Am Fuße des Leuchtturms

Arbeitende Studenten in Greifswald

Lange Strasse, in Höhe des „Stahlwerks“. Es ist kurz vor zehn Uhr abends und der Wind zieht wie gewohnt kalt durch die Stadt. Ein Student betritt das Haus mit der Nummer 10, er ist auf dem Weg zur Arbeit. Er wird in acht Stunden Dienst über teilweise psychisch kranke Menschen wachen, die dort versuchen, eigenständig zu wohnen. Sein Lohn am Ende der Schicht: knapp 20 Euro.

Micha* (Name von der Redaktion geändert) bekommt die erste Stunde mit fünf Euro bezahlt. In dieser soll er Rundgänge machen. Der Rest der Zeit ist als „Bereitschaftszeit“ vereinbart und wird mit 40 Prozent vom Grundlohn bezahlt. Das Bundesarbeitsgereicht befand Vergütungen für Bereitschaftsdienste in Höhe von 68 Prozent für angemessen, weniger sei sittenwidrig. „Mein Studium lässt mir nicht mehr Zeit, ich muss nachts arbeiten“, antwortet Micha auf die Frage, warum er hier arbeiten geht. Einen schriftlichen Arbeitsvertrag hat er nicht.
Oft muss er sich länger kümmern, bis die Bereitschaftszeit beginnt. Diese verbringt er in einem kleinen Raum mit Waschbecken und einer Liege. Voll bezahlt wird trotzdem nur die erste Stunde, auch wenn er erst um drei Uhr zur Ruhe kommt. Das Arbeitsgericht in Frankfurt am Main entschied, dass Bereitschaftszeiten wie Arbeitszeiten zu vergüten sind, wenn sich der Beschäftigte dauerhaft am Dienstort aufhalten muss. Aber wir sind nicht in Frankfurt am Main.

Leben neben dem Studium

Wir sind in Greifswald am Ryck und in der Langen Strasse 10 steht das Haus „Rycksicht“ der IBW:  „Intensiv betreutes Wohnen“. Es wird von der Johanna-Odebrecht-Stiftung betrieben. Vorsteherin und Pastorin Ingelore Ehricht bezeichnet die Einrichtung auf der Internetseite als „weit über Greifswald hinaus geschätzte Einrichtung der Sozial- und Bildungsarbeit.“ Zur Situation im Haus „Rycksicht“ wollte sie dem moritz gegenüber keine Stellung nehmen. Das Unternehmen ist Spitzenreiter unter den örtlichen Niedriglohnanbietern. Anlass für moritz, sich die Jobsituation für Studenten in der Hansestadt einmal näher anzuschauen.

Jedem Student stellt sich spätestens zu Beginn seines Studiums die Frage, wie er dieses bezahlen soll. BAföG oder das Geld von den Eltern reichen meist für Wohnung und Lebensmittel, manchmal nicht einmal dafür. Greifswald, am nordöstlichsten Zipfel der Bundesrepublik gelegen, befindet sich traditionell am untersten Pegel des Lohnniveaus. Ein schlechtes Pflaster, um reich zu werden – vor allem vor dem Studienende.

Die Arbeitslosenquote in Greifswald betrug im November 2007 etwa 15 Prozent, rund 20 Prozent sind es landesweit. Oberbürgermeister Arthur König (CDU) freute sich über den großen Sprung, den die Stadt nach der Prognos-Studie 2007 machen konnte: 224 Plätze nach oben, woraufhin er in Greifswald den Leuchtturm des Nordens ausmachte. Im moritz-Interview (Ausgabe 64) gab er damals zu: „Die Universität ist die wesentliche Lebensader für die Stadt und die Region.“ Doch die Stadt sollte auch eine Lebensader für die Mitglieder der Universität sein. Rund 11.500 Studenten, bei einer ohnehin hohen Arbeitslosenquote, führen im von Industrie wenig besiedelten Mecklenburg-Vorpommern zu einem schwierigen Markt. Aber viele müssen hier ihr Auskommen finden.

Die gute Nachricht

Noch weniger Geld zum Leben haben die angehenden Akademiker in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die 18. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks ergab, dass sich M-V mit durchschnittlich 690 Euro verfügbarem Einkommen je Student (bestehend aus BAföG, elterlicher Unterstützung und Nebenjobs) auf dem viertletzten Platz der Bundesländer befindet. Nur in Berlin (zweiter Platz) bekommen die meisten deutlich mehr. Damit liegt M-V 80 Euro unter dem Bundesdurchschnitt und fast 200 Euro unter dem deutschen Spitzenreiter Hamburg (868 Euro). Arbeitsbedingtes Pendeln in das „nahe“ Berlin oder Hamburg gehört für viele Studenten zum Alltag.

Die schlechte Nachricht

Die Zustimmung bei der Einschätzung einer gesicherten Finanzsituation sank bei „trifft völlig zu“ seit dem Jahr 2000 um sieben Punkte auf 34 Prozent. Micha fasst seine Lage in konkrete Zahlen: „Nach Abzug der Kosten für Wohnung und Versicherungen habe ich noch knapp 100 Euro für Lebensmittel und Kleidung.“

Laut Allgemeinem Studentenausschuss (AStA) hat die Hansestadt das dritthöchste Mietniveau der ostdeutschen Hochschulstandorte. Bei den Ausgaben für die Miete liegen Greifswalder Studenten aber lediglich auf dem 47. Platz von 54 berücksichtigten Standorten. Es ist wohl nicht mehr Geld da. Außerdem stiegen laut Angaben des statistischen Bundesamtes seit 2005 die Lebensmittelpreise um zwölf Prozent. Weitere vier Jahre zuvor fand die letzte BAföG-Erhöhung statt. Sie steht den Studenten erst wieder in diesem Herbst bevor. Der Höchstsatz steigt nach sieben Jahren um knapp zehn Prozent. Das scheint wenig, ist es auch.

Saftschubsen, Caller, Hiwis

Es gibt zwei große Gruppen arbeitender Studenten: Diejenigen, die müssen und diejenigen, die wollen. Erstere sind mit 42 Prozent, letztere mit 39 Prozent repräsentiert – im Bundesdurchschnitt. Daneben existieren als Motive die Unabhängigkeit von den Eltern, Praxiserfahrung und postgraduale Kontakte.

Bei der studentischen Erwerbstätigenquote liegt M-V auf dem letzten Platz. Dank der von den Wirtschaftswissenschaftlern beschworenen „unsichtbaren Hand des Marktes“ finden sich aber auch in Greifswald trotzdem Möglichkeiten, Geld zu verdienen.

In der norddeutschen Stadt, mit seinen mittlerweile über 100 Restaurants, Bars und Kneipen, sind viele Studenten in der Gastronomie beschäftigt. Dieser Teil des für Studenten relevanten Arbeitsmarktes reicht vom Pizza-Service bis zu den gehobenen Hotels der Stadt. Ebenso groß sind die Unterschiede im Einkommen. Angefangen bei 3,60 Euro pro Stunde, findet sich der Großteil bei Stundensätzen um die 5 Euro entlohnt, teilweise zusätzlich um eine Umsatzbeteiligung oder das Trinkgeld bereichert. Vereinzelt werden auch mehr als 7 Euro gezahlt, vor allem dort, wo besondere Qualifikationen erforderlich sind. Oder wenn, was auch eher selten passiert, nach Tarif bezahlt wird. Mancher Arbeitgeber zahlt sogar Nachtzuschlag und Urlaubsgeld. McDonalds bietet kein billiges Essen, aber 100 Prozent Feiertagszuschlag. Cinestar-Mitarbeiter dürfen außerhalb der Arbeitszeit kostenlos Filme schauen. Student Iven Olak sagt dazu: „Für mich ist das nicht entscheidend, ich war seit letztem Juli erst einmal im Kino. Aber die Arbeitsatmosphäre ist sehr gut.“ Sein Chef René Römer erklärt die Lage so: „Die Filme bringen dem Kino bei diesen hohen Mieten keinen Gewinn. Geld verdienen wir mit Popcorn und Getränken.“ Doch wer kauft noch Popcorn und Getränke, bei diesen Eintrittspreisen? Es ist ein bisschen kompliziert.

Die Gastronomie in Greifswald hat insgesamt keine große Lohnentwicklung durchgemacht: Die Löhne sind seit Jahren konstant, bei ständig steigenden Preisen. Ex-Studentin Tanja Rönsch ging vor rund 15 Jahren für 10 Mark pro Stunde kellnern (siehe Interview). Andererseits ist gerade die Gastronomie stark an die regionale Wirtschaftskraft gebunden. Und auch der gutwilligste Wirt kann nur soviel Geld zahlen, wie ihm seine Kunden bringen. Nicht zuletzt sind Studenten aus anderen Städten häufig nicht wenig erstaunt über die niedrigen Cocktailpreise. Größer ist meist nur noch das Erstaunen über den geringen Verdienst.

Alternativen zum Tablett

Neben der Gastronomie sind die Uni und das Call-Center „Wittcall“ die größten Arbeitgeber für Studenten, mit je rund 450 Beschäftigten. Während sich an der Uni Beschäftigte über eine hohe Bezahlung freuen können, lauert hier das Manko woanders. Nur wenige kommen auf die maximal möglichen 400 Euro. „In der Regel sind es Verträge über 20 Stunden, das hängt vom Professor ab“, berichtet Thomas Lange von der Personalabteilung für studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte der Universität. „Manche geben auch 40 Stunden oder in Ausnahmefällen 80 Stunden. Normalerweise sind es ungefähr 20 bis 25 Stunden“, fügt Lange hinzu.

Wittcall macht mehr möglich, erfordert aber auch einen hohen Einsatz. Wer auf 400 Euro kommen möchte, muss an vier Tagen in jeder Woche professionelle statt privater Telefongespräche führen. Zusätzlich sind die Call-Center-Agents an zwei Sonnabenden im Monat arbeitspflichtig. Gut dran ist, wer sich über wenige Pflichtveranstaltungen freuen kann.

Sie sind überall

Daneben finden sich studentische Angestellte in fast jedem Bereich. Videotheken, Einzelhandel, produzierende Firmen und Verbrauchergroßmärkte bevorzugen Arbeitskräfte mit hoher Arbeitsmotivation, geistiger Flexibilität, guten Umgangsformen und der Fähigkeit, die Grundrechenformen auch noch Jahre nach ihrem Abitur anzuwenden. Insbesondere angehende Juristen und Betriebswirte können sich oft bei Rechtsanwälten und Steuerberatern verdingen. Diese  greifen gern auf qualifizierte Kräfte zurück, die dabei auch noch „günstig“ sind: 10 Euro pro Stunde sind hier möglich. Soviel bekommen in anderen Bundesländern Werksstudenten am Fließband. Noch.

Über Deutschland hinaus

Bekannt geworden ist die französischen Studentin Laura D., die in Ihrem Buch „Mein teures Studium“ erzählte, wie sie ihr Studium mittels Prostitution finanzieren musste. Ein französischer Minister warnte vor einem „studentischen Proletariat“, in dem laut französischem Studentenverband SUD-Etudiant rund 40.000 Studentinnen ihr Studium durch Prostitution bestreiten. Ursache für die Lage: Den deutschen Verhältnissen ähnliche Kosten bei  geringerer staatlicher Unterstützung. Studentische Prostitution gibt es auch hier, wie der Uni-SPIEGEL im Januar berichtete.

Was übrig bleibt

Am Ende steht die Erkenntnis, dass es schlechter sein könnte. Wenn auch nicht viel. Aber bei der Frage nach gerechtem Lohn und bei allem sozialen Wollen erschiene es doch paradox, wenn Studenten deutlich mehr verdienten als entsprechend qualifizierte Fachkräfte.

So trifft ein knappes Budget oft besonders die Studenten, die auf ihren Job angewiesen sind. Bei fehlendem Finanzpolster werden auch schlecht bezahlte Stellen schnell angenommen. Schlecht bezahlte Jobs führen zu geringen Rücklagen und die Notwendigkeit, demnächst wieder eine schlecht bezahlte Stelle annehmen zu müssen, bleibt oder wächst. Außerdem erzeugt dieser Kreislauf persönliche und volkswirtschaftliche Mehrkosten durch ein verlängertes Studium. Fünf bis sechs Euro sollten bei den meisten Jobs in Greifswald drin sein. Wo es weniger ist, kann man  hinschauen, nachfragen und berichten. Denn jeder Student ist Konsument. Ob in Hinblick auf unser Budget oder lohnpolitisch: Im bewussten Konsum liegt wohl unsere größte Macht.

Geschrieben von Arik Platzek

„Wir sind genetisch so gestrickt“

Europaparlamentarier zu Tri-Nationalitäten und Energielücken

Für seine Doktorarbeit las Professor Alfred Gomolka (CDU) russische Fachliteratur. Heute versteht er noch genug, um Fehler bei Dolmetschern zu erkennen. Für seinen Einzug in das Europaparlament 1994 besuchte er einen Auffrischungskurs in Englisch. Seitdem pendelt der 66-Jährige zwischen Brüssel, Straßburg und seinem Wahlkreis Greifswald hin und her. moritz wollte wissen, was er außerdem macht.

moritz: Professor Gomolka, wie viel Geld haben Sie von Wilhelm Schelsky für Ihren Wahlkampf erhalten?
Professor Alfred Gomolka: Ich habe Wilhelm Schelsky erst vor knapp einem Jahr kennen gelernt. Bis dahin hatte ich weder eine Vorstellung von der Person, noch von den Aufgaben, die er wahrgenommen hat.

moritz: Sie sind Gegner des Steinkohlekraftwerkes und nehmen damit in der CDU, neben dem Kreisverband Rügen, eine Sonderposition ein. Warum?
Gomolka: Mir erscheint die Argumentation nicht schlüssig. Auf der einen Seite diskutieren wir über den Klimawandel und eine CO2-Reduzierung, andererseits würde der Bau eines Kohlekraftwerkes den CO2-Wert zwangsläufig regional erhöhen. Doch wir steuern auch auf eine Energielücke zu. Nüchtern betrachtet ist dort Kernenergie eine Alternative. Viele Einwände sind zwar ideologisch begründet, doch sachlich nicht recht haltbar. So könnten wir die Situation entkrampfen.

moritz: Was wäre eine Alternative für Lubmin?
Gomolka: Gaskraftwerke haben erheblich weniger Ausstoß. Die Kühlkapazität muss im Standortverfahren mehr Beachtung finden. Denn hier könnte eine Limitierung erreicht werden. Ein Kohlekraftwerk und zwei Gaskraftwerke bedeuten Kühlkapazitäten in einer Größenordnung, die sicherlich ans Limit gehen, wenn nicht darüber. Da der Gaspreis aber an den Erdölpreis gebunden ist und klettert, scheint das Kohlekraftwerk kurzfristig attraktiv. Der Preis ist niedrig und die CO2-Emission sei lokal verkraftbar, sagt unsere Kanzlerin.

moritz: Es scheint, als sei das Kraftwerk politisch gewollt. Werden die Verfahren nur der Form halber geführt und ist die Entscheidung nicht schon gefallen?
Gomolka: Eine Vorentscheidung erfolgte sicherlich, als politische Willensbekundung. Doch jetzt folgt die Phase, wo knochentrocken abgearbeitet wird und geltend gemachte Einwände abgewiesen oder anerkannt werden. So ein Verfahren hat schon Eigendynamik. Ich rechne damit, dass  Gefährdungspotentiale und Kühlwassernutzung noch eine Rolle spielen werden.

moritz: Befürworter bringen vor allem die Baukosten von zwei Milliarden Euro, die hier umgesetzt werden, sowie die 150 bis 200 entstehenden Arbeitsplätze an.
Gomolka: Das ist teilweise zu optimistisch gesehen. Die wichtigsten Komponenten jedes Kraftwerkes kommen von bestimmten Produzenten. Es soll keiner glauben, dass die Kesselanlagen hier im Lande entstünden. Was die Arbeitsplätze betrifft, gehen die Schätzungen ein bisschen auseinander. Ein modernes Kohlekraftwerk dieser Größenordnung hat etwa 80 Beschäftigte im Schichtdienst.

moritz: Haben Sie bei der Unterschriftenaktion der Bürgerinitiative mitgemacht, um die Debatte wieder in den politischen Prozess zu führen?
Gomolka: Ich unterstütze die Initiative durchaus. Ich habe allerdings nicht unterschrieben, was nicht am Anliegen, sondern an der Begründung auf der Rückseite lag. Diese kann ich nicht voll mit tragen, insbesondere im Hinblick auf die fehlende Aussage zur Kernenergie. Das ist für mich ein schwer verzichtbarer Bestandteil einer Energieversorgungsstrategie.

moritz: Die Bürgerinitiative hat 32.000 Unterschriften an die Landtagspräsidentin eingereicht. Glauben Sie, dass sich der Landtag dadurch anders entscheiden wird?
Gomolka: Die Stimmung in der CDU ist relativ klar. Mit dem Abstand zum Standort des Kraftwerkes wächst außerdem das Desinteresse. Beim führenden Koalitionspartner gibt es konträre Meinungen, die mehr oder weniger von politischen Egoismen geprägt sind.

moritz: Inwieweit verfolgen Sie ansonsten die Landespolitik?
Gomolka: Doch sehr. Ich sehe mich in Brüssel als Vertreter des Landes und nicht in erster Linie von parteilichen Interessen geleitet. In der Hinsicht sind mein SPD-Kollege Heinz Kindermann und ich einer Meinung. Wir sehen uns fast jeden zweiten Flug und tauschen uns regelmäßig aus.

moritz: Die Zielvereinbarung zwischen Uni und Land steht 2010 wieder an. Finanzmittel gibt es vom Land nur als Inflationsausgleich. Wissenschaft und Forschung brauchen Zeit. Sollten die Landespolitiker nicht weiter als bis zur nächsten Wahl denken und mehr investieren?
Gomolka: Es gibt einen schönen Spruch einer proletarischen Mutter, die mit ihrem Sohn einen Anzug kaufen geht. Der Sohn steuert auf das Billigangebot zu und die Mutter meint: „Nein so etwas Billiges können wir nicht kaufen, dafür sind wir zu arm.“ Es sollte der Mut vorhanden sein, um auch mit der Finanzierung Prioritäten zu setzen.

moritz: Was wäre eine solche Priorität für Sie?
Gomolka: Schwerpunkte sind für mich ausgewählte Gebiete der Energietechnik. Außerdem sollten Bereiche unterstützt werden, in denen wir bereits einen international bedeutenden Stand erreicht haben, wie die Mikrobiologie.

moritz: Die Universität besteht größtenteils aus Studenten, die ihre Ausbildung an der Philosophischen Fakultät genießen. Welchen Mehrwert bringen sie der Gesellschaft gegenüber einem Naturwissenschaftler?
Gomolka: Zumindest können sie ein Leben lang für die Universität Reklame laufen und damit einen langfristigen Effekt bewirken.

moritz: Die Europäische Union (EU) hat inzwischen 27 Mitglieder. Wo sind die Grenzen der EU?
Gomolka: 1994 herrschte noch die Meinung vor, zuerst die Beziehungen zwischen den Mitgliedern aus zu gestalten. Ich war vehement dagegen, weil so jeder die Erweiterung hätte blockieren können, was zu einer politischen Grauzone geführt hätte. Glücklicherweise kam es anders. Jetzt sind wir an dem Punkt, wo es für mich zwingend erforderlich ist, die Vertiefung voran zu bringen.  Es heißt, die Erweiterung zurück zu fahren und stattdessen verstärkten Wert auf die Beziehungen zwischen den Partnern legen. Wenn das nicht passiert, sehe ich eine riesige Gefahr, die sich auch in den Europawahlen äußert: Die Bürger sind überfordert.

moritz: Verkauft der Parlamentarier seine Arbeit nicht richtig?
Gomolka: Mir hat sich eine Grafik eingeprägt. Dargestellt war die schematische Interessenlage der Menschen. Eine Raumachse, eine Zeitachse und in der Nähe des Nullpunktes war eine dichte Punktwolke, die nach außen ganz stark ausdünnte. Den Durchschnittsbürger interessiert nur das, was kleinräumig und kurzfristig orientiert ist. Sie interessieren sich zu 80 bis 90 Prozent was heute Abend passiert, was morgen getan werden muss …

moritz: … wie wir das Interview fertig bekommen …
Gomolka: Genau. Das ist doch logisch. Sie interessieren sich für Greifswald, Ihre Universität, auch noch für das Land, wenn es kritisch wird. Wir sind genetisch so gestrickt.

moritz: Wenn wir schon beim Menschen sind. Wir sind es gewohnt in Nationen zu denken, nicht supranational. Kann das geändert werden?
Gomolka: Wir müssen einfach hinnehmen, dass sich mit der EU und ihren großartigen Gedanken keine Bäume ausreißen lassen. Das interessiert die Leute nur selten. Deshalb brauchen wir eine direkte Verbindung zwischen der EU und den Regionen. Das ist für den einzelnen Bürger noch überschaubar. Die Euroregion Pomerania ist für Polen, Deutsche und Dänen ein Begriff. Wir müssen ganz gezielt mehr Wert auf die Regionalpolitik legen, denn diese wächst am schnellsten, auch finanziell.

moritz: Es heißt nicht umsonst Europa der Regionen.
Gomolka: Ich würde es auch nicht ein Europa der Nationen nennen wollen. Weshalb sollen wir nicht eine neue regionale Identität bekommen? Dann wären wir Tri-National, ein deutscher Pommer und ein polnischer Pommer. Das ist noch Zukunftsmusik.

moritz: Wie werden Landesinteressen in Brüssel umgesetzt?
Gomolka: Durch Unterstützung wichtig scheinender und konkreter Projekte. Ich übe zwei wichtige Nebentätigkeiten aus: Ich bin Briefträger und Türöffner. Ein Anliegen nehme ich entgegen, leite es an die richtige Stelle weiter und erlaube mir ab und zu nachzufragen.

moritz: Lässt sich die Europaidee mit den Anschauungen extremer Parteien vereinen?
Gomolka: Da wird man ziemlich gelassen. Wenn Nationalisten mit ihren Fähnchen wedeln, weiß man welche Aussage dahinter steckt. Ein paar Idioten gibt es immer.

moritz: Verfolgen Sie was die NPD im Schweriner Landtag macht?
Gomolka: Nein, da bin ich nicht scharf drauf. Ich kenne die Typen aus dem Europäischen Parlament.

moritz: Im nächsten Jahr läuft Ihre Amtszeit ab, dann werden Sie in Rente gehen. Sie sind der erste Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, Europaparlamentarier und haben an der Universität promoviert und habilitiert.
Gomolka: Dafür habe ich einen Entlassungsbrief ohne Unterschrift von der Personalabteilung bekommen: „Ist maschinell erstellt.“. Das war es dann. Nur drei Bücher wurden mir noch angemahnt, die ich entliehen hatte.

moritz: Haben Sie die Bücher zurück gegeben?
Gomolka: Ich habe sie nicht gefunden. Wenn ich sie finde, gebe ich sie zurück.

Geschrieben von Björn Buß und Maria Trixa

„Das kann ich“

Selbstständigkeit während des Studiums

Tanja Rönsch hat ihr Studium vor kurzem mit einer Diplomarbeit abgeschlossen. Seit 13 Jahren betreibt die Greifswalderin eine Partnervermittlung und Lebensberatung.

moritz: Wie kommt man auf die Idee?
Rönsch: Nach sieben Semestern Zahnmedizin habe ich mich damals entschlossen, das Studium zu wechseln und Psychologie zu studieren. Meine Eltern waren nicht glücklich damit und so war ich von einem Moment auf den anderen finanziell auf mich gestellt. Ich musste also dringend Geld verdienen. Für Versicherungen war ich nicht der Typ, für Immobilien fehlte mir das Geld. Durch meine drei bisherigen Wohnsitze in Greifswald, Stralsund und auf Rügen kannte ich aber ziemlich viele Menschen. Vorher hatte ich schon viele Freundinnen aus meinem Studiengang verkuppelt und mein Kopf und mein Bauch wussten ganz sicher: Das ist etwas, was ich kann. Spaß machte es mir natürlich auch.

moritz: Hast Du vorher schon irgendwo gearbeitet?
Rönsch: Im ersten Studium habe ich als einzige aus meinem Studiengang nebenbei gekellnert, im Penguin. Dort gab es damals 10 Mark pro Stunde, plus Trinkgeld.

moritz: Wie sah der Anfang aus?
Rönsch: Ich hatte damals meine Beratungsräume in der Wolgaster Strasse in einem Haus, wo heute eine Physiotherapie ist.  Meine Nachbarn waren ein Abschleppdienst, ein Künstleratelier und über mir  die Redaktionsräume des Stadtmagazins. Wenn das mal keine Lage ist.

moritz: Gab es auch Probleme?
Rönsch: Oh, einige. Ich hatte fast kein Geld, keinen Kundenstamm und nur wenig geschäftliches Know-how. Zum Glück ging damals gerade Greif-TV auf Sendung und ich konnte kostenlose Spots senden. Schon der erste Spot brachte dann einen Erfolg für mich. Da habe ich also auch Glück gehabt.

moritz: Hast Du mal überlegt, was anderes zu machen?
Rönsch: Nein, es hat sich sehr gut entwickelt. Ich habe mich am Anfang vor allem auf Akademiker ausgerichtet, Alumni wie auch Studenten. Eine Hälfte des Tages habe ich dem Studium gewidmet, die andere meiner Partnervermittlung. Mein Studium hat mir sehr geholfen, auf dem Markt der Partnervermittlungen Kontakt suchende Menschen erfolgreich  zu vermitteln. Am Ende des Studiums habe ich kurz überlegt, ob ich nicht in die Wirtschaft gehen sollte, denn mein Studienschwerpunkt lag auf Arbeits-, Betriebs-, und Organisationspsychologie.  In M-V sind die Tätigkeitsfelder für Psychologen noch begrenzt: Vorrangig auf den Klinischen/Sozialen Bereich. Die Einkommensverhältnisse gegenüber der Selbstständigkeit sind in Mecklenburg-Vorpommern ungünstig in der Relation: maximale Arbeitsleistung gegenüber zu geringer Entlohnung.

moritz: Wenn Du von Einkommensverhältnissen sprichst – welcher Student kann oder will sich das denn hier leisten?
Rönsch: So einige. Und wie überall gibt es natürlich auch bei mir Studentenpreise.

Geschrieben von Arik Platzek

„Ich würde es wieder tun“

Wencke Hallaschk über einen straff durchgeplanten Tagesablauf

100 Stunden Arbeit, daneben das Studium und ein Kind. BWL-Studentin Wencke Hallaschk ist 31 Jahre alt, ihre Tochter Lina-Sophie, 4 Jahre alt.

moritz: Wie viel Zeit im Monat arbeitest du neben deiner Position als Mutter und Studentin?
Wencke Hallaschk: Ich arbeite etwa 100 Stunden im Monat, unter anderem in einem Greifswalder Hotel.

moritz: Seit wie vielen Jahren bist du schon dort beschäftigt und mit welcher Geldsumme gehst du am Ende des Monats nach Hause?
Hallaschk: Dort arbeite ich seit 2000 und der Lohn ist ziemlich gut. Sehr schön war, dass ich aufgrund meiner Tätigkeit in diesem Hotel neben dem Studium einen „guten“ Abschluss als Hotelfachfrau bei der IHK Neubrandenburg machen konnte.

moritz: Du bist musst dich um deine Tochter kümmern, studierst und bist Arbeitnehmerin. Wie sieht ein normaler Tagesablauf bei dir aus?
Hallaschk: An einem normalen Tag komme ich um 7 Uhr von der Arbeit. Ich bringe dann meine Tochter, Lina-Sophie, in den Kindergarten nach Greifswald. Ich bin um etwa 9 Uhr im Bett. Wenn ich Uni habe, kann ich nur bis 12 Uhr schlafen. Wenn nicht, bis 15 Uhr. Dann hole ich meine Tochter um 16.30 Uhr aus dem Kindergarten, danach geht es für sie meistens noch zum Tanzen oder zum Sport. Gegen 18 Uhr sind wir zuhause, zum Abendbrot. Um 19.30 Uhr bringe ich Lina ins Bett. Halb zehn fahr ich dann wieder zur Arbeit.

moritz: Das klingt nicht einfach. Bekommst du auch Unterstützung?
Hallaschk: Mein Partner, der Kindsvater hilft mir. Er heißt Peter und ist Lehrer am Gymnasium. Ohne ihn würde ich es kaum schaffen, vor allem zeitlich.

moritz: Bleibt denn da überhaupt noch Zeit für das Studium?
Hallaschk: BWL habe ich 2000 zu studieren begonnen. Im Moment warte ich gerade noch auf die Zulassung zu meiner Diplomarbeit.

moritz: Was würden höhere Löhne für dich bedeuten?
Hallaschk: Vor allem, dass ich mehr Zeit für mein Studium habe.

moritz: Was ist deine schwierigste Zeitphase?
Hallaschk: Das waren stets die Prüfungszeiten, wenn ich bis nachts in der Bibliothek gesessen habe und nur wenig arbeiten konnte.

moritz: Studium, Kind und Arbeit – würdest du das wieder tun?
Hallaschk: Ja, auf jeden Fall.

moritz: Wo bist du in zwei Jahren?
Hallaschk: Ich ohne mit einem schönen dicken Gehalt als Hotelleiterin auf der schönsten Insel Deutschlands, in Rügen. (lacht) Und außerdem bin ich auf jeden Fall verheiratet.

Geschrieben von Arik Platzek

„Technisch nicht anders möglich“

Wittcall-Vertreter über Toilettengänge und Transparenz

Neben der Universität ist das Call-Center Wittcall der größte Arbeitgeber für Greifswalder Studenten. moritz sprach mit Andreas Weiß, dem stellvertretenden Studioleiter.

moritz: Warum hat Wittcall gerade in Greifswald eine Niederlassung?
Andreas Weiß: Für den Standort sprachen mehrere Gründe. Einmal die gute Grundqualifikation der Caller, die in der Mehrzahl Studenten sind. Es war auch Rostock im Gespräch. Jedoch hat Wittcall sich wegen der hohen Zahl anderer Call-Center in Rostock für Greifswald entschieden.

moritz: Was für Tätigkeiten muss ein Mitarbeiter ausführen?
Weiß: Wittcall macht nur Markt- und Meinungsforschung, vertreibt also keine Produkte. Das macht schon mal einen großen Unterschied zu anderen Call-Centern aus. So führen unsere Caller natürlich auch nur Outbound-Calls, wobei die angerufenen Nummern von einem Rechner zufällig generiert werden. Ansonsten gibt es von unseren Auftraggebern sehr detaillierte und strikt vorgegebene Fragebögen, die unsere Mitarbeiter abfragen müssen. Eine Einarbeitung in den Fragebogen ist deshalb wichtig, aber wenn das geschafft ist, kann es auch schon losgehen.

moritz: Welche Fähigkeiten braucht ein solcher Caller?
Weiß: Natürlich Kommunikationsfähigkeit und ein wenig Eloquenz. Ein spontanes, freundliches und angenehmes Erscheinungsbild am Telefon, welches ja nur akustisch vermittelt wird. Man sollte aufgeschlossen sein und mit Menschen umgehen können.

moritz: Wittcall wird teilweise positiv beurteilt, weil die Terminvergabe ziemlich flexibel verläuft und auf die Bezahlung Verlass ist. Trotzdem gibt es immer wieder Kritik, dass die versprochene „gute“ Bezahlung von 5 Euro pro Stunde nicht der Realität entspricht. Denn es wird nur die Zeit abgerechnet, in welcher man im Call-System eingeloggt ist. Wer auf die Toilette geht, wird also nicht mehr bezahlt.
Weiß: Das ist richtig, aber das finden Sie bei anderen Call-Centern genauso. Wir können unsere Caller nur nach effektiver Arbeitszeit bezahlen, also immer dann, wenn sie wirklich im System eingeloggt sind und Calls ausführen können. Außerdem verkauft Wittcall keine Produkte, befindet sich also in einem Marktsegment als viele andere Call-Center. Wittcall hat sich zudem gegen das interviewbasierte Lohnmodell entschieden und zahlt einen Basislohn, der unabhängig von den geführten Interviews gezahlt wird. Zusätzlich gibt es Leistungszuschläge, so dass ein Caller auf 5,70 bis 6 Euro pro Stunde effektiver Arbeitszeit kommt. Verglichen mit der Anfangszeit ist dieser Betrag sogar noch gewachsen und wir beschäftigen heute mehr Caller als jemals zuvor. Und das ist auch für die Studenten gut.

moritz: Die Abrechnungen werden aber auch als intransparent bezeichnet, da dort stets nur ein Endbetrag steht.
Weiß: Das ist technisch nicht anders möglich, Auftragsdatenverarbeitung und Buchhaltungssoftware sind getrennte Systeme. Eine genaue Aufschlüsselung wäre möglich, aber nur manuell durchführbar. Auf diese Personalkosten möchten wir zugunsten unserer Caller verzichten. Über den durchschnittlichen Verdienst und die Zahl geführter Interviews können sich unsere Caller jederzeit bei ihrem Supervisor oder bei mir informieren. Auch bei anderen Fragen zur Abrechnung bin ich immer gerne da.

moritz: Stimmt es nicht, das die Caller bei Systemausfall warten müssen bis es läuft und derweil kein Geld verdienen?
Weiß: Das ist so nicht richtig. Wittcall bezahlt ein Ausfallgeld, welches sich aus dem durchschnittlichen Stundenverdienst des Callers berechnet. Im Übrigen sind diese Ausfälle sehr selten. Und tatsächlich geht jeder normale Caller nach 4 Stunden effektiver Arbeit auch mit rund 23 Euro nach Hause, das ist sicher.

Geschrieben von Arik Platzek