von Julian Schlichtkrull | 19.12.2019
Es weihnachtet sehr, auch in Greifswald – und besonders bei den moritz.medien. Mit dem advents.kalender geben wir Euch weihnachtliche Tipps, Tricks, Erfahrungsberichte, Rezepte uvm. für die Adventszeit. Öffnet jeden Tag ein Beitrags-“Türchen”! Im heutigen Türchen helfen Daniel, Pip und Lucy Charles dabei, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben.
Die vergangene Weihnacht
Der nächste Morgen
begrüßte Charles mit heftigen Kopfschmerzen. Die Matratze
unter ihm war weicher, als er es von Zuhause gewohnt war, und auch
die Bettdecke, die lose um seine Beine geschlungen war, fühlte sich
anders an. Was war in der letzten Nacht geschehen? Er hatte den Abend
im Pub verbracht, aber danach war alles verschwommen, ein Schlag
auf den Kopf, bunte Lichter, laute Musik … Vielleicht hatte Wilkie
ihn gefunden. Der Junge war oft morgens in den Straßen Londons
unterwegs, um von einem Schlafzimmer zum nächsten zu schleichen. Es
kam nicht selten vor, dass er dabei einem betrunkenen Charles
über den Weg lief und anstatt zu einer seiner Geliebten schließlich
zu seiner eigenen Wohnung zurückkehrte, seinen halb bewusstlosen
Freund im Schlepptau.
»Wilkie?«,
murmelte er in das Kissen hinein, das so riesig und dick war, dass
sein gesamter Kopf davon verschlungen wurde.
Niemand
antwortete. Aber er konnte Geräusche aus einem anderen Zimmer hören,
etwas klapperte und klirrte leise. Er spürte warmen Sonnenschein auf
seinem Gesicht. Ob Catherine sich wohl bereits Sorgen um ihn machte?
Er bezweifelte es.
»Wilkie!«
Dieses Mal war seine Stimme lauter gewesen, aber nicht unbedingt
kräftiger. Seine Kehle kratzte. Hatte er die ganze Nacht auf der
Straße in der Kälte verbracht?
Langsam
öffnete er die Augen. Das Sonnenlicht blendete ihn und als er zwei,
drei Mal müde blinzelte und der Raum um ihn herum Gestalt annahm,
bemerkte er die Eisblumen auf dem Fenster, die die Strahlen der Sonne
brachen und verstärkten.
Das
Fenster. Es schien nicht an der gleichen Stelle zu sein, an der es in
seiner Erinnerung gewesen war. Zwar hatte er schon lange nicht mehr
bei Wilkie übernachtet, aber konnte er in diesen Monaten seine
Wohnung so sehr umgestellt haben? Oder war er vielleicht gänzlich
umgezogen, von einem wütenden Ehegatten verfolgt, dessen Frau
der Junge wieder einmal bezirzt hatte? Wilkie hielt nicht viel von
solchen Konstrukten wie Liebe und Ehe. Humbug,
nannte er sie.
Ein
wenig beneidete Charles ihn um diese Einstellung.
Er
drehte sich auf den Rücken, stöhnte dabei vor Schmerzen. Sein
Körper fühlte sich ausgezehrt an, die Schultern waren verspannt,
der Kopf brummte wie ein ganzes Stahlwerk, und ihm war übel, so
übel, dass er sich am liebsten sofort umgedreht und erbrochen
hätte.
Charles
zwang sich zur Selbstbeherrschung. Er wollte Wilkies
Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, denn es war sicherlich
nicht das letzte Mal, dass dieser ihn von der Straße auflesen
musste. Und der Junge hatte Stil. So einen Ausbruch der
Übelkeitsgefühle würde er ihm niemals verzeihen.
Er
öffnete die Augen ganz, blinzelte hinauf zur Decke. Und stutzte. Ja,
Wilkie hatte Stil. Aber so viel Stil?
Charles
zumindest hatte die Decke nicht in einem gesättigten Orangeton
in Erinnerung. Auch die darauf gemalten Blumenornamente waren
ihm völlig fremd. Und noch viel seltsamer schien es ihm, dass
die Pinselstriche der Blumen an der Wand hinunter krochen und unten
in ein Meer aus krakeligen Kinderzeichnungen übergingen. Dazwischen
hingen winzige Porträts oder kolorierte Fotografien, eingefasst in
hölzerne Rahmen. Manche von ihnen zeigten zwei Männer, andere ein
junges Mädchen, auf wieder anderen waren alle drei gemeinsam
abgebildet.
Keiner
von ihnen war Wilkie.
Charles
schreckte hoch. Einen Moment lang sah er nur weiße Sterne vor
seinen Augen tanzen, dann konnte er langsam den Raum ausmachen. Das
war definitiv nicht Wilkies Wohnung. Und was immer er über den
Stil der hübsch bemalten Decke noch gedacht hatte, diese Möbel,
allesamt so schrecklich schlicht und glatt gehalten, machten diesen
Eindruck sofort wieder zunichte.
Auf
einem Stuhl zu seiner Seite – ein Stuhl mit nur einem einzigen
Bein, das sich unten in einen krakenartigen Fuß erstreckte –
lagen sein Mantel, seine Weste und seine Hose, alle säuberlich
gefaltet und gestapelt. Charles‘ Blick glitt an seinem Körper hinab.
Er trug nur noch sein Hemd und, nach dem was er unter der halb
zurückgeschlagenen Bettdecke ausmachen konnte, seine lange
Unterhose.
Er
war nicht bei Wilkie. Und man hatte ihn entkleidet! Am Ende war es
gar eine Frau gewesen, die ihn in solch einer Blöße, so einer
unanständigen Freizügigkeit gesehen hatte!
Charles
riss die Bettdecke gänzlich zurück und sprang aus dem Bett.
Innerhalb weniger Sekunden war er in seine Kleidung geschlüpft
und bereit aus dem Zimmer zu stürmen, zu flüchten wenn nötig.
Er
kam nur bis zum Flur. Durch die halb geöffnete Tür spähte er
in einen Licht durchfluteten Raum, der mit einem hohen Tisch und
einer Art Küche ausgestattet war. Ein junger Mann stand vor dem Ofen
an einem Herd – ein echter Herd, wenn Charles es richtig sehen
konnte. Von dem Mann konnte er nur kupferrotes Haar erkennen und
seinen schlanken, hoch gewachsenen Körper.
Erinnerungen
zischten wie Blitze durch sein Gedächtnis. Laute Musik. Der Geruch
von süßen Backwaren, auch jetzt lag er wieder in der Luft. Ein
helles Licht und ein riesiger Kasten, bunte grelle Lichter, heißer
Würzwein.
Der
Mann am Herd wandte sich um und lächelte. »Ah, du bist wach.« Er
gestikulierte mit einem riesigen Löffel auf den Tisch zu. »Setz
dich doch schon mal.«
Charles
bewegte sich nicht vom Fleck. Misstrauisch spähte er an dem Mann
vorbei auf die Pfanne, deren Griff er mit der linken Hand hielt. Ein
Stück Fisch zischte fröhlich darin vor sich her. Neben dem Herd auf
einem Küchentisch waren zwei große hölzerne Bretter aufgebaut, die
mit allerlei Gemüse, Käse und Fleisch belegt waren. In einem
kleinen Korb dampfte frisches Brot.
Der
Rothaarige bemerkte Charles‘ neugierigen Blick und sein Lachen wurde
breiter, zeigte große Schneidezähne und tiefe Grübchen. »Am
Sinterklaastag gourmetten wir gerne. Kostet zwar ein bisschen mehr,
aber Lucy liebt es.«
Lucy
…
Eine rote schwebende Kugel, auf magische Weise an einem Seil in der
Luft gehalten. Sinterklaas. Lucy
liebt Geschenke.
»Ich
hoffe, du hast gut geschlafen.« Der Rothaarige deutete mit dem
Kochlöffel in einen hinteren Teil des Raumes, in dem ein weiterer
niedriger Tisch und ein Sofa standen. »Daniel und ich haben uns
zusammen da rauf gequetscht. Aber du hast es kaum mehr die Treppe
hoch geschafft, weil du so dicht warst, und da wollten wir dir
wenigstens ein ordentliches Bett anbieten. Noch Kopfschmerzen?«
Ungläubig
betrachtete Charles das Sofa. Es schien kaum groß genug zu sein,
dass er allein bequem darauf Platz gefunden hätte. Sich
vorzustellen, dass zwei Männer, die er kaum kannte, sich diesen
winzigen Raum geteilt hatten, um ihm ihr Bett anzubieten, erfüllte
ihn mit Fassungslosigkeit und einer angenehm warmen Dankbarkeit.
Er
bemerkte, wie der andere ihn noch immer ansah und auf eine Antwort
wartete. Charles lächelte schwach. »Nur ein bisschen.«
Vorsichtig trat er nach vorne und an den Tisch heran, zog sich einen
der Stühle zurück und setzte sich darauf. »Pip war der Name,
richtig?«
Der
Rothaarige lachte und machte sich weiter daran, seinen Fisch zu
braten. »Eigentlich Philip. Aber Daniel hat mich so genannt, seit
wir uns das erste Mal getroffen haben. Er hatte große
Erwartungen an
mich, meinte er.« Der Mann lachte wieder und Charles merkte,
dass er wohl eine Art Witz gemacht haben musste. Der Witz ging nicht
ganz auf, stattdessen zog er nur fragend die Augenbrauen hoch.
Pip
blickte über die Schulter zurück und bemerkte seine Verwirrung. »Du
weißt schon, wegen dem Buch.«
»Buch?«
»Große
Erwartungen. Ist ein Klassiker.«
Charles
zuckte nur die Achseln als Antwort, was den Rothaarigen wieder
zum Lachen brachte. »Gestern Abend warst du noch gesprächiger. Da
hast du ganze Romane gequatscht.«
Charles
wurde hellhörig. »War etwas Brauchbares dabei?«
»Hm?«
»Ich
suche noch eine gute Geschichte für mein nächstes Buch. Aber mir
sind die Ideen ausgegangen.«
»Oh,
du schreibst also wirklich.« Pip zog die Mundwinkel hinab,
überrascht und beeindruckt. »Worüber denn?«
Wieder
zuckte Charles die Schultern. »Über das Leben.«
Pip
lachte. Er schmunzelte weiter, als er den Löffel beiseite legte und
den Fisch neben all den anderen Köstlichkeiten auf einem kleinen
Teller anrichtete. »Warum schreibst du nicht einfach über
Weihnachten? Das ist immer ein gutes Thema.«
Dieses
Mal war es an Charles zu lachen. »Was, über eine herrlich
langweilige Weihnachtsmesse vielleicht?«
»Quatsch.
Über das, was wirklich zählt zu Weihnachten.« Er nahm eines der
Bretter in die Hand und trug es zum Tisch hinüber.
»Freundschaft und Familie. Ein gemütliches Zuhause. Liebe. Das
ist doch das, was Weihnachten ausmacht.«
Charles
schnaubte verächtlich. »Nicht hier in England.«
»Auch
hier in England. Zumindest bei denen, die so viel Glück haben wie
wir.« Pip holte das zweite Brett und stellte es ordentlich neben das
erste. Er betrachtete es mit einem sanften Lächeln, dann hob er den
Blick und sah Charles aus aufrichtigen klaren Augen an. »Hab
ein Herz, das nie verhärtet, ein Gemüt, das nie ermüdet und
eine Berührung, die nie verletzt. Für einander da sein, das heißt
Weihnachten. Etwas für diejenigen tun, denen es nicht so gut geht.
Die letzten Pennies an eine Obdachlosenunterkunft spenden. Oder
einen Fremden von der Straße auflesen.« Er zwinkerte.
Charles
hatte noch nie von so einem Weihnachtsfest gehört. Mit Catherine und
den Kindern ging er in die Kirche, weil es von ihnen erwartet wurde,
mehr nicht. Manchmal las er den Kleinen von der Geburt Jesu vor, wenn
ihm danach war. Dann gingen sie zu Bett, standen am nächsten Morgen
wieder früh auf, verbrachten einen Tag wie jeden anderen. Er hatte
nie etwas gespendet oder den Weihnachtstag als einen besonderen
Tag der Familie betrachtet, und er kannte auch niemanden, der das
anders hielt.
»Daniel
holt gerade Lucy von der Schule ab, aber sie werden bald zurück
sein. Möchtest du mir dabei helfen, den Tisch und den Raum ein wenig
zu schmücken?« Pip ging vor einem kleinen Schrank in die Knie,
kramte darin herum und hielt dann eine große Kiste auf den Armen,
als er sich wieder aufrichtete. Sie war bis zum Rand gefüllt
mit Kerzen, Tannenzweigen, aus Stroh zusammengesteckten Sternen
und roten Tüchern. »Damit alles schön aussieht, wenn die
beiden ankommen. Wir erzählen Lucy dann immer, Sinterklaas
hätte das alles aufgebaut, als er die Geschenke gebracht hat.«
Die
nächsten Minuten verbrachten sie damit, den Raum herzurichten.
Nie zuvor hatte Charles Sterne an die Fenster gehangen oder
Zweige als Schmuck auf den Tisch gelegt, aber er befand, dass es
schön aussah. Warm und herzlich. Sie unterhielten sich ausgelassen,
während sie die gesamte Wohnung in sanftem Kerzenschein erstrahlen
ließen. Pip berichtete ihm davon, wie er als kleiner Junge mit
seinen Eltern Weihnachten gefeiert hatte und wie er diese Werte auch
jetzt noch pflegte, mit seiner eigenen kleinen Familie mit Lucy und
Daniel. Er erzählte viel von den beiden, von der starken Liebe, die
sie alle miteinander verband. Vom Weihnachtszauber, der ihm immer
wieder half, sich bewusst zu werden, wie glücklich er war.
Charles
lauschte interessiert. Es irritierte ihn ein wenig, dass ihn Berichte
über etwas Banales wie das Weihnachtsfest mehr inspirieren konnten
als tausende Kriegsgeschichten vom alten Shapney. Aber Pip ließ es
keinesfalls banal klingen, dieses Weihnachtsfest, sondern nach Wärme
und Liebe, nach Mitgefühl und Barmherzigkeit.
Die
Tür öffnete sich und brachte kalte Winterluft in die Wohnung. Ein
kleines Mädchen tapste hinein, eine Tasche auf dem Rücken, die fast
genauso groß schien wie sie selbst, das rote, geflochtene Haar
voller weißer Flocken. Ihre Augen weiteten sich vor Freude und
Kerzenschein spiegelte sich darin wider. Pip trat zu ihr heran, ging
vor ihr in die Knie und hauchte ihr einen Kuss auf die eiskalte
Stirn, dann richtete er sich wieder auf und schenkte auch Daniel
einen Kuss. »Happy Sinterklaas.«
Lucys
Begeisterung war wunderschön anzusehen. Ihre Aufregung wuchs
mit jedem der kleinen Geschenke, die sie von Pip überreicht bekam,
aber am meisten schien sie sich dennoch über die Kerzen und den
Weihnachtsschmuck zu freuen. Sie war ein aufgewecktes Mädchen, das
ununterbrochen redete und lachte. Sie redete weiter, während sie
aßen, erzählte, was sie den Tag über erlebt hatte, und ließ dabei
die alltäglichsten Kleinigkeiten klingen wie einen
Abenteuerroman.
Schließlich
verließ Pip das Zimmer und kam wenig später zurück, ein Buch in
der Hand. »Hier«, sagte er zu Charles. »Es ist jetzt nicht
eingepackt. Aber das ist für dich.«
Charles
nahm es entgegen und blickte auf den Einband hinunter. Es war in
rotes Leder eingeschlagen, auf dem mit goldener Farbe
verschlungene Linien und Buchstaben gezeichnet waren. Eine
Weihnachtsgeschichte. Charles Dickens.
Charles
stockte der Atem. Das war sein Name. Sein Name, aber eine Geschichte,
die er nicht geschrieben hatte. Hatte ein anderer Autor seinen Namen
benutzt? Oder konnte es sein …
Seine
Finger zitterten, als er vorsichtig die erste Seite aufschlug.
Chapman and
Hall, 1843.
Ihm wurde schwindelig.
Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, als würden die
Buchstaben wie flüssige Tinte ineinander laufen, dann schienen
sie die ganze Seite einzunehmen, während der Raum um ihm herum
dunkler wurde, als hätte man plötzlich ein gewaltiges Tuch über
ihn geworfen.
Das nächste, was er
spürte, war wie er fiel.
Und aufschlug. Kalter, harter Stein. Regentropfen auf seinem Gesicht, die in seine Haut einschnitten. Er hörte Stimmen, Männer, die sich anschrien, als sie miteinander stritten. Seine Augen öffneten sich nur mühsam, aber dann gelang es ihm. Es war dunkel. Nacht. Über ihm ragten die Londoner Fassaden in den Himmel auf.
Ein Gesicht schob sich
in sein Blickfeld, das zur Hälfte von einem grauen Bart bedeckt
wurde, und zur anderen von dunklen Schatten, die ein hoch
aufragender Zylinder warf. »’tschuldigung,
Sir.« Der Man hob seine Hand, um damit herum zu fuchteln. Seine
Finger hielten eine Glasflasche umklammert. Cola.
»Ich
habe gerade in meinem Zimmer an einem neuen Konzept gearbeitet,
als dieses dämliche Vieh durchs Fenster gesprungen ist.«
Charles
stützte die Handflächen auf den nassen Boden und drückte sich auf.
Seine Fingerspitzen berührten etwas und er wandte den Blick hinab.
»Diese
Katze hat einfach meine neueste Erfindung gepackt und ist damit davon
gesprungen«, fuhr der Mann unbeirrt fort. »Ist einfach raus aus dem
Fenster und über die Dächer damit.«
Charles
hörte ihn nicht mehr. In einer größer werdenden Pfütze aus
Regenwasser lag ein Buch mit rotem Ledereinband, dessen Seiten
langsam begannen, sich zu wellen von der Nässe. Goldene
verschlungene Linien, die ein Netz aus Blättern formten, aber
dort, wo zuvor der Titel und sein Name gestanden hatten, war
jetzt nichts als Leere.
Aber
er wusste ohnehin, was dort zu stehen hatte.
»Konnte
ja nicht ahnen, dass sie die Flasche einfach auf Ihren Kopf fallen
lässt. Geht es Ihnen denn gut, Sir? Das blutet ja nun doch ein
wenig.«
Charles
kümmerte sich nicht darum. Er lachte nur, so laut, dass es durch die
nächtliche Londoner Stille schallte.
»Gibt
es ein größeres Geschenk als die Liebe einer Katze?«
»Sir?«
Charles
schnappte sich das Buch und sprang auf die Beine. Ein bisschen
schwindelte ihm noch, vielleicht von dem Sturz. Wie die drei wohl
geguckt haben mochten, als er vor ihnen vom Stuhl gefallen und
verschwunden war?
Er
wandte sich zu dem Mann um, schenkte ihm ein dankbares Lächeln
und ein Nicken. »Sie haben da etwas Großartiges erfunden, mein
Freund!«,
stieß er aus, etwas atemlos vor Begeisterung. Er musste nach
Hause, auf der Stelle, er musste eine Geschichte schreiben, voller
Liebe und Barmherzigkeit und all der wunderbaren Weihnachtsdinge,
eine Weihnachtsgeschichte.
Charles
sah hinab auf die Flasche des Mannes und nickte noch einmal. »Aber
ich würde eine weiß-rote Farbgebung vorschlagen. Das passt
doch etwas besser zu Weihnachten als dieses schlichte Weiß, finden
Sie nicht?«
»’tschuldigung?«
»Happy
Sinterklaas!«
Und er stürmte davon. Weiße Schneeflocken in rotem Haar. Eine
rote schwebende Kugel an weißem Seil. Weiße Kerzen auf rotem Band.
Ein roter Einband und weiße Seiten, die er füllen würde.
Lucy
liebt Geschenke. Und sie liebt es zu singen und zu basteln. Und sie
liebt Geschichten.
Er würde ihr eine Geschichte schreiben. Eine Geschichte der Zukunft und der Vergangenheit, und vor allem der Gegenwart. Eine Geschichte des Glücks und der Liebe. Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben konnte.
Beitragsbild: Till Junker
bearbeitet von: Anne Frieda Müller
von Lilli Lipka | 18.12.2019
Kennt ihr das, wenn man mal was Neues ausprobieren will, aber am Ende alles beim Alten bleibt? Uns jedenfalls kommt das sehr bekannt vor, deswegen haben wir uns für euch auf einen Selbstoptimierungstrip begeben. In dieser Kolumne stellen wir uns sieben Tage als Testobjekte zur Verfügung. Wir versuchen für euch mit unseren alten Gewohnheiten zu brechen, neue Routinen zu entwickeln und andere Lebensstile auszuprobieren. Ob wir die Challenges meistern oder kläglich scheitern, erfahrt ihr hier.
Dieses Mal nehme ich mir vor, sieben Tage „kind“ zu sein. Kindness heißt so viel wie Güte, Liebenswürdigkeit, Gefallen, Nettigkeit. Eine Woche lang „nett“ zu sein, sollte eigentlich keine Challenge, sondern ganz normal sein: Jemandem die Tür aufhalten, kleine Gesten an Freunde und Freundinnen oder Fremden ein Lächeln schenken. Ein bisschen Selbstlosigkeit, ein bisschen Freundlichkeit. Eigentlich doch selbstverständlich, oder? Trotzdem möchte ich versuchen, eine Woche lang besonders freundlich zu sein. So schwer wird das doch nicht sein und ich bin gespannt, ob mir positives Feedback auffallen wird.
Montag
Meine freundliche Woche startet mit Blut spenden. Eine einfache Methode, etwas Gutes zu tun. Man bekommt zwar kein direktes Feedback von den Empfänger*innen, aber Blut wird hier immer gebraucht. Die Krankenschwester betont: „Danke, dass Sie da waren“. Nach einer Dreiviertelstunde gehe ich also mit einem guten Gefühl aus dem Krankenhaus. Für die Woche habe ich mir auch vorgenommen, mehr Komplimente zu machen. Dabei will ich aber ehrlich sein und nicht zwanghaft Honig ums Maul schmieren. Oft denke ich etwas Nettes oder irgendwas fällt mir positiv auf, selten spreche ich das dann aber an. Wir alle freuen uns doch über Komplimente, wieso machen wir so selten welche? Ich schenke einer Freundin also eine liebe Bemerkung über ihr Outfit, sie reagiert daraufhin aber etwas verhalten. Vielleicht ist sie es nicht gewohnt und weiß gar nicht, wie sie damit umgehen soll?
Dienstag
Heute nehme ich mir vor, einer fremden Person ein Kompliment zu machen. Als mir also der Stil eines Mädchens in der Mensa gut gefällt, gehe ich zu ihr und sage ihr das. Sie reagiert etwas überfordert, beinahe eingeschüchtert, und irgendwie nicht besonders erfreut. Na klar, ich wäre an ihrer Stelle wahrscheinlich auch völlig überrumpelt und würde vielleicht nach versteckten Kameras gucken. Ich hoffe aber, dass sie sich insgeheim doch gefreut hat. Nach diesem Adrenalinkick brauche ich erst einmal eine Pause vom Komplimente-an-Fremde-verteilen. Ich bin trotzdem weiterhin großzügig mit netten Worten an Freund*innen. Außerdem konzentriere ich mich darauf, an meinem Resting-Bitch-Face zu arbeiten und unbekannte Passant*innen einfach mal anzulächeln. Und – oh Wunder – sehr viele lächeln einfach zurück!
Mittwoch
Ich fahre extra mit dem Auto einkaufen (nicht besonders „kind“ für die Umwelt, ich weiß …), weil mein studierender Nachbar angefragt hat, ob ich nicht demnächst mal seine Bierkästen mitnehmen könne. Klar, ich bin doch jetzt besonders freundlich und freue mich über diese Gelegenheit (natürlich hätte ich das sonst auch gemacht). Außerdem bin ich heute besonders nett zu den Mitarbeitenden im Edeka, sodass mehrere Gespräche entstehen. Vielleicht sind solche Momente ja auch ein kleiner Lichtblick zwischen Tiefkühltruhe und Fleischtheke für die Mitarbeitenden. Außerdem bin ich so „kind“ und bringe meiner Mitbewohnerin aus heiterem Himmel ihre Lieblingschips mit – ich glaube, sie freut sich sehr darüber.
Donnerstag
Den Tag beginne ich wieder damit, einer älteren Dame
zuzulächeln, die sich sichtlich darüber freut. Klingt kitschig, aber ist irgendwie
toll, wie man mit einer Geste einer anderen Person und auch einem selbst den
Tag verschönern kann. Außerdem schicke ich meinen Eltern „einfach so“ online
Blumen nach Hause. Eine kleine Aufmerksamkeit, über die sie sich hoffentlich
noch die nächsten Tage freuen werden. Zusätzlich übernehme ich bewusst mehr
Kleinigkeiten im Haushalt der WG und hänge die Wäsche meiner Mitbewohnerin auf (was
am Ende zwar ein bisschen mehr Arbeit, aber eine nett gestimmte Mitbewohnerin bedeutet).
Freitag
Natürlich kann man in so einer Selbstexperiment-Woche nicht erzwingen, dass plötzlich eine Oma auftaucht, der man die Einkäufe nach Hause bringen oder über die Straße helfen kann. Trotzdem versuche ich, auch solche Gesten irgendwie vermehrt in meinen Alltag zu integrieren. So achte ich beispielsweise gezielt darauf, Menschen vorzulassen oder so viele Türen wie möglich aufzuhalten. Zwar ist das nicht immer nötig, aber ich ernte dafür oft ein Lächeln oder ein erfreutes „Danke“. Zwischen all den positiven Eindrücken und Rückmeldungen mache ich am Abend doch eine kleine negative Erfahrung: Ich werde von einem jungen Mann, der mir schon bekannt war, um Geld für den Bus gebeten. Ich gehe nicht wie sonst üblich ignorant vorbei, sondern gebe ihm die zwei Euro. Irgendwie fühle ich mich danach aber schlechter und ein bisschen ausgenutzt, weil ich dafür weder ein „Danke“ noch ein Lächeln bekommen habe. Trotzdem soll mich sowas nicht abschrecken, denn dass nicht alle sofort nett reagieren, nur weil man es selbst ist, gehört wohl auch dazu.
Samstag
Ich habe, freundlich wie eh und je, einen Kuchen für meine
Mitbewohnerin und mich gebacken. Aber ausnahmsweise wurde dieses Mal bei den
Nachbar*innen geklingelt und geteilt. Außerdem mache ich seit meiner Kindheit
das erste Mal wieder bei „Weihnachten im Schuhkarton“ mit. Ein Projekt, bei dem
man einen Schuhkarton mit Spielzeugen, Kleidung und Süßigkeiten für ein Kind
aus einer armen Region zu Weihnachten packt. Es macht so viel Spaß, die Kiste
zu packen und sich auszumalen, wie sich ein fremdes Kind über die Geschenke
freut.
Sonntag
Mit einer Freundin lasse ich die sieben Tage „Kindness“ ausklingen, indem wir Müll auf der Straße sammeln gehen. Ich dachte, das wäre in Greifswald schwer, aber ich werde enttäuscht. Nach 20 Minuten müssen wir schon wieder umkehren, weil wir die zwei, mit dem buntesten Abfall und prall gefüllten Mülltüten kaum noch tragen können. Es liegt einfach so viel rücksichtslos Weggeschmissenes herum. Beim Sammeln wurden wir außerdem komisch von den Passant*innen beäugt – warum denn? Das ist doch eine gute Tat, warum wird uns nicht mehr Dankbarkeit entgegengebracht? Und weil ich weiß, dass auf den Greifswalder Straßen und Wiesen noch so viel Müll liegt, bin ich motiviert, auch nach dieser Woche weiterzusammeln.
Das Fazit
Sowieso hat mir diese Woche gezeigt, dass „nett“ sein nicht schwer ist. Ich bin zwar schon vorher davon ausgegangen, recht nett zu sein, aber noch genauer darauf zu achten hat ein größeres Bewusstsein geschaffen und mir gezeigt: Da geht noch mehr! Ich versuche in Zukunft noch großzügiger mit netten und aufmerksamen Worten zu sein und vielleicht traue ich mich auch öfter, Fremden ein Kompliment zu machen. Ich möchte mehr Menschen anlächeln und häufiger Türen aufhalten. Es muss nicht immer materiell sein, aber Freund*innen öfter eine kleine Aufmerksamkeit zu machen, nehme ich mir auch vor. Denn (Achtung, Kitschalarm): Das Lächeln, dass du aussendest, kehrt zu dir zurück. Oder so ähnlich. Also, probiert doch mal aus, noch freundlicher zu sein – so schlimm ist es nicht.
Beitragsbild: Lilli Lipka
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