagte ihnen, dass sie all das ihrer Fantasie überlassen sollten, denn das sei nicht das Wichtigste an der Geschichte. Das Wichtigste sei es, dass sie gelernt hätten, nicht nur an sich, sondern auch an andere zu denken. Und dass sie niemals aufhören sollten zu lieben.

Ende

Beitragsbild: Vanessa Finsel


Zur Person der Autorin