von Maret Becker | 27.06.2022
Mein verklärtes Bild von der wundervollen Arbeit der Dozierenden an einer Universität verschwand, sobald ich anfing zu studieren. Aber anscheinend ist die Situation der Dozierenden bzw. wissenschaftlichen Mitarbeitenden noch viel, viel schlimmer, als ich mir ausmalen konnte. Von dieser prekären Lage wird im Buch #IchBinHanna erzählt.
Überblick
#IchBinHanna ist ein Buch von Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon. Die drei Autor*innen des Buches sind allesamt wissenschaftliche Mitarbeitende an einer Universität oder haben eine Professur inne. Sie wissen also ganz genau, wie der wissenschaftliche Betrieb an einer Universität abläuft. In ihrem Buch klären sie über ihren ins Leben gerufenen Hashtag #IchBinHanna auf. Mit diesem Hashtag wollten sie auf die prekäre Lage der Wissenschaft durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz in Deutschland aufmerksam machen, von dem sie selbst betroffen sind. Das Buch ist noch sehr neu, denn es erschien erst 2022 im Suhrkamp Verlag. Die zweite Auflage hat 135 Seiten.
Jetzt nochmal in kurz und knapp, worum es in dem Buch genauer geht: Es wird erklärt, was es mit dem Hashtag #IchBinHanna auf sich hat, warum das Wissenschaftszeitvertragsgesetz den Dozierenden mehr schadet als nutzt und wie man die ganze Problematik lösen bzw. reformieren könnte. Damit ihr einen genaueren Überblick bekommt, kläre ich euch kurz über die einzelnen Teile des Buches auf.
#IchBinHanna – Einordnung
Vielleicht hast du in den Nachrichten oder sogar in deinem universitären Umfeld schon einmal von dem Hashtag #IchBinHanna gehört. Der ging nämlich in den Medien eine Zeit lang ganz schön viral. Falls nicht, erfährst du jetzt mehr dazu.
Am 10. Juni 2021 benutzte Sebastian Kubon, einer der Autor:innen, zum ersten Mal den Hashtag #IchBinHanna. Er echauffierte sich über ein Video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung von 2018. In dem Video zeigt die fiktive Biologin Hanna die Vorzüge des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Sie beschreibt den schnellen Wechsel des Personals als vorteilhaft für die Wissenschaft. Die Befristungen seien nämlich nötig, um neue Fachkräfte aus neuen Generationen nachrücken zu lassen. Amrei Bahr, Kristin Eichhorn und Sebastian Kubon sahen das deutlich anders und lancierten den Hashtag. Das war erst der Anfang. Zahllose Wissenschaftler*innen folgten dem Beispiel und erzählten auf Twitter ihre eigenen Geschichten im wissenschaftlichen Bereich. Auch sie waren mit ihren Anstellungen in der Wissenschaft unzufrieden. Das liegt an den Bedingungen des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Im Buch wurden passend dazu auch einige Twitterbeiträge abgedruckt.
Silke, 49, Literaturwissenschaftlerin, verstopft das System seit Oktober auf einer halben unbefristeten Stelle. Sonst hätte ich nach 20 Jahren Wissenschaft, 4 Monografien, 58 Aufsätzen und einer knappen Million eingeworbener Drittmittel auf der Straße gestanden. #IchBinHanna
Zitat eines Tweets, S. 66
Das Problem mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG)
Um es ganz plump auszudrücken: Das Gesetz ermöglicht die Befristung von Arbeitsverträgen des wissenschaftlichen Personals. Durch das Gesetz resultieren die Arbeitsbedingungen und somit auch die beruflichen Aussichten von Akademiker*innen. Das Problem? Die befristete Anstellung. Es ist ein Sonderbefristungsrecht, das regelt, dass Wissenschaftler*innen in Deutschland maximal sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion befristet beschäftigt werden können. Somit haben Wissenschaftler*innen eigentlich keine Perspektiven auf eine Daueranstellung in der Wissenschaft. Dieser Stress verursacht bei den Betroffenen unter anderem Depressionen und Überlastung. Verständlich, wenn von einem immer wieder verlangt wird, Anträge auszufüllen und sich zu bewerben, anstatt engagiert lehren und forschen zu können.
Die herausragende Stellung der Professor*innen führt schließlich dazu, dass eigenständige Leistungen anderer Wissenschaftler*innen nicht angemessen gewürdigt werden. Wenn auch formal inzwischen inexistent, wirkt hier das deutsche Lehrstuhlprinzip nach, in dessen Zentrum die Professur steht, der abhängig beschäftigte Wissenschaftler*innen als sogenannte „Ausstattung“ zugeordnet sind.
S. 95
Gibt es eine Lösung?
Die Aufregung um den Hashtag #IchBinHanna hat etwas gebracht. Die sämtlichen Kernforderungen der Autor*innen wurden nämlich im Koalitionsvertrag der Bundesregierung berücksichtigt.
Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag 2021–2025 das Ziel gesetzt, die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft zu verbessern und dazu unter anderem „das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Basis der Evaluation [zu] reformieren“.
Bundesministerium für Bildung und Forschung
Gute Wissenschaft braucht verlässliche Arbeitsbedingungen. Deswegen wollen wir das
Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf Basis der Evaluation reformieren. Dabei wollen wir die Planbarkeit
und Verbindlichkeit in der Post-Doc-Phase deutlich erhöhen und frühzeitiger Perspektiven für
alternative Karrieren schaffen. Wir wollen die Vertragslaufzeiten von Promotionsstellen an die
gesamte erwartbare Projektlaufzeit knüpfen und darauf hinwirken, dass in der Wissenschaft
Dauerstellen für Daueraufgaben geschaffen werden. Wir tragen für eine verbesserte
Qualitätssicherung der Promotion Sorge.
Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD),
BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 23
Es gibt weitere Ideen, wie eine Personalreform für die Wissenschaft vonstattengehen könnte. Die können im Buch nachgelesen werden.
Fazit
Alle essenziell wichtigen Themen werden im Buch ganz ausführlich erklärt. Die Autor*innen haben dabei immer das Ziel vor Augen, auf die prekäre Lage der Wissenschaft in Deutschland hinzuweisen. Das schaffen sie mit einer wissenschaftlich fundierten Art, die dabei gleichzeitig auf das Leid der Betroffenen aufmerksam macht. Denn hinter all unseren Dozierenden stecken Personen mit einem Privatleben, die nicht nur dafür existieren, zu forschen und zu lehren, um dabei ausgebeutet zu werden.
Das Buch ist nicht für eine leichte Sommerlektüre geeignet, denn es ist ein wissenschaftliches Buch, dessen Aufgabe es ist aufzuklären, anstatt zu unterhalten. Dennoch lässt es sich aufgrund der niedrigen Seitenzahl schnell durchlesen. Als Studentin fand ich das Thema, von dem ich zuvor nur oberflächlich hörte, sehr interessant. Deswegen legte ich mir das Buch auch zu. Enttäuscht wurde ich nicht. Ich wurde besser über den Hashtag #IchBinHanna aufgeklärt und über die ganze Thematik, die damit einhergeht. Es war schön zu lesen, dass es sozusagen zu einem Happy End in der Realität kommen kann, da die Autor*innen mögliche Lösungsvorschläge für das Problem aufzeigen.
Wer sich allerdings nicht für die Arbeit in einem wissenschaftlichen Bereich interessiert, sollte lieber zu einem anderen Buch greifen.
Beitragsbild: Maret Becker
von Lilli Lipka | 19.06.2022
Am Dienstag, den 21. Juni, findet auf der ganzen Welt die Fête de la Musique statt. Was euch in Greifswald an diesem Tag erwartet, erfahrt ihr hier.
17 Stunden. So viel Zeit liegt am 21. Juni zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Die Sommersonnenwende bietet Anlass zum Feiern, dachte sich der französische Kulturminister Jack Lang, als er 1981 die Fête de la Musique ins Leben rief. Inzwischen zelebrieren mehr als 500 Städte inner- und außerhalb Europas jedes Jahr am 21. Juni das Fest der Musik. Straßenmusiker*innen, Profis, Amateur*innen – sie alle vergnügen für diesen Tag die Straßen ihrer Stadt.
Auch in Greifswald spielt am nächsten Dienstag die Musik. Zusammen mit verschiedenen Initiativen hat das Greifswald International Students Festival e.V. (GrISTuF) „Musik für alle – umsonst & draußen“ geplant. Verschiedene Bühnen mit vielfältigen Künstler*innen in der ganzen Stadt laden musikwütige Menschen zum Lauschen, Schunkeln, Zappeln und Hopsen ein.
Bei einem Bummel quer durch die Stadt können Interessierte die Hauptbühne an der STRAZE, die Teppichbühne am klex und den Innenhof des St. Spiritus erkunden. Auch die Musikschule Greifmusic, das radio 98eins und die Kunstwerkstätten sowie die Musikfabrik bieten buntes Programm. An der Mensa am Wall beschallt die Musikfabrik und auch in der Brinke präsentieren Künstler*innen ihr Talent. Selbst der Döner kann am Dienstag zu besonderen Klängen verputzt werden, denn beim Bagdad Drehspieß gibt es ebenfalls Live-Musik. In der Schwalbe findet außerdem eine Fete für Kinder statt. Auch etwas außerhalb vom Greifswalder Zentrum wird der Tag zelebriert: In Ladebow legen auf dem Projektgelände der Heilen Welt verschiedene DJ auf. Wer nach vielen Stunden voller Musik noch keine wunden Füße und klingende Ohren hat, kann anschließend zu den Geokellern schlendern. Mit einer Aftershowparty ab 22 Uhr wird dort dem Sonnenuntergang und der kürzesten Nacht des Jahres entgegengetanzt.
Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Fête de la Musique in Greifswald
Wann? Dienstag, den 21. Juni, ab 14 Uhr
Wo? Draußen, in der ganzen Stadt
Programm? Das gesamte Programm findet ihr auf der Seite zur Fête beim GrIStuF e.V.
Beitragsbild: Presse GrIStuF e.V.
von Kirstin Seitz | 17.06.2022
Das Sommersemester ist in vollem Gange, der Uni-Alltag hat einen im Griff– wer träumt da nicht von einem Urlaub im Paradies? Genau dazu lädt der Roman Die Schatzinsel von Robert Louis Stevenson ein. Wäre da nicht ein Problem: Die karibische Insel ist alles andere als ein Paradies! Aber wie kommt es überhaupt dazu?
Der Abenteuerroman Die Schatzinsel (engl. Treasure Island) von Robert Louis Stevenson, der erstmals vom 1. Oktober 1881 bis zum 28. Januar 1882 in Form eines Mehrteilers in der Zeitschrift Young Folks erschienen ist, ist ein Klassiker und wurde bereits über 20 Mal verfilmt. Meine Ausgabe in englischer Sprache ist bei Oxford World’s Classics 2008 erschienen und hat 191 Seiten. Jedoch gibt es auch noch eine Einleitung und einige Extrakapitel. Der Roman handelt davon, dass eine Gruppe von Seemännern und Nicht-Seemännern zu einer Schatzinsel aufbricht, da der Protagonist und Ich-Erzähler in den Besitz einer Schatzkarte gekommen ist. Auf der Insel entwickelt sich dann jedoch alles anders als geplant. Noch bevor sie überhaupt auf der Insel angekommen sind, passiert die erste gravierende Wendung:
I had either fallen asleep, or was on the point of doing so, when a heavy man sat down with rather a clash close by. The barrel shook as he leaned his shoulders against it, and I was just about to jump up when the man began to speak. It was Silver’s voice, and before I heard a dozen words, I would not have shown myself for all the world, but lay there, trembling and listening, in the extreme of fear and curiosity; for from these dozen words I understood that the lives of all the honest men aboard depended upon me alone.
Treasure Island, S. 56
In einem englischen Gasthaus, dem „Admiral Benbow“ bei Bristol schlägt ein alter Seemann sein Quartier auf. Der Ich-Erzähler des Romans, Jim Hawkins der der Sohn des Gastwirtpaares ist, soll für diesen Seemann, genannt William Bill Bones, nach einem einbeinigem Mann Ausschau halten, vor dem dieser Angst hat. Nach kurzer Zeit erscheint ein blinder Bettler, der Bones ein Papier mit einem schwarzen Punkt überreicht. Kurz darauf stirbt Bones an einem Herzinfarkt. Als der blinde Bettler mit seinen Leuten bald darauf das Gasthaus überfällt, können sich Jim und seine Mutter in letzter Sekunde retten. Jim hatte jedoch davor ein Päckchen aus der Kiste von Bones mitgenommen. In dieser befindet sich die Karte einer Insel, auf der es einen Schatz geben soll. Diese Karte zeigt er anschließend dem Arzt Dr. Livesey und dem Gutsherrn John Trelawney, die eine Expedition auf diese Insel beschließen, auf die Jim auch mitkommen darf. Das Abenteuer geht auf der Insel erst richtig los, denn es kommt zu einer unerwarteten Wendung, gefolgt von vielen weiteren. Auf der Suche nach dem Schatz finden sie auch das Skelett eines Piraten, kurz danach ertönt eine Stimme, die sich wie der Verstorbene anhört:
Ever since they had found the skeleton and got upon this train of thought, they had spoken lower and lower, and they had almost got to whispering by now, so that the sound of their talk hardly interrupted the silence of the wood. All of a sudden, out of the middle of the trees in front of us, a thin, high, trembling voice struck up the well-known air and words:-
‚Fifteen men on the dead man’s chest –
Yo-ho-ho, and a bottle of rum!‘
I never have seen men more dreadfully affected than the pirates. The colour went from their six faces like enchantment; some leaped to their feet, some clawed hold of others; Morgan grovelled on the ground.
Treasure Island, S. 175-176
Das Buch lädt uns ein in eine wundersame Welt mit Piraten, Geheimnissen und auf eine tropische Insel mit einem Schatz. Dem Autor gelingt es, seine Kapitel oftmals mit Spannung zu beenden, sodass man gezwungen ist, weiterzulesen, um herauszufinden, welche neuen Ereignisse nun wieder folgen. Ich konnte das Buch abends schwer aus der Hand legen, denn die Spannung war zu groß. Die Entwicklung der Figuren, besonders der des Long John Silver, sind meiner Meinung nach sehr gelungen und halten Überraschungen bereit. Long John Silver ist ein ambivalenter Charakter, der einem mal etwas sympathisch erscheint und dann doch wieder nicht, was das Buch unter anderem so gut und fesselnd macht. Auch Jim Hawkins macht im Laufe der Geschichte eine Entwicklung durch, zeigt sich aber von Anfang an als intelligent, raffiniert und mutig. Hier ist ein Ausschnitt zu lesen, was er zu den Piraten sagt, als er von ihnen auf der Insel gefangen genommen wird:
your whole business gone to wreck; and if you want to know who did it – it was I! I was in the apple barrel the night we sighted land, and I heard you, John, and you, Dick Johnson, and Hands, who is now at the bottom of the sea, and told every word you said before the hour was out. And as for the schooner, it was I who cut her cable, and it was I that killed the men you had aboard of her, and it was I who brought her where you’ll never see her more, not one of you.* The laugh’s on my side; I’ve had the top of this business from the first; I no more fear you than I fear y fly. Kill me, if you please, spare me. But one thing I’ll say, and no more; if you spare me, bygones are bygones, and when you fellows are in court for privacy, I’ll save you all I can. It is for you to choose. Kill another and do yourselves no good, or spare me and keep a witness to save you from the gallows.‘
Treasure Island, S. 152
Fazit
Alles in allem wird das Buch dem Genre Abenteuerroman auf jeden Fall gerecht und hält auch einige Wendungen in der Geschichte bereit. Gerade die Abläufe auf der Insel sind nicht unbedingt vorhersehbar und machen das Buch spannend. Ich finde es auf jeden Fall empfehlenswert, auch für Erwachsene, selbst wenn das Buch eigentlich unter dem Genre Jugendroman geführt wird. Wer dem Englischen nicht abgeneigt ist, dem empfehle ich es, wie jedes englischsprachige Buch, in der Originalsprache zu lesen. Man muss aber dazu sagen, dass einige Schiff- und Seefahrerbegriffe auftauchen, die mir auch nicht alle geläufigen waren. Davon darf man sich jedoch nicht abschrecken lassen. Manches ergibt sich aus dem Sinn, oder man googelt die Wörter einfach schnell. Was mir auch gut gefallen hat, ist, dass die Geschichte nicht nur aus der Perspektive von Jim Hawkins, sondern auf der Insel auch teilweise von dem Arzt Dr. Livesey erzählt wird. Dadurch erhält man unterschiedliche Eindrücke der Geschichte.
Vielleicht ist ein Entfliehen in eine Welt mit weißen Sandstränden und türkisblauem Wasser, die noch dazu ein Abenteuer bereit hält, sogar noch besser als nur ein öder Roman, der uns ein Paradies beschreibt.
P.S.: Falls euch der Name des Autors etwas sagt: er hat auch die Novelle The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde geschrieben.
Bild: Kirstin Seitz
von Julian Schlichtkrull | 15.06.2022
Alleine am Rand der Bühne und zur Hälfte im Halbschatten verborgen steht Emma da, gekleidet in eine schlichte orangene Jacke, eine gerade geschnittene Jeans und bereits etwas ausgetretene Turnschuhe. „Hol Luft, Emma“, singt sie, anfangs noch ganz leise und zerbrechlich, dem Publikum entgegen, und macht mit diesen Worten auch sich selbst Mut. Denn Emma hat sich vor Kurzem geoutet und damit nicht nur die Abneigung ihrer Mitschüler*innen und deren Eltern auf sich gezogen. Sie könnte durch eben dieses Outing auch den gesamten Abschlussball ihrer Klassenstufe in Gefahr gebracht haben. Nur wegen des Wunschs nach einem einzigen Tanz mit dem Mädchen, das sie liebt.
Das Musical The Prom – Der Abschlussball, das derzeit im Kaisersaal des Greifswalder Theaters aufgeführt wird, basiert auf dem Stück von Chad Beguelin (2016) und der anschließenden Netflix-Verfilmung (2020). Die Greifswalder Aufführung beeindruckt in erster Linie durch ihre Schlichtheit. Die Bühne ist nur dezent gestaltet – wo wir uns befinden symbolisieren nur ein Spind oder ein Tisch oder vier Bürostühle, die allesamt schnell auf- und abgebaut und hin und her geschoben werden können. Gefühle entstehen vor allem durch die Abwesenheit von großen Effekten und durch das Spiel mit Licht und Dunkelheit, mit den Farben. Und The Prom beeindruckt durch seine Nahbarkeit. Denn der gesamte Cast besteht selbst aus Schüler*innen, denen man abkauft, dass sie verstehen, worüber sie dort sprechen und singen. Die Neunt- bis Zwölftklässler*innen des Jahn-Gymnasiums wissen, was es bedeutet, seinen Platz in der Schubladenwelt finden und behaupten zu müssen, mit der Angst im Hinterkopf, möglicherweise abgelehnt zu werden, von Gleichaltrigen, den Eltern oder vielleicht sogar der ganzen Gesellschaft.
Von Fremdbestimmung und Eigeninitiative
Unterstützt wird Emma bei ihrem Kampf vom Schulleiter und vier etwas in die Jahre gekommenen Broadway-Schauspieler*innen. Es wirkt ein wenig befremdlich und erinnert beinahe an die alltägliche Bevormundung queerer Leute durch nicht-queere Menschen, wenn die Vier ohne Absprache mit Emma für die Schülerin sprechen und handeln. Aber wie so vieles im echten Leben ist auch das Stück ein Prozess. Und so merkt Emma gerade durch die Fehler ihrer Schutzengel-Diven, dass sie anfangen muss, für sich selbst zu sprechen. Wir dürfen sie dabei begleiten, wie sie zunehmend ihre eigene Stimme findet, und auf diesem steinigen Weg nicht nur sich selbst, sondern auch ihren eigentlichen Helfer*innen hilft – sie selbst zu sein, Mut zu haben, für sich einzustehen. Und ein Stück weit hilft sie damit auch uns Zuschauer*innen.
Dabei ist es keinesfalls Emmas Anliegen, diese Bürden auf sich zu laden und der Welt – oder zumindest dem vor Wut kochenden Elternrat – entgegenzutreten. „Ich will keinen Aufstand machen, bin zum Vorbild nicht gemacht“, singt sie und klammert sich dabei verzweifelt an die Hände ihrer Freundin. Und während die Eltern den Ball um jeden Preis verhindern wollen und mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die auch für Emma einen Ball fordern, und sich damit gegen das Recht der freien Wahl ein diskriminierendes Arschloch zu sein stellen wollen, steht Emma auf der anderen Seite der Bühne und sagt in einer fast schon absurden Einfachheit: „Ich möchte doch nur zum Abschlussball gehen.“
Die Komik in der Absurdität des Tragischen
Solche Gegenüberstellungen zweier Situationen in der gleichen Szene durchziehen das Stück wie ein roter Faden. Sie verdeutlichen die Ungerechtigkeit und die Hilflosigkeit, wenn man als Einzelne*r gegen alle anderen steht. Und genau diese Ungerechtigkeit ist es, die im Publikum immer wieder teils Unverständnis, teils eine unangemessen wirkende Belustigung auslöst. „Das ist ein Albtraum“, sagt Emma, und ihr Schulleiter erwidert trocken: „Das ist kein Albtraum. Aus einem Albtraum kannst du aufwachen“, und so aus der Ferne betrachtet kann man lachen über diese Worte. Hier im Publikum ist es ja immerhin auch geradezu lächerlich, dass ein erwachsener Mann nur wegen seines Outings seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter haben könnte, von hier aus sieht es absurd komisch aus, wenn die schillernden Broadway-Schauspieler*innen inmitten der schwarzgekleideten Masse stehen, von Akzeptanz singen und dabei von den genervten Monstertruck-Fans ausgebuht werden, die doch eigentlich nur den Sport sehen wollen.
Diejenigen, die solche Szenen aus dem eigenen Alltag kennen, haben aber hingegen vielleicht kein Lachen auf den Lippen, sondern Tränen in den Augen. Man schaut sich einen Moment im Publikum um, blickt in die vielen erheiterten Gesichter, wird zum Nachdenken angeregt. Warum kommt uns Diskriminierung und Ausgrenzung auf der Bühne so absurd und lächerlich vor? Warum können wir hier im Publikum ihre absolute Sinnfreiheit erkennen? Warum gelingt uns das im echten Leben so oft nicht, obwohl es doch täglich direkt in unserer Mitte geschieht?
Ein amerikanisches Musical?
Denn wer regelmäßig nach Neuigkeiten über die LGBTQ+-Community schaut, stolpert andauernd darüber: Im Land der Glorreichen und Freien wurde wieder ein Gesetz gekippt, hat wieder eine weitere Minderheit ihre Rechte verloren. Ob es das im März verabschiedete Don’t say gay bill Floridas ist, nach dem Erzieher*innen und Lehrkräfte gegenüber Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter nichts mehr erwähnen dürfen, das gleichgeschlechtliche Liebe oder trans*-Identitäten andeuten und damit Kinder frühsexualisieren könnte (keine Sorge, Genderparties und Trickfilm-Küsse zwischen Disneyprinz und -prinzessin sind selbstverständlich weiterhin erlaubt). Oder ob es die verschiedenen Gesetze der Südstaaten sind, die alle bereits in diesem Jahr beschlossen wurden und unter anderem Eltern und Lehrkräften mit bis zu 10 Jahren Gefängnis drohen, wenn diese ihren trans*-Kindern helfen wollen, sich in ihrem Körper wohler zu fühlen. Auch der reale Fall McMillen v. Itawamba County School District, auf dem The Prom beruht und bei dem einer Schülerin die Teilnahme an ihrem eigenen Abschlussball verweigert werden sollte, nur weil sie ihre Freundin als Begleitung mitbringen wollte, ist gerade einmal 12 Jahre her, und auch wenn dieser Prozess große Medienaufmerksamkeit erhielt, ist er bei Weitem kein Einzelfall.
Aber das ist ja nur Amerika, nicht wahr? In Deutschland dürfen wir immerhin schon seit nun fast 5 Jahren unsere gleichgeschlechtlichen Partner*innen heiraten (zur besseren Anschaulichkeit: die „Ehe für Alle“ ist damit vom Anfang der Coronapandemie genauso weit entfernt wie wir heute), und seit bereits etwas mehr als 10 Jahren kann ich theoretisch mein Geschlecht im Ausweis ändern lassen, ohne zwangssterilisiert zu werden. Großartig! Und trotzdem wirkt die Rhetorik des Elternrats an Emmas Schule nur allzu vertraut. Denn sie wird noch immer zahlreich genutzt, auch hier. Es ist erschreckend, wenn man ohnmächtig wie Emma und ratlos wie zwischen all den lachenden Zuschauer*innen dabei zusehen muss, wenn die Partei dieBasis, die erst am vergangenen Sonntag in der Greifswalder OB-Wahl auf mehr als 8 Prozent aller Stimmen kam, in ihren Artikeln sichtbar queere Menschen als „extremste Beispiele“ beschimpft und im gleichen Atemzug glaubt, für „unauffälligere“ queere Menschen sprechen zu können, die sich angeblich von all jenen „von der Realität weit entfernten“ Individuen angegriffen fühlen. Würden wir über diese Art der Diskriminierung auch lachen, wenn wir sie mit genug Distanz auf der Theaterbühne sehen würden?
The Prom – Der Abschlussball wird noch drei Mal im Kaisersaal aufgeführt, an diesem Donnerstag, Freitag und Samstag. Gespielt von Schüler*innen des Jahn-Gymnasiums ist es sicherlich ein Stück, dass in erster Linie Freund*innen und Familie in den Theatersaal lockt, aber das sollte es nicht sein. Denn Emmas Geschichte ist nicht nur aus der Begeisterung einer Gruppe von Jugendlichen für eine Netflix-Adaption entstanden, sondern aus der Realität unserer Gesellschaft. Und es ist eben diese Nähe zu unseren eigenen Erfahrungen von Diskriminierung – egal welcher Art –, die das Stück für das gesamte Publikum so fühlbar macht und einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Musical The Prom – Der Abschlussball
Wann? Donnerstag, Freitag, Samstag, 16., 17. und 18.06.2022, jeweils 19:30 Uhr
Wo? Kaisersaal, Theater Greifswald
Preis? 12 Euro, ermäßigt für Studierende 10 Euro; Karten sind online oder an der Abendkasse erhältlich
Beitragsbild: Julian Schlichtkrull