Ein Jugendfilm wird erwachsen: Harry Potter 7

Dunkel, kalt, gefährlich: Diese drei Adjektive könnte man benutzen, um den Greifswalder Winter zu charakterisieren. Doch treffen sie auch zu, wenn man den neuen Harry Potter-Film in drei Worten ganz prägnant beschreiben möchte. Passend zu dieser ungemütlichen Jahreszeit ist nun der erste von zwei finalen Teilen der Filmreihe in den Kinos erschienen und hat noch dazu die Spitze der Kinocharts erobert.

Harry Potter und Co sind auf der Jagd nach den Horkruxen.

Es gibt wohl kaum jemanden, der die millionenschwere Geschichte des Zauberlehrlings Harry Potter nicht kennt. Als Baby überlebt er einen Angriff des mächtigen bösen Zauberers Lord Voldemort, woraufhin dieser verschwindet. Doch kehrt er zurück, strebt weiterhin nach der Macht über die Zaubererwelt und trachtet nebenbei Harry nach dem Leben, da dieser Voldemorts Pläne immer wieder durchkreuzt. Im siebten Buch und damit in den Filmen sieben und acht wartet das große Finale und auch die Frage, welcher der beiden Zauberer überlebt.

Harry und seine beiden Freunde Ron und Hermine machen sich nun auf die Jagd nach den Horkruxen, Seelenstücken Voldemorts, um ihren Gegner zu schwächen. Dabei erleben sie, jenseits der sicheren Mauern von Hogwarts, viele Abenteuer. Daher auch die Splittung in zwei Teile.

FSK kritisierbar, aber endlich eine starke Buchnähe

Der neue Film ist merklich düsterer als die Vorgängerteile, es sterben einige von Harrys Freunden. Blut gibt es auch zu sehen, man könnte fast ein wenig die FSK-Bestimmung kritisieren. Für Zwölfjährige scheint der Streifen stellenweise wirklich ungeeignet.

Besser nicht im Dunkeln begegnen: Bellatrix Lestrange (Helena Bonham Carter)

Positiv fällt zum ersten Mal bei einer Harry-Potter-Verfilmung auf, dass nur wenige Teile des Buches gestrichen oder verändert wurden. Hatte doch dieser Aspekt in den letzten Filmen gelitten, um noch eine annehmbare Spielzeit vorweisen zu können, konnte durch die Zweiteilung des siebten Buches mehr Augenmerk auf Details und Richtigkeit gelegt werden. So wird beispielsweise die gesamte Reise von Harry, Ron und Hermine auf der Suche nach den Horkruxen äußerst detailgetreu dargestellt. So wichtig die Adaption der Buchvorlage ist, der Film besticht auch durch die schauspielerischen Leistungen vieler Besetzungen. Während die Darsteller der drei Freunde quasi in ihre Rolle hineingewachsen sind, wurde zum Beispiel die Rolle der bösen, verrückten Bellatrix Lestrange (gespielt von Helena Bonham Carter) erst im fünften Teil besetzt. Trotzdem spielt sie ihre Rolle sehr überzeugend und es ist klar: Dieser Frau möchte man nicht im Dunklen begegnen.

Viel diskutiert wurde im Vorfeld über die Stelle, an der man das Buch in die beiden Teile für die Filme trennt. Dieser Einschnitt wurde ebenfalls sehr gut gewählt, die Helden entkommen dem Bösen vorläufig, doch stirbt Dobby, ein Hauself und Freund Harrys. Der Film hat somit ein „perfekt“ dramatisches Ende, das den Zuschauer animieren soll, die Fortsetzung zu sehen.

Genau das ist auch zu empfehlen, in der Hoffnung, dass die Detailtreue und der Buchbezug auch im wirklich allerletzten Harry-Potter-Film die Hauptrolle spielen.

Fotos: Warner Brothers, keine CC-Lizenz

Grusel, Witz, Groteske: Das war die sechste Greifswalder Kurzfilmnacht

Ein Beitrag von Simon Voigt und Christine Fratzke

Jens führt durch das Programm der 6. KuFiNa

Jens führt durch das Programm

Wenn sich an einem kalten Dezemberabend mehr als 100 Leute vor dem Fremdsprachen- und Medienzentrum versammeln, dann kann das eigentlich nur eins bedeuten: Es ist wieder Kurzfilmnacht (kurz KuFiNa). Die mittlerweile sechste Ausgabe mit freundlicher  Unterstützung der Medienwerkstatt des CDFI organisierten Filmabends lockt konstant viele Besucher an, so dass man rechtzeitig vor Ort sein musste, um noch einen Platz zu ergattern. Als Reaktion auf die große Nachfrage wurde dieses Jahr erstmals versucht, die Filme an zwei Abenden zu zeigen. Am Hauptabend mit üppigem, von regionalen Unternehmen spendiertem Büffet fand auch die Verleihung des Publikumspreises  statt.

Publikum bei der 6. KuFiNa

In der ausverkauften Medienwerkstatt wartet das Publikum auf die Filme

Vielfältige Auswahl an Filmen

Die Jury der KuFiNa hatte von insgesamt 37 internationalen Bewerbungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz 15 Streifen ausgewählt, die sich nun dem kritischen Greifswalder Publikum stellen mussten. Da den Regisseuren jegliche künstlerische Freiheit gelassen wurde, waren aller erdenklichen Genres abgedeckt. Es gab Ernsthaftes,  Horror-, Splatter- und Trickfilme, Stop-Motion, Komödien und Dokumentationen von zehn Sekunden bis fünfzehn Minuten Länge. Unter anderem gab es den Alltag im Leben einer Arbeiterin, ein Geisterhaus, den irrwitzigen Kampf um die Energie der Zukunft, ethische Fragen an Journalisten oder einen Film, der sich mit der Frage „What is my sex?“ beschäftigte.

Üblicherweise werden auch alle Regisseure zur KuFiNa eingeladen. Als einzige Teilnehmerin hatte sich Claire Walka, gemeinsam mit ihrer Produktionsleiterin Claudia Mattai del Moro spontan von Hamburg auf dem Weg nach Greifswald gemacht. Die 33-jährige Regisseurin brachte ihre neueste Produktion „Lichtspuren“ mit, welcher gleichzeitig auch ihre erste Arbeit nach dem abgeschlossenen Filmstudium ist. Zum Inhalt sagte sie: „Ich wollte mal einen ernsten Film drehen, den man auch versteht“.

Beim Publikum fand die bunte Mischung an Filmen überwiegend Zustimmung. Nach jedem Beitrag gab es kräftig Applaus. „Das ist wirklich ein Sammelsurium an Filmen. Dokumentation, Animation, Grusel a la Hitchcock, es ist wirklich alles dabei. Sogar Abgefahrenes. Danke an die Jury“, so Martin, einer der Besucher. Das „Abgefahrene“ konnte das Publikum besonders erfreuen. So lachten viele beispielsweise bei „Kapitän Kohle und Dr. Atom“: Hier kämpften Dr. Atom und dessen „Erz“rivale Kohle mit allen Mitteln um die Vorherrschaft um die Energieversorgung. Ganz bewusst setzten die Filmemacher auf Trash und Selbstironie, was besonders die Kampfszenen lustig erscheinen ließ. Etwas belehrend wirkte das Ende: Kohle und Atom starben während des Kampfes, am Ende gewann die Windkraft.

Claudia Mattai del Moro und Claire Walka

Claudia Mattai del Moro und Claire Walka freuen sich über den Publikumspreis

Verleihung des Publikumspreises

Der Höhepunkt des Abends war, nachdem alle Filme vorgeführt wurden, die Verleihung des mit 150 Euro dotierten Publikumspreises, wofür jeder seinem Favoriten eine Stimme geben konnte. Überraschenderweise gewann der Film „Lichtspuren“, womit die Urkunde der Kurzfilmnacht auch direkt an die Macherin übergeben werden konnte. In dem Film treffen in einer lauen Sommernacht vier verschiedene Charaktere aus unterschiedlichen Richtungen aufeinander, um gemeinsam das Abenteuer des besonderen Augenblickes zu erleben. Zum Anfang scheinen sie gar nicht zusammenzupassen, wirken desorientiert. Die Frau in rot beispielsweise läuft suchend mit einem Koffer durch die Straßen. Unruhig sieht sieht sie aus, Melancholie liest man in ihrem Gesicht. Am nächsten Morgen stehen die vier ungleichen Protagonisten, also zwei Jugendliche, die Frau in rot und ein Obdachloser am Imbissstand. Von ihrer Rastlosigkeit sind sie erlöst, die Spuren des Lichts haben sie zueinander geführt. „Ich finde es ganz toll, dass ich gewonnen habe. Es ist schön, dass mein Film vom Publikum geschätzt wird. Da hat man das Gefühl, dass sich die Arbeit gelohnt hat“, freute sich Walka über den Preis.

Auf die Frage nach einer kurzen Einschätzung antwortete die Besucherin Maria dem WebMoritz: „Mir haben die Filme voll gut gefallen. Die Auswahl war super, nur die ganz kurzen Filme hatten wahrscheinlich keine Chance zu gewinnen. Wir hätten aber lieber Punkte verteilt, anstatt nur eine einzige Stimme abzugeben, weil so viele schöne Filme dabei waren.“

Dass die Entscheidung des Organisationsteams sinnvoll war, die Veranstaltungsreihe auf zwei Abende auszuweiten, zeigte sich am 3. Dezember. Auch dann war der Saal in der Medienwerkstatt fast vollständig gefüllt. „Auch im nächsten Jahr wird es wieder die KuFiNa geben“, verspricht Veranstalter und Moderator Jens Leuteritz. Also auch 2011 wird es wieder eine bunte Mischung an Filmen und Genres geben.

Fotos: Simon Voigt

Anziehend und Abgründig – „Songs 4 Hate & Devotion“

Was kommt so alles aus Schweden? Ikea, Elche, Pippi Langstrumpf. Klar. Dass Schweden aber auch eine aktive Neofolk- und Industrialszene zu bieten hat, wissen aber nur wenige. Das könnte sich nun mit der Veröffentlichung des Albums „Songs 4 Hate & Devotion“ von Ordo Rosarius Equilibrio ändern.

Mit Out of Line als neuem Label im Rücken blasen Tomas Pettersson und Rose-Marie Larsen zum Angriff auf deutsche Hörer. Doch nicht mit donnernden Kanonen, sondern heimlich, leise, zuweilen gar zurückhaltend bahnen sie sich ihren Weg in die Gehörgänge. „Songs 4 Hate & Devotion“ ist nicht laut und krakeelend. Ruhig und bedächtigt tönt Pettersons Stimme, erklingen akustische Gitarren und Keyboardflächen. Bläser, Piano und ruhiges Schlagzeugspiel untermauern die Kompositionen. Die Lieder wirken nie aufdringlich. Bisweilen wähnt sich der Hörer gar in einer Lounge, die erst anziehend, dann aber ebenso abgründig erscheint. Diese Unaufdringlichkeit gepaart mit ihrer Düsternis ist, was diese Platte so faszinierend macht. Doch ist es auch ihre Crux. Die Oden an Hass und Hingabe erfordern nämlich die volle Aufmerksamkeit des Hörers. Man muss sich auf sie einlassen. Zum Nebenbeihören eignet sich die Platte nicht. Dann plätschert sie nur so vor sich hin und klingt insgesamt zu gleichförmig. Erst wenn man sich auf die Lieder, ihre Arrangements, ihre Texte konzentriert und ihnen folgt, weiß sich der ganze Charme des Albums zu offenbaren.

Wer dem Album aber eine Chance gibt und sich darauf einlässt, wird die Zeit vergessen und tief in der Lounge versinken, die Tomas Pettersson und Rose-Marie Larsen um ihn entstehen lassen. Diese Lounge ist düster und sinnlich. Die kindgerechte Fröhlichkeit einer Pippi Langstrumpf oder die bunten Farben der Ikea-Bausätze sucht man bei Ordo Rosarius Equilibrio vergebens. Es kommen eben noch andere Dinge aus Schweden.

Foto: Website der Band

Die sechste Kurzfilmnacht: Filme, Filme, Filme

Zahlreiche Filme, die man garantiert noch nicht gesehen hat, bietet die Greifswalder Kurzfilmnacht. Bereits zum sechsten Mal findet die Kurzfilmnacht (KuFiNa) statt. Wie in den vergangenen Jahren ist der Ausstrahlungsort des Filmfestivals die Räumlichkeiten der Medienwerkstatt in der Bahnhofstraße 50. Neu ist, dass die Nacht an zwei Abenden ausgerichtet wird: am 2. und 3. Dezember. In der Vergangenheit mussten die Interessierten rechtzeitig kommen, um einen der heiß begehrten Plätze zu ergattern. Viele mussten daher am Einlass abgewiesen werden. Daraus lernten die Veranstalter rund um die KuFiNa.

Der Flyer zur Veranstaltung.

Festlich wird es aber bereits am ersten Abend. Ab 19 Uhr ist hier Einlass, eine halbe Stunde später geht es los. Durch den Abend führt das Mitglied des Organisationsteams Jens Leuteritz. In zwei Blöcken je 45 Minuten werden die Kurzfilme gezeigt, in der Pause gibt es ein Buffet. Am Abend des 2. Dezembers wird dann eine Preisverleihung stattfinden. Der Gewinner des Publikumpreises erhält 150 Euro.

Was es für Filme zu sehen gibt, möchte Organisator Jens Leuteritz noch nicht verraten. Beiträge wurden auch aus Österreich und der Schweiz eingesendet, außerdem sei die Qualität der Kurzfilme sehr gut. „Es gibt auf jeden Fall Real- und Animationsfilme, Action und Grusel, Melancholie und Witz“, gibt Jens preis.

Einen Tag später, am 3. Dezember, können noch einmal alle Filme gesehen werden – allerdings dann ohne Preisverleihung und Buffet. Der Eintritt für die Veranstaltung beträgt zwei Euro.

Flyer: Veranstalter

Ausstellung: Neue Wege führen zu kaputten Häusern

In die polnische Stadt Bytom entführt der (Wahl-)Greifswalder Fotograf Olaf Matthes die Besucher der Ausstellung „Verbundpflaster“. Die oberschlesische Großstadt war einst geprägt von Stahlindustrie, sowie Kohlebergbau und hat seit der Wende mit den Folgen des Niederganges dieser Industriezweige zu kämpfen. Das nahezu komplette Verschwinden der Montanindustrie hat bis heute viele Arbeitslose zurückgelassen und Orte, die nun keine Funktion mehr haben. Dazu gehören gewaltige Fabrikruinen, zurückgebaute Lagerhallen, und vor allem weite, teilweise überschwemmte, Brachflächen. Und trotzdem ist die perspektivlose Industrieregion von neuen und ausgebesserten Wegen durchzogen. Mit Geldern der Europäischen Union wurde dieses sogenannte Verbundpflaster verlegt, ohne überhaupt zu wissen, welche Funktion die neuen Wege und Flächen, an denen sie vorbeiführen, einmal haben werden. Gleichzeitig haben sich inzwischen abseits der befestigten Wege informelle Strukturen von Pfaden gebildet, welche von den Bewohnern selbst gewählt wurden.

Gelassene Trostlosigkeit

Bilder aus der Verbundpflaster-Austellung

Bilder aus der Verbundpflaster-Austellung

Die schwarz-weißen Panoramafotos zeigen eine menschenleere Landschaft, in der einmal viel passierte, die aber nun von der Natur zurückerobert wird. Ganze Fabriken sind verschwunden oder zusammengefallen, Schrotthändler haben das Letzte aus ihnen heraus geholt und alles ist immer noch mit einem unendlichen Netz an Rohren verbunden. Alles scheint abgebrochen und liegen gelassen. Mittendrin stehen noch die Wohnblöcke der früheren Fabrikarbeiter, welche in dieser Umgebung besonders trostlos aussehen. Und trotzdem strahlen diese Fotos aus einer chaotischen, ungeordneten Region Ruhe und Gelassenheit aus.

Mit seiner selbst gebauten Panoramakamera versuchte Olaf Matthes, diese Ästhetik im Verfall der Region einzufangen, wie Heiko Krause, befreundet mit Olaf Matthes sowie Künstlerischer Assistent am Lehrstuhl für Bildende Kunst, visuelle Medien im Caspar-David-Friedrich-Institut mitteilte. Dabei geht es besonders um den Kontrast, den das neu verlegte Pflaster zwischen den maroden Strukturen bietet. Aus Sicht des Fotografen steht es sinnbildlich für die Suche der Region nach einer neuen Identität. Es könnte für einen Wandel und Neubeginn der Region stehen. Als wären es die Wege in eine Zukunft, die aber möglicherweise überhaupt nicht stattfinden wird.
Die Ausstellung ist noch bis zum 3. Dezember von Dienstag bis Freitag in der Medienwerkstatt im Erdgeschoss der Bahnhofstraße 50 zu sehen. Der Eintritt ist frei.

Fotos: Olaf Matthes (Aufmacher), Simon Voigt(Austellung)

Junge Literatur in Europa – ein Nachbericht

Auch dieses Jahr lud die Hans-Werner-Richter-Stiftung erneut talentierte Jungautoren zur Autorentagung „Junge Literatur in Europa“ ins Begegnungszentrum „Felix Hausdorff“ der Universität Greifswald ein. Auch wenn man aufgrund von Grippeerkrankungen und Terminüberschneidungen auf die Lesungen Mariana Lekys, Nuran David Calis‘ und Vladimir Vertlibs verzichten musste, zeigte sich Prof. Dr. Hans Dieter Zimmermann, Vorstandsvorsitzender der Stiftung, erfreut über die diesjährige Besetzung und das Wiedersehen mit ehemaligen Teilnehmern. So wolle man in der Tradition der von Hans Werner Richter organisierten Treffen der bedeutenden Gruppe 47 weder über ästhetische Grundfragen, noch politische Kontexte diskutieren, sondern lediglich „den Text zum Zentrum der Kritik“ machen.

Besonders am zweiten Tag zeigt sich die Tagung auch von "außerhalb" gut besucht.

Über drei Tage hinweg trugen die Künstler unter der Moderation von Literaturprofessoren, Lektoren oder Übersetzern halbstündige Auszüge aus ihren Prosawerken vor, die in einer anschließenden, ebenfalls halbstündigen Diskussion erörtert wurden. Das Publikum der Tagung variierte stark von Lesung zu Lesung. Waren bei den meisten Lesungen hauptsächlich die Autoren und ihre Moderatoren anwesend, so füllte sich der Saal bei den nordeuropäischen Schriftstellerinnen Leena Parkkinen, Asta Põldmäe und Amanda Svensson bis an die Grenzen seiner Kapazitäten mit Studierenden der Nordistik.  Bei den vorgetragenen Texten handelte es sich nicht nur um bereits veröffentlichte Werke, sondern teilweise auch um unvollendete Manuskripte, deren weiterer Verlauf noch nicht abzusehen war. Daher waren die anschließenden Diskussionen und „besonders auch die privaten Gespräche nach den öffentlichen Lesungen, in denen der Umgang untereinander offener war“ wertvolle Rückmeldungen auf das noch glühende Metall, wie Jan-Peter Bremer verriet. Die Auswahl der Künstler erwies sich sowohl auf inhaltlicher als auch darstellender Ebene als facetten- und abwechslungsreiche Konstellation. So fanden die Organisatoren eine ausgewogene Mischung zwischen „schwerer“, nachdenklicher Literatur und humorvollen Darstellungsweisen nicht minder tragischer Personen und zwischenmenschlicher Verhältnisse.

Melancholisch-Schwere und…

Reinhart Kaiser-Mühlecker im anschließenden Autorengespräch

In Andreas Schäfers Roman Wir Vier (2010) legt sich der Mord am ältesten Sohn bleiern über das alltägliche Leben einer vierköpfigen Familie. Dieser ist jedoch nur der Anstoß zu einer feinfühligen Darstellung der verschiedenen Haltungen der Verbliebenen zum Mörder, in denen sich auch die verschiedenen Bindungsebenen zum ältesten Sohn widerspiegeln. Ein intakteres aber kommunikativ ausbaufähigeres Familienleben zeigte Reinhard Kaiser-Mühlecker bei der Lesung aus einem noch namenlosen Manuskript auf. Hier projizierte er die eigenen Erfahrungen seines Zivildienstes in Bolivien und die Heimkehr zur Familie in die österreichische Provinz in ein literarisches Konstrukt, das über die nüchterne Beschreibung eines Bemerkens kultureller Unterschiede allerdings kaum hinausgeht. Den wohl ambitioniertesten Beitrag zum Thema „Familienschicksale“ steuerte Jen Petersen mit seiner Erzählung bei. In „Bis dass der Tod“ (2009) stürzt eine dem Wachkoma ähnliche Krankheit das intakte Leben von zwei Liebenden in den Abgrund. Entgegen aller Ratschläge lässt der Partner seine Geliebte nicht in ein Sanatorium einliefern, sondern beschließt, die Pflege seiner Frau in eigene Hände zu nehmen. In der vorgetragenen, deutlich von Cormac McCarthy (The Road) beeinflussten, Schlussszene stilisiert Petersen minutiös jedes Detail seiner Erzählung, vom Aussehen der handelnden Figuren bis hin zu deren karger Umgebung, die in einen modernen Epos über die Ambivalenz von Euthanasie alle Anwesenden sichtlich gefangen nahm.

Amüsant-Aufmerksame Literatur

Neben Erzählungen über die tragischen Abgründe des Lebens gab es auch humorvoll konotierte Auszüge zu hören. Patrick Hofmanns Roman Die letzte Sau (2009) beispielsweise thematisierte die Zwangsumsiedlungen ostdeutscher Gemeinden auf Grund geplanter Tagebauerweiterungen. Die von ihm inszenierte Familie sinniert jedoch nicht über die Unmenschlichkeit und Kurzsichtigkeit derartiger Baumaßnahmen, sondern plaudert in aufmerksam dokumentiertem Lausitzer Dialekt über Kriegs- und Nachkriegserlebnisse der Großeltern. Darüber hinaus wird die Familie, die das Schlachten einer Sau plant, weit mehr von der Ankunft der weiblichen Schlachterin als von den drohenden Abrissbaggern erschüttert.

Patrick Hofmann bei der multimedialen Vermittlung seines Romans "Die letzte Sau"

Auch der Protagonist aus Jan Peter Bremers unveröffentlichtem Manuskript Der Amerikanische Investor, ein erfolgloser Schriftsteller, taumelt zwischen den Extremen psychischer Unzurechnungsfähigkeit und pointierter Selbstironie. In seiner Wohnung liegend praktiziert der Schriftsteller eine literarische Chaostheorie, die sich anhand rhetorischer und in ihrem Ausmaß fast schon neurotischer Fragestellungen ins Unermessliche steigert; und doch steckt hinter allen witzigen Kopfkino-Trailern die Ungewissheit in der eigenen Existenz, die Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst. An deutsche Popliteratur im Stile Benjamin von Stuckrad-Barres erinnerte schließlich die Lesung aus Amanada Svenssons Debütroman Hey Dolly (2008), dessen Übersetzung durch Studierende und Lehrende des Skandinavistikinstituts der Univserität Greifswald erarbeitet wurde. Unter Zuhilfenahme vieler Zitate der modernen Popkultur, die im anschließenden Gespräch durch Prof. Schiedermair amüsant näher beleuchtet wurden, und unerwarteter Anekdoten schildert Svensson die Identitätssuche einer jugendlichen und gelangweilten Schwedin, die in schwedischen Literaturzeitschriften für großes Aufsehen sorgte.

…und Grenzgängerinnen

Am eindringlichsten verkörperte dennoch Lucy Frickes Roman Ich habe Freunde mitgebracht (2010) die Synthese aus Tragödie und Komödie. In einer beklemmend-lakonischen und desillusionierten Ausdrucksweise porträtiert sie, wie sich vier Freunde Mitte 30 in ihren gescheiterten Lebensentwürfen wiederfinden und nun mit der Frage nach dem eigenen Zukunftsentwurf konfrontiert sind. In der kurzen Formel „war’s das schon?“ schlägt sich die bittere Tragik der vier Existenzen wie ein Vorschlaghammer nieder. Die Erzählweise der jungen Wahlberlinerin offenbart zwar mit jedem Komma einen neuen Abgrund ihrer Figuren, doch verbergen sich in einigen Nebensätzen treffend zynisch-sarkastische Beobachtungen und Paradoxien der modernen Gesellschaft. Einen außergewöhnlichen Kontrast zu den „deutschen“ Schreibarten bot die estnische Schriftstellerin Asta Põldmäe mit ihrer Kurzprosa Briefe an die Schwalben (2009). In einer sehr sensiblen und naturalistischen Sprache gibt sie die Gedanken und Emotionen einer unerwiderten Liebenden wieder, deren einzige Gesprächspartner die am Himmel kreisenden Schwalben sind. Ihre lyrisch-prosaische Grenzwanderung besticht durch einfühlsame Anspielungen auf estnische Symbolizismen und wirkt neben den Selbstverständlichkeiten moderner Prosawerke, wie beispielsweise von Fricke oder Svensson, beinahe wie ein anachronistisches Faszinosum, das von den Wundern vergangener Tage und Welten erzählt.

Fazit

Auch Nicht-Germanisten bot die diesjährige Tagung „Junge Literatur in Europa“ einen umfangreichen Einblick in die Gegenwartsliteratur, der abseits der Lesungen auch vertiefende und lockere Gespräche mit den Autoren ermöglichte. Diese und die Moderatoren zeigten sich gegenüber allen Formen von Kommentaren und Fragen zu ihren Büchern interessiert und aufmerksam, sodass jeder Hauch von Elitarität im Keim erstickt wurde. Auf der Prämisse, es werde lediglich über den Text diskutiert, ruhte sich der eine oder andere Autor allerdings ein wenig zu sehr aus. So sorgte die naive Frage eines Besuchers, der offenbar nicht der Eröffnungsrede beiwohnte, nach einer ästhetischen Innovation des Genres und der Kolonialisierung Südamerikas für nervöse Schnappatmung, große Augen und hilfesuchende Blicke. Verständlich, denn wer kann schon von einem Schriftsteller erwarten, sich darüber Gedanken zu machen? Und letztlich standen bei fast allen Diskussionen Fragen bezüglich der Textgenese und Schreibmotivation im Vordergrund, die selten den Text als solchen thematisierten. Vermutlich muss man sich hier aber damit zufrieden geben, dass die Autoren, wie Jan-Peter Bremer meinte, in den öffentlichen Diskussionen mit Kritik zurückhielten, um diese im Privaten etwas detaillierter zu äußern. Nichtsdestotrotz bietet „Junge Literatur in Europa“ eine in Greifswald einmalige Möglichkeit, sich thematisch breit gefächerter Gegenwartsliteratur zuzuwenden, und wenn’s nur zum Signieren des eigenen Exemplars ist.

Fotos: Felix Kremser; Startseite: Sabine Schmutzler via jugendfotos.de;