Arbeitende Studenten in Greifswald

Lange Strasse, in Höhe des „Stahlwerks“. Es ist kurz vor zehn Uhr abends und der Wind zieht wie gewohnt kalt durch die Stadt. Ein Student betritt das Haus mit der Nummer 10, er ist auf dem Weg zur Arbeit. Er wird in acht Stunden Dienst über teilweise psychisch kranke Menschen wachen, die dort versuchen, eigenständig zu wohnen. Sein Lohn am Ende der Schicht: knapp 20 Euro.

Micha* (Name von der Redaktion geändert) bekommt die erste Stunde mit fünf Euro bezahlt. In dieser soll er Rundgänge machen. Der Rest der Zeit ist als „Bereitschaftszeit“ vereinbart und wird mit 40 Prozent vom Grundlohn bezahlt. Das Bundesarbeitsgereicht befand Vergütungen für Bereitschaftsdienste in Höhe von 68 Prozent für angemessen, weniger sei sittenwidrig. „Mein Studium lässt mir nicht mehr Zeit, ich muss nachts arbeiten“, antwortet Micha auf die Frage, warum er hier arbeiten geht. Einen schriftlichen Arbeitsvertrag hat er nicht.
Oft muss er sich länger kümmern, bis die Bereitschaftszeit beginnt. Diese verbringt er in einem kleinen Raum mit Waschbecken und einer Liege. Voll bezahlt wird trotzdem nur die erste Stunde, auch wenn er erst um drei Uhr zur Ruhe kommt. Das Arbeitsgericht in Frankfurt am Main entschied, dass Bereitschaftszeiten wie Arbeitszeiten zu vergüten sind, wenn sich der Beschäftigte dauerhaft am Dienstort aufhalten muss. Aber wir sind nicht in Frankfurt am Main.

Leben neben dem Studium

Wir sind in Greifswald am Ryck und in der Langen Strasse 10 steht das Haus „Rycksicht“ der IBW:  „Intensiv betreutes Wohnen“. Es wird von der Johanna-Odebrecht-Stiftung betrieben. Vorsteherin und Pastorin Ingelore Ehricht bezeichnet die Einrichtung auf der Internetseite als „weit über Greifswald hinaus geschätzte Einrichtung der Sozial- und Bildungsarbeit.“ Zur Situation im Haus „Rycksicht“ wollte sie dem moritz gegenüber keine Stellung nehmen. Das Unternehmen ist Spitzenreiter unter den örtlichen Niedriglohnanbietern. Anlass für moritz, sich die Jobsituation für Studenten in der Hansestadt einmal näher anzuschauen.

Jedem Student stellt sich spätestens zu Beginn seines Studiums die Frage, wie er dieses bezahlen soll. BAföG oder das Geld von den Eltern reichen meist für Wohnung und Lebensmittel, manchmal nicht einmal dafür. Greifswald, am nordöstlichsten Zipfel der Bundesrepublik gelegen, befindet sich traditionell am untersten Pegel des Lohnniveaus. Ein schlechtes Pflaster, um reich zu werden – vor allem vor dem Studienende.

Die Arbeitslosenquote in Greifswald betrug im November 2007 etwa 15 Prozent, rund 20 Prozent sind es landesweit. Oberbürgermeister Arthur König (CDU) freute sich über den großen Sprung, den die Stadt nach der Prognos-Studie 2007 machen konnte: 224 Plätze nach oben, woraufhin er in Greifswald den Leuchtturm des Nordens ausmachte. Im moritz-Interview (Ausgabe 64) gab er damals zu: „Die Universität ist die wesentliche Lebensader für die Stadt und die Region.“ Doch die Stadt sollte auch eine Lebensader für die Mitglieder der Universität sein. Rund 11.500 Studenten, bei einer ohnehin hohen Arbeitslosenquote, führen im von Industrie wenig besiedelten Mecklenburg-Vorpommern zu einem schwierigen Markt. Aber viele müssen hier ihr Auskommen finden.

Die gute Nachricht

Noch weniger Geld zum Leben haben die angehenden Akademiker in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Die 18. Sozialerhebung des deutschen Studentenwerks ergab, dass sich M-V mit durchschnittlich 690 Euro verfügbarem Einkommen je Student (bestehend aus BAföG, elterlicher Unterstützung und Nebenjobs) auf dem viertletzten Platz der Bundesländer befindet. Nur in Berlin (zweiter Platz) bekommen die meisten deutlich mehr. Damit liegt M-V 80 Euro unter dem Bundesdurchschnitt und fast 200 Euro unter dem deutschen Spitzenreiter Hamburg (868 Euro). Arbeitsbedingtes Pendeln in das „nahe“ Berlin oder Hamburg gehört für viele Studenten zum Alltag.

Die schlechte Nachricht

Die Zustimmung bei der Einschätzung einer gesicherten Finanzsituation sank bei „trifft völlig zu“ seit dem Jahr 2000 um sieben Punkte auf 34 Prozent. Micha fasst seine Lage in konkrete Zahlen: „Nach Abzug der Kosten für Wohnung und Versicherungen habe ich noch knapp 100 Euro für Lebensmittel und Kleidung.“

Laut Allgemeinem Studentenausschuss (AStA) hat die Hansestadt das dritthöchste Mietniveau der ostdeutschen Hochschulstandorte. Bei den Ausgaben für die Miete liegen Greifswalder Studenten aber lediglich auf dem 47. Platz von 54 berücksichtigten Standorten. Es ist wohl nicht mehr Geld da. Außerdem stiegen laut Angaben des statistischen Bundesamtes seit 2005 die Lebensmittelpreise um zwölf Prozent. Weitere vier Jahre zuvor fand die letzte BAföG-Erhöhung statt. Sie steht den Studenten erst wieder in diesem Herbst bevor. Der Höchstsatz steigt nach sieben Jahren um knapp zehn Prozent. Das scheint wenig, ist es auch.

Saftschubsen, Caller, Hiwis

Es gibt zwei große Gruppen arbeitender Studenten: Diejenigen, die müssen und diejenigen, die wollen. Erstere sind mit 42 Prozent, letztere mit 39 Prozent repräsentiert – im Bundesdurchschnitt. Daneben existieren als Motive die Unabhängigkeit von den Eltern, Praxiserfahrung und postgraduale Kontakte.

Bei der studentischen Erwerbstätigenquote liegt M-V auf dem letzten Platz. Dank der von den Wirtschaftswissenschaftlern beschworenen „unsichtbaren Hand des Marktes“ finden sich aber auch in Greifswald trotzdem Möglichkeiten, Geld zu verdienen.

In der norddeutschen Stadt, mit seinen mittlerweile über 100 Restaurants, Bars und Kneipen, sind viele Studenten in der Gastronomie beschäftigt. Dieser Teil des für Studenten relevanten Arbeitsmarktes reicht vom Pizza-Service bis zu den gehobenen Hotels der Stadt. Ebenso groß sind die Unterschiede im Einkommen. Angefangen bei 3,60 Euro pro Stunde, findet sich der Großteil bei Stundensätzen um die 5 Euro entlohnt, teilweise zusätzlich um eine Umsatzbeteiligung oder das Trinkgeld bereichert. Vereinzelt werden auch mehr als 7 Euro gezahlt, vor allem dort, wo besondere Qualifikationen erforderlich sind. Oder wenn, was auch eher selten passiert, nach Tarif bezahlt wird. Mancher Arbeitgeber zahlt sogar Nachtzuschlag und Urlaubsgeld. McDonalds bietet kein billiges Essen, aber 100 Prozent Feiertagszuschlag. Cinestar-Mitarbeiter dürfen außerhalb der Arbeitszeit kostenlos Filme schauen. Student Iven Olak sagt dazu: „Für mich ist das nicht entscheidend, ich war seit letztem Juli erst einmal im Kino. Aber die Arbeitsatmosphäre ist sehr gut.“ Sein Chef René Römer erklärt die Lage so: „Die Filme bringen dem Kino bei diesen hohen Mieten keinen Gewinn. Geld verdienen wir mit Popcorn und Getränken.“ Doch wer kauft noch Popcorn und Getränke, bei diesen Eintrittspreisen? Es ist ein bisschen kompliziert.

Die Gastronomie in Greifswald hat insgesamt keine große Lohnentwicklung durchgemacht: Die Löhne sind seit Jahren konstant, bei ständig steigenden Preisen. Ex-Studentin Tanja Rönsch ging vor rund 15 Jahren für 10 Mark pro Stunde kellnern (siehe Interview). Andererseits ist gerade die Gastronomie stark an die regionale Wirtschaftskraft gebunden. Und auch der gutwilligste Wirt kann nur soviel Geld zahlen, wie ihm seine Kunden bringen. Nicht zuletzt sind Studenten aus anderen Städten häufig nicht wenig erstaunt über die niedrigen Cocktailpreise. Größer ist meist nur noch das Erstaunen über den geringen Verdienst.

Alternativen zum Tablett

Neben der Gastronomie sind die Uni und das Call-Center „Wittcall“ die größten Arbeitgeber für Studenten, mit je rund 450 Beschäftigten. Während sich an der Uni Beschäftigte über eine hohe Bezahlung freuen können, lauert hier das Manko woanders. Nur wenige kommen auf die maximal möglichen 400 Euro. „In der Regel sind es Verträge über 20 Stunden, das hängt vom Professor ab“, berichtet Thomas Lange von der Personalabteilung für studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte der Universität. „Manche geben auch 40 Stunden oder in Ausnahmefällen 80 Stunden. Normalerweise sind es ungefähr 20 bis 25 Stunden“, fügt Lange hinzu.

Wittcall macht mehr möglich, erfordert aber auch einen hohen Einsatz. Wer auf 400 Euro kommen möchte, muss an vier Tagen in jeder Woche professionelle statt privater Telefongespräche führen. Zusätzlich sind die Call-Center-Agents an zwei Sonnabenden im Monat arbeitspflichtig. Gut dran ist, wer sich über wenige Pflichtveranstaltungen freuen kann.

Sie sind überall

Daneben finden sich studentische Angestellte in fast jedem Bereich. Videotheken, Einzelhandel, produzierende Firmen und Verbrauchergroßmärkte bevorzugen Arbeitskräfte mit hoher Arbeitsmotivation, geistiger Flexibilität, guten Umgangsformen und der Fähigkeit, die Grundrechenformen auch noch Jahre nach ihrem Abitur anzuwenden. Insbesondere angehende Juristen und Betriebswirte können sich oft bei Rechtsanwälten und Steuerberatern verdingen. Diese  greifen gern auf qualifizierte Kräfte zurück, die dabei auch noch „günstig“ sind: 10 Euro pro Stunde sind hier möglich. Soviel bekommen in anderen Bundesländern Werksstudenten am Fließband. Noch.

Über Deutschland hinaus

Bekannt geworden ist die französischen Studentin Laura D., die in Ihrem Buch „Mein teures Studium“ erzählte, wie sie ihr Studium mittels Prostitution finanzieren musste. Ein französischer Minister warnte vor einem „studentischen Proletariat“, in dem laut französischem Studentenverband SUD-Etudiant rund 40.000 Studentinnen ihr Studium durch Prostitution bestreiten. Ursache für die Lage: Den deutschen Verhältnissen ähnliche Kosten bei  geringerer staatlicher Unterstützung. Studentische Prostitution gibt es auch hier, wie der Uni-SPIEGEL im Januar berichtete.

Was übrig bleibt

Am Ende steht die Erkenntnis, dass es schlechter sein könnte. Wenn auch nicht viel. Aber bei der Frage nach gerechtem Lohn und bei allem sozialen Wollen erschiene es doch paradox, wenn Studenten deutlich mehr verdienten als entsprechend qualifizierte Fachkräfte.

So trifft ein knappes Budget oft besonders die Studenten, die auf ihren Job angewiesen sind. Bei fehlendem Finanzpolster werden auch schlecht bezahlte Stellen schnell angenommen. Schlecht bezahlte Jobs führen zu geringen Rücklagen und die Notwendigkeit, demnächst wieder eine schlecht bezahlte Stelle annehmen zu müssen, bleibt oder wächst. Außerdem erzeugt dieser Kreislauf persönliche und volkswirtschaftliche Mehrkosten durch ein verlängertes Studium. Fünf bis sechs Euro sollten bei den meisten Jobs in Greifswald drin sein. Wo es weniger ist, kann man  hinschauen, nachfragen und berichten. Denn jeder Student ist Konsument. Ob in Hinblick auf unser Budget oder lohnpolitisch: Im bewussten Konsum liegt wohl unsere größte Macht.

Geschrieben von Arik Platzek