von moritz.magazin | 08.04.2025
Vor 25 Jahren wurden vier Greifswalder Obdachlose von Rechtsextremen ermordet. Heute erinnern sich wenige Greifswalder*innen an ihre Geschichten.
von Lea Wendt und Lorenz Neumann
Gützkower Straße, Greifswald. während rechte Gewalt und Hetze weiter Alltag sind, erinnert hier ein denkmal an Klaus-Dieter Gerecke- brutal ermordet, weil er obdachlos war. Er war einer von 15 vergessenen Todesopfern rechter Gewalt in MV seit 1990. Viele dieser Verbrechen blieben lange unaufgearbeitet. die Initiative „Kein Vergessen“ erinnert an ihre Geschichten- als Mahnung nicht zu schweigen.
Dieser Artikel ist in einer gekürzten Version in der 172. Ausgabe des moritz.magazins erschienen. Die Ausgabe mit anderen spannenden Artikeln findet ihr zeitnah online, hier auf dem webmoritz. oder in unseren Bibliotheken, Mensen und anderen Uni-Gebäuden.
Leben unter dem”Asozialen”-Paragraphen
Greifswald, 1973: Klaus-Dieter Gerecke, welcher im sozialschwachen Viertel „Brinkhof“ aufwächst, schlägt sich seit dem 18. Lebensjahr mit Gelegenheitsjobs, wie bei der Müllabfuhr durch. Dieser blieb allerdings immer regelmäßiger fern. September 1973 wurde er das erste Mal von der Polizei verhaftet und nach Paragraph 249 verurteilt.
In veröffentlichten Auszügen der Humboldt-Universität zu Berlin wird dieser „asozialen Paragraph“ aufgeführt. Er besagt, dass jeder, der arbeitsfähig ist, dieser auch nachgehen sollte. All die, die sich der Arbeit aus Scheu entziehen, Prostitution nachgehen oder auf andere unehrliche Weise den Unterhalt finanzieren, „werden mit Verurteilung auf Bewährung oder Haftstrafe, bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll-und Erziehungsaufsicht erkannt werden.“ Die Seite gegenuns.de, gegründet vom verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e. V. (VBRG), berichtet von einem Spitzenwert mit insgesamt 14.000 in Haft genommene Menschen. Anlass war laut der Quelle der Wunsch der DDR- Führung, den öffentlichen Raum von „kriminellen und asozialen Personen zu säubern“. Noch nach der Haftentlassung wurden Verurteilte mit strengen Miet- und Wohnsitzauflagen, Hausdurchsuchungen und ständigen Kontrollen schikaniert. Verurteilung und Ausgrenzung betroffener Menschen wurde so auch noch nach der, oftmals etwas willkürlichen, Verhaftung gefördert.
Auch gegen Klaus-Dieter Gerecke wurde seit seiner ersten Festnahme bis zum Ende der DDR mehrfach unter §249 vorgegangen. Nach seinen Entlassungen stieg sein Alkoholkonsum immer weiter an, während er die Arbeit weiterhin verweigerte. Während einer Haftzeit wandte sich Klaus-Dieter Gerecke, in Form eines Briefes an den damaligen Bürgermeister. Er solle ihm doch endlich eine reale Chance der Wiedereingliederung geben. Diese Bitte wurde ihm jedoch verweigert. In einer späteren Umfrage der Insassen gibt er an, stehlen zu müssen, um zu überleben. Eine effektivere Rehabilitation könne dem vorbeugen.
Nach Ende der DDR, verdiente er sich sein Geld durch das Sammeln von Pfandflaschen. Bis er 1994 schließlich die Erwerbsunfähigkeitsrente erhielt. Fast jeder kannte den nun auf der Straße lebenden Klaus-Dieter Gerecke unter dem Namen „Kläuser“. Oft war er auch mit seinem Bruder Rainer zu sehen, zu dem er laut Zeugenaussagen wohl ein sehr gutes Verhältnis pflegte. Beide wohnten nicht nur gelegentlich zusammen, sondern unternahmen auch gemeinsame Ausflüge mit der Diakonie. Bis zum 1. April 2000. An diesem Tag ereilte Klaus-Dieter Gerecke ein schwerer Schicksalsschlag mit dem plötzlichen Tod seines Bruders. Bis heute sind die genaueren Umstände unbekannt. Klar ist nur, dass Rainer in ein Auto voller Jugendlicher gestiegen oder gezerrt worden ist, bevor er einige Tage später, tot auf einer Landstraße aufgefunden wurde. Von da an, war Klaus-Dieter Gerecke nur noch in tiefster Trauer aufzufinden. In einem früheren Interview mit den moritz.medien sagt er: „Glück? Hab ich niemals gehabt in meinem Leben.“ – „Sind Sie nicht glücklich?“ – „Das geht gar nicht, …weil mein Bruder tot ist“.
Der Mord an Klaus-Dieter Gerecke
Nur drei Monate später verstirbt er selbst aufgrund eines gewaltsamen Tötungsdelikts.
Am Abend des 23. Juni 2000 treffen sich drei junge Erwachsene, darunter zwei 18-Jährige und ein 21-Jähriger, in der Greifswalder Innenstadt zum Trinken. Dabei begegnen sie den ihnen bekannten „Kläuser“. In späteren Verhandlungen sagt der Haupttäter Maik G. aus, von seinen Begleiterinnen die explizite Forderung bekommen zu haben, Klaus-Dieter Gerecke zu töten.
Vorerst bleibt es bei Beleidigungen, wie „Penner“ und „Assi“. Sie beginnen, Gerecke bis zu einem Waschsalon zu verfolgen. Dort kommt Maik G. mit seinem späteren Opfer in ein Gespräch über das Leben auf der Straße. Er bekommt von ihm noch ein Bier ausgegeben. Nach verlassen der Wäscherei, folgen die drei Täter*innen ihm weiterhin und Maik G. greift Klaus-Dieter Gerecke mit einem Schlag ins Gesicht das erste Mal in dieser Nacht an. Die Hilfe eines vorbeikommenden Autofahrers lehnt der Angegriffene ab.
An einem Supermarkt in der Gützkower Landstraße schlägt Maik G erneut zu. Über Stunden hinweg ist der zu Boden gefallene Klaus-Dieter Gerecke einer Tortur aus Tritten, Schlägen und Erniedrigungen ausgesetzt. Während sie den Mann foltern, legen sie Rauchpausen mit dazugekommenen Jugendlichen ein. Auf die Frage, was sie machen, antwortete Maik G. schamlos “Penner wegschlagen”. Die dazugekommenen jungen Mopedfahrer brechen später auf, um neue Zigaretten zu kaufen. Dem Haupttäter raten sie wegen seiner bereits blutigen Schuhe nicht mitzukommen. Auch beide Frauen treten weiterhin mehrfach auf das Opfer ein.
Sie hören erst auf, bis sie von dem Opfer kein Lebenszeichen wie ein Röcheln wahrnehmen können. Die jungen Frauen verständigen die Polizei. Sie hätten auf einem Spaziergang den Schwerverletzten gefunden. Maik G. flieht in eine Telefonzelle, wo er in blutigen Klamotten einschläft.
Bevor die Rettungskräfte am Tatort ankommen, ist Klaus-Dieter Gerecke an seinen Verletzungen gestorben.
Die “Baseballschlägerjahre” in Greifswald
Die Geschichte Klaus-Dieter Gereckes ist kein Einzelfall. Laut der Website kein-vergessen-mv.de gibt es seit 1990 in Mecklenburg-Vorpommern 15 bestätigte Todesopfer rechter Gewalt und acht weitere ungeklärte oder Verdachtsfälle. Vier der Opfer kamen aus Greifswald: Eckard Rütz, Horst Diedrich, Klaus-Dieter Gerecke und Rainer Gerecke.
Die Taten fanden vor allem in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren statt, einer Zeit, die später „Baseballschlägerjahre“ genannt werden sollte. Der Begriff steht hierbei stellvertretend für ein Bild, dass sich in vielen ostdeutschen Städten zeigte: Neonazis in Bomberjacken und Springerstiefeln, die an Straßenecken oder vor Supermärkten herumlungern – manchmal mit einem Baseballschläger als Zeichen ihrer Gewaltbereitschaft. Unter dem Hashtag #baseballschlägerjahre auf (damals noch) Twitter teilen viele Betroffene ihre Geschichten. „1994, mit 13 Jahren ist mir das erste Mal bewusst geworden, wie gefährlich Faschos sind, als ca. 30 Glatzen mit Baseballschlägern vor dem Nachbarhaus standen und jemanden suchten. Ich stand zu Hause am Fenster hinter der Küchengardine. Meine Mutter zog (…) mich weg und sagte mir, dass uns das nichts angeht.“, schreibt ein Nutzer.
Auch in Greifswald ist das nicht anders. Eine wichtige Rolle spielt dabei die NPD. Maik Spiegelmacher, Neonazi und ehemaliger NPD-Kreisvorsitzender, möchte damals in Greifswald das Konzept der „National Befreiten Zone“ umsetzen. Damit meinen sie laut Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Gebiete, in denen sie das Alltagsleben und Straßenbild prägen und darüber entscheiden, welche Verhaltensmuster und Lebensstile „erlaubt“ sind – Andersdenkende werden zu Feinden erklärt. Natürlich gab es auch genug, die sich dem entgegenstellten. Dennoch findet „Die Woche“, eine inzwischen eingestellte Zeitung, in einem Artikel aus dem Jahr 2000, Greifswald sei eine „von Neonazis unterwanderte Stadt“.
jung, sozialdarwinistisch und gewaltbereit
Die vier Greifswalder Opfer waren allesamt obdachlos. Von den Täter*innen werden sie als „Assis“ beschimpft, die nichts zur Gesellschaft beitragen würden. In einigen Fällen suchten die Täter*innen ganz gezielt nach „asozialen“ Opfern, die sie schikanieren, verprügeln und ausrauben können. Eine Gruppe von Jugendlichen sucht den obdachlosen Horst Diedrich innerhalb von vier Tagen dreimal auf, schlägt ihn zusammen und raubt ihn aus. Dann lassen sie ihn bewusstlos zurück und nehmen in Kauf, dass er stirbt.
Warum diese Gewalt? Damit die Opfer „niemandem mehr auf der Tasche liegen“ oder um ihnen eine Lektion zu erteilen. Die Taten sind allesamt ein besonders makaberes Ergebnis der sozialdarwinistischen Weltanschauung der Täter*innen.
Sozialdarwinismus ist laut Definition der bpb die Idee, „dass im ‚Kampf um das Dasein‘ […] nur die Besten, die Stärksten oder Erfolgreichsten […] überleben“. Der Begriff wird im rechtsextremen Spektrum genutzt, um eine menschenverachtende Perspektive auf diejenigen zu legitimieren, die nicht in ihr eindimensionales Gesellschaftsbild passen: Außenseiter, Migrant*innen und Wohnungslose. Noch heute ist diese Überzeugung einer der Eckpfeiler neonationalistischer Ideologien.
Sozialdarwinistische Gedanken sind immer noch weit verbreitet.
In der „Mitte-Studie 20/21“, herausgegeben von der Friedrich- Ebert-Stiftung, stimmen 8,7 % der Menschen abwertenden Aussagen über Obdachlose teilweise oder voll zu. Schaut man sich Ostdeutschland alleine an, steigt diese Zahl auf erschreckende 14 %. Die Zustimmung von Abwertungen gegenüber Langzeitarbeitslosen liegt deutschlandweit bei erschreckenden 24,9 %. Die aktuelle Debatte über „BürgergeldVerweigerer“, die gerade von rechter Seite intensiv geführt wird, lässt vermuten, dass diese Zahlen inzwischen sogar noch höher liegen.
Auch die Gewaltbereitschaft scheint aktuell wieder zuzunehmen. Lobbi, eine Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt, meldete zuletzt einen dramatischen Anstieg an rechten Angriffen in Mecklenburg-Vorpommern. Vorpommern-Rügen und Vorpommern-Greifswald zählen dabei, bezogen auf die Einwohnerzahl, zu den Schwerpunktregionen. die Dunkelziffer der Angriffe dürfte dabei deutlich höher sein.
Gedenken und Verantwortung
Die Geschichten dieser Opfer und der zugrunde liegenden Umstände erzählen nicht nur von dem Leid einiger Weniger, sondern auch von einer Gesellschaft, die sich ihrer Verantwortung stellen muss.
Schon kurz nach dem Tod Klaus-Dieter Gereckes solidarisieren sich Greifswalder mit dem Toten. Hunderte Menschen nehmen an einer Gedenkveranstaltung am Tatort teil, tausend an einem Trauermarsch. Für ihn und Eckard Rütz sind Gedenksteine installiert worden. Das Bündnis „Schon Vergessen?“ organisiert jährliche Mahnwachen und auch im Internet gibt es Initiativen, die sich ihrer Geschichte widmen. Auffällig wenig hat damit die Stadt zu tun – die Initiativen sind privat organisiert: von einzelnen Bürger*innen oder Vereinen. Damals wie heute sind längst nicht alle beteiligt. Ein Großteil der Stadt schweigt und vergisst.
Hat sich etwas daran geändert, wie wir Wohnungslosen begegnen? Frank K., der in Greifswald auf der Straße lebte, erzählt 2021 in einem Interview mit gegenuns.de.: „Die Leute gucken viel weg, anstatt hinzugucken oder zu helfen. […] Da wirst du noch blöde angemacht: ‚Was will der Penner hier?’“. Er selbst wurde mehrfach angegriffen, seitdem er auf der Straße lebte. Immer wieder wurden Räumungsbescheide gegen ihn durchgesetzt, bis er seinen provisorischen Schutzplatz am Schießwall verlassen musste. Am 28. Mai 2024 ist Frank K. verstorben.
Am Ende bleibt ein mulmiges Gefühl. Es hat sich viel getan, doch längst nicht genug. Was denn nun machen? Vielleicht fängt es damit an, dass wir darüber reden und nicht wegsehen. Den Raum nicht abtreten. Nicht im Gespräch, nicht in den sozialen Medien und erst Recht nicht auf der Straße.
Beitragsbild: Lea Wendt / Janne Koch
von moritz.magazin | 04.04.2025
Der Gründer des Greifswalder Unternehmens Coldplasmatech, Carsten Mahrenholz, möchte mit dem etablierten Gesundheitssystem brechen. Von Revolutionen, kleinen Wundern und der Ambition, weltweit Menschen mit einer neuen Technologie zu heilen.
von Julia Pöppke
Das Interview ist in einer gekürzten Version in der 172. Ausgabe des moritz.magazins erschienen. Die Ausgabe mit anderen spannenden Artikeln findet ihr online, hier auf dem webmoritz. oder zeitnah in unseren Bibliotheken, Mensen und anderen Uni-Gebäuden.
moritz.magazin: Wie würdest du dein Unternehmen für Fachfremde beschreiben?
Carsten Mahrenholz: Wir stellen Menschen mit Wunden wieder her, die als schwer oder nicht heilbar gelten. Dazu gehören chronische Wunden bis hin zu Schwerstbrandverletzte. Wir haben dafür eine komplizierte Technologie applizierbar gemacht: kaltes Plasma. Ich erkläre es gerne mit einer Star-Trek-Metapher: Bei Raumschiff Enterprise gab es ein kleines Handgerät, das vorne blaue Strahlen ausgesendet hat und damit Wunden heilte. Genau dieses Gerät haben wir jetzt in Realität hergestellt – nur vollautomatisch und mittlerweile behandeln wir in wenigen Minuten den ganzen Körper.
Kannst du mir mehr über die beruflichen Hintergründe erzählen, die zur Gründung des Unternehmens geführt haben?
Wir haben unser Unternehmen damals aus dem Leibniz-Institut für Plasma-Forschung (Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie e. V., Anmerkung der Red.) hier in Greifswald herausgegründet. Zuerst waren wir eine Arbeitsgruppe, die geforscht hat, wie man kaltes Plasma großflächig medizinisch anwenden kann. Nach 18 Monaten hatten wir ein erstes Produkt und haben gegründet. Nach einem Jahr mussten wir alles wegschmeißen, weil es nicht produzierbar und unglaublich kostenintensiv war. Ein großer Schritt für ein junges Unternehmen – aber notwendig. Danach haben wir als Unternehmen angefangen, das Produkt neu zu erfinden und stärker auf die Bedürfnisse des Marktes anzupassen.
Das war 2016. Inzwischen ist die Greifswalder Coldplasmatech GmbH weltweit bekannt für ihre innovative Erfindung, Menschen mit kaltem Plasma zu heilen. Plasma entsteht, wenn Gas zusätzlich Energie zugeführt wird und es somit in den vierten Aggregatzustand wechselt – ein sehr heißes „ionisiertes“ Gas. Plasmamedizin wurde erst dann möglich, als das Plasma hautverträglich auf 37 Gard Celsius erzeugt werden konnte – dann ist es stark wundheilungsfördernd, entzündungshemmend, wirkt antibakteriell und regt zur Neubildung von Gefäßen an. Doch auf dem Weg zu solchen Ergebnissen müssen Rückschläge und Herausforderungen bewältigt werden.
Mit welchen Problemen hattet ihr bei der Gründung zu kämpfen und wie habt ihr diese überwunden?
Wenn du etwas gänzlich Neues machst, hat niemand Erfahrung damit. Menschen neigen dazu, einem zu erzählen, dass man das noch nie so gemacht habe oder das nie funktionieren wird. Die Kunst ist, einen Weg zu finden, den offensichtlich niemand gesehen hat. Das ist eine Herausforderung, der man sich auch persönlich stellen muss, während das Unternehmen wächst. Gerade an Märkten, wie dem Gesundheitsmarkt, der seinen eigenen Regeln folgt und hoch reglementiert ist, muss man kreativ und innovativ sein, um ständig wieder unkonventionell Probleme zu lösen.
Gab es einen Zeitpunkt, wo du an deinen Gründungsplänen gezweifelt hast?
Nein. Zweifel sind keine Option – sie würden alles hinter mir ins Wanken bringen. Menschen verlassen sich darauf, dass ich weiß, was ich tue und Unsicherheit würde nur Panik auslösen. Ich gehe zwar Risiken ein, aber stets kalkuliert, denn jedes Risiko birgt auch Potenzial. Als Gründer will man dieses Potenzial nutzen – denn ohne Risiko gibt es kein Wachstum.
Ihr wollt das Gesundheitssystem revolutionieren. Wo im System siehst du die größte Baustelle, die du mit deinem Unternehmensansatz positiv verändern kannst?
Im Gesundheitssystem und in unserem Bereich ist Versorgung das A und O und der Standard. Mit unserer Technologie haben wir die Möglichkeit einen Paradigmenwechsel zu vollziehen: von einem Versorgenden- zu einem Wundheilungsmarkt. Über Jahrzehnte waren alle Prozesse um den Patienten herum – sei es die Erstattung, die Arbeit, oder wie die Ausbildung funktioniert – auf die Versorgung des Patienten fokussiert. Auf das Behandeln und Pflegen der Wunden. Nichts ist darauf ausgelegt, dass er tatsächlich geheilt wird. Versorgung ist eben ein guter Businesscase für Unternehmen.
Die Mechanismen, die es aktuell im Gesundheitssystem gibt, sind so leider nicht mehr auf das Patientenwohl ausgerichtet. Obwohl Wiederherstellung, auch ökonomisch gesehen, das Beste wäre. Eine verheilte Wunde kostet weniger als eine Wunde, die kontinuierlich versorgt werden muss.
Wenn für die gesetzliche Krankenkasse ein gesamter Bereich wie die chronische Wunde rausgenommen wird, bedeutet das, dass die Krankenkasse faktisch gesehen schrumpft. Also wird nur auf Kostendeckelung geachtet, anstatt auf langfristige Kostenvermeidung. Das sind perfide Mechanismen. Als Unternehmen haben wir etwas, das lebensverändernd für die Patienten ist. Wir haben hervorragende erste Studienergebnisse und trotzdem dauert es Jahre, bis das Gesundheitssystem anfängt, das zu bezahlen, weil es Angst vor schnell steigenden Ausgaben hat. Eine leider sehr innovationsfeindliche Haltung.
Was sind eure Ziele für die nächste Zeit?
Zurzeit sind stecken wir noch in den Kinderschuhen der Verbrennungsmedizin. Wir hätten gerne, dass jeder Schwerstverbrannte in Deutschland mit unserem System behandelt wird. Das ist in einigen Bundesländern schon der Fall. Unternehmerisch geht es vor allem um Wachstum, damit das Unternehmen auf breiteren Füßen steht. Dazu wollen wir über den Tellerrand in Deutschland hinausschauen. Die USA gehören dabei zu unseren Zielmärkten. Wir sind gerade in Österreich und der Schweiz neu auf den Markt gekommen und sind im Gespräch für alle großen Märkte weltweit. Losgelöst von unternehmerischen Zielen schauen wir auf zusätzliche Indikationen: Wir können viel Gutes tun – und das setzen wir um.
In 2025 möchtet ihr euch an den amerikanischen Markt herantasten. Wie wollt ihr das unter den Strukturen des dortigen Gesundheitssystems tun unter der Prämisse, dass der neue Präsident das System beeinflussen wird?
Das hängt stark davon ab, welchen Kurs die neue Regierung im Gesundheitswesen einschlägt. Sollte Donald Trump – wie angekündigt – tatsächlich das Ziel verfolgen, Kosten zu senken, führt aus unserer Sicht kein Weg an einer Fokussierung auf wirksame Heilmethoden vorbei. Langfristige Einsparungen lassen sich nur erzielen, wenn Gesundheit wiederhergestellt wird – statt Symptome dauerhaft zu verwalten.
Genau dafür stehen wir als Unternehmen: Wir setzen uns dafür ein, dass der Wiederherstellungsgedanke im Gesundheitssystem eine zentrale Rolle spielt. Bislang ist dieser Ansatz in vielen Systemen nur randständig verankert – dabei liegt hier der Schlüssel zu nachhaltiger Versorgung und wirtschaftlicher Effizienz.
Erste Bewegungen in diese Richtung sind erkennbar. Auch in den USA beginnt man, Produkte zu deklassifizieren, deren Wirksamkeit nicht belegt ist. In Deutschland verfolgt der Gemeinsame Bundesausschuss eine ähnliche Linie, indem er zunehmend auf evidenzbasierte Bewertungen setzt. Diese Entwicklung begrüßen wir ausdrücklich – sie ist überfällig und richtungsweisend für alle Gesundheitssysteme, die Qualität und Wirtschaftlichkeit vereinen wollen.
Und langfristig: Was ist deine Vision für Coldplasmatech?
Experten sehen uns weltweit als das führende Unternehmen der Plasmamedizin – einer komplett neuen Medizinrichtung. Wir verstehen uns selbst als Marktbereiter im Auftrag des Patienten, notfalls auch gegen das System und gegen Unternehmen, die den alten Status Quo halten möchten. Trotzdem ist es ist nicht einfach, Geld vom Gesundheitssystem zu bekommen, dafür, dass man Menschen heilt.
Ein klares Ziel ist es, Wunden, die Jahrzehnte lang als chronisch und unheilbar galten, den Garaus zu machen. Ich bin echt stolz darauf, dass wir zum Beispiel schwerstverbrannten ukrainischen Soldaten helfen können, und jetzt angefangen haben, Kinder aus Krisengebieten zu behandeln, die unter Buruli Geschwüren oder Verbrennungen leiden, die nicht heilen wollen. Wir heilen sie innerhalb weniger Tage.
Mittlerweile kommen Unternehmen aus der ganzen Welt hier nach Mecklenburg-Vorpommern, die teilweise gar nicht glauben können, was wir machen. Ich zeige ihnen wie unsere Kompetenzzentren arbeiten und wir hier in Europa Patienten behandeln.
Was verbirgt sich hinter eurer Unternehmensphilosophie „kintsugi“?
„Kintsugi“ ist eine japanische Philosophie-Einstellung und eine Kunstform. Dabei werden zerbrochene Tongefäße mit flüssigem Gold repariert. Dadurch werden sie nicht nur wiederhergestellt, sondern sogar besser als vorher. Das ist eine der goldenen Regeln, denen ich auch persönlich folge und nebenbei eine Fähigkeit, die man als Unternehmer braucht – aus Problemen Vorteile bauen. Für unsere Technologie passt die Analogie: Wir stellen etwas wieder her, was eigentlich zerbrochen ist, wovon niemand mehr dachte, dass es wieder funktionieren würde.
Ihr sitzt in Greifswald, habt euch aus einer Greifswalder Forschungseinrichtung herausgegründet. Was motiviert dich dazu, dich aktiv in der lokalen Gründungsszene zu engagieren?
Ich finde es wichtig, dass Unternehmer sich aktiv in das wirtschaftliche Ökosystem einbringen und auch das Land unterstützen, in dem sie groß geworden sind. Allen ist geholfen, wenn man sich gegenseitig mit Rat und Tat zur Seite steht. Wenn es dem Gesamtsystem besser geht, geht es auch den Unternehmen darin besser. Grundsätzlich bin ich aber auch ein großer Fan, altruistische Dinge zu tun, von denen ich initial gar nichts habe. Ich hatte in meinem Leben immer das Glück, dass das wieder zurückgekommen ist.
Die Coldplasmatech ist mittlerweile als Unternehmen ein Teil des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Wir wirken nach außen wie ein Leuchtturm und zeigen, für was MV stehen kann. Wir können als eines der Erfolgsbeispiele genannt werden und darauf bin ich stolz.
Wie schaffst du es, dein Engagement in der Gründungszene mit den Anforderungen deines eigenen Unternehmens zu balancieren?
Es ist ein ständiger Balanceakt – und dazu gehört auch, bewusst „Nein“ sagen zu können. Ich versuche, meine Zeit klar zu strukturieren und mich auf Formate zu konzentrieren, bei denen ich echten Mehrwert stiften kann. Mein Engagement reicht inzwischen weit über die regionale Gründungsszene in Mecklenburg-Vorpommern hinaus – als Mitglied der Perspektivkommission des Bundesministeriums bringe ich meine Expertise auch auf nationaler Ebene ein. Die zentrale Frage für mich lautet: Kann ich mit meiner Erfahrung anderen wirklich weiterhelfen? Ich muss nicht überall präsent sein, aber wenn ich einen sinnvollen Beitrag leisten kann, bin ich mit Überzeugung dabei.
Wie bringst du diese ganzen zeitlichen Herausforderungen in Einklang mit deinem Privatleben?
Tatsächlich gelingt mir das sehr gut – auch weil ich Arbeit und Freizeit nicht strikt voneinander trenne. Das wird oft kritisch gesehen, dabei empfinde ich meine Arbeit als große Bereicherung. Sie gibt mir Energie und Erfüllung, weshalb ich mich auch außerhalb klassischer Arbeitszeiten gern damit beschäftige.
Ich habe eine junge Familie, einen dreijährigen Sohn und bin verliebt in eine beeindruckende Frau, die ebenfalls selbstständig ist. Wir genießen den großen Vorteil, dass wir viele der üblichen Grenzen zwischen Beruf und Privatleben selbst gestalten können. Auf längere Dienstreisen begleitet mich meine Familie häufig, sodass wir Berufliches und Privates ganz bewusst miteinander verbinden. Dadurch gehöre ich wohl zu den wenigen Vätern, die ihr Kind wirklich täglich beim Aufwachsen begleiten konnten – gemeinsam mit seiner Mama.
Was sind Vor- und Nachteile des Start-ups als Arbeitsumgebung im Vergleich zu einem lang etablierten Unternehmen?
Ein großer Vorteil von Start-ups ist die Möglichkeit, sehr früh viel Verantwortung zu übernehmen. Wer sich in der Anfangsphase einem jungen Unternehmen anschließt, wächst gemeinsam mit ihm – und hat dadurch oft deutlich schneller Zugang zu Aufgaben und Positionen, für die man in etablierten Strukturen Jahre oder sogar Jahrzehnte benötigen würde.
Diese Dynamik bringt allerdings auch Herausforderungen mit sich. Verantwortung bedeutet auch Druck, und nicht jeder fühlt sich in einem Umfeld wohl, in dem vieles unvorhersehbar ist. In großen Unternehmen lassen sich Schwierigkeiten oft mit zusätzlichen Ressourcen oder Budgets abfedern. In Start-ups dagegen kann eine einzige strategische Fehlentscheidung oder eine verzögerte Finanzierungsrunde gravierende Folgen haben – bis hin zum Verlust von Arbeitsplätzen.
Gerade diese Unsicherheit ist eine der größten Herausforderungen in der Start-up-Welt. Wir sind stolz darauf, dass wir bisher keinen Personalabbau vornehmen mussten – und das in einem Umfeld, in dem Planbarkeit keineswegs selbstverständlich ist.
Hast du einen Ratschlag für Studierende, die am Anfang ihrer beruflichen Reise stehen?
Mein wichtigster Ratschlag: Tut das, was euch wirklich Freude bereitet. Die größte Leistung entsteht dort, wo Menschen etwas tun, das sie erfüllt – nicht das, was das Umfeld, das Studium oder die Eltern erwarten. Genau diesen Weg bin ich selbst gegangen. Es ist nicht immer der bequemste oder einfachste, aber er gibt einem langfristig am meisten zurück.
Wer seine Stärken kennt und eine Tätigkeit findet, die echten Spaß macht, hat einen klaren Vorteil gegenüber jenen, die nur des Geldes wegen dabei sind. Aus Begeisterung entsteht Energie, aus Energie entsteht Leistung – und wer das lebt, wird gesehen und setzt sich durch.
Welche Tipps hast du für Studierende, die darüber nachdenken, in der Start-up-Szene zu arbeiten oder selbst Gründer*in zu werden?
Wer in der Start-up-Szene arbeiten möchte, sollte vor allem neugierig sein und den Mut mitbringen, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. In jungen Unternehmen sind Strukturen oft noch im Aufbau, klare Zuständigkeiten fehlen manchmal – das bietet riesige Chancen für alle, die mitdenken, mitgestalten und Verantwortung übernehmen wollen. Wer dieses Mindset mitbringt, wird in einem Start-up nicht nur fachlich schnell wachsen, sondern auch echte Erfüllung finden.
Für alle, die selbst gründen wollen, ist es entscheidend, Freude daran zu haben, etwas Kleines groß werden zu lassen. Der Weg ist nicht immer gerade – Niederlagen gehören dazu. Wichtig ist, aus jedem Rückschlag etwas Neues zu formen. Wie ein Phönix, der aus der Asche steigt – oder wie in der japanischen Kintsugi-Kunst, bei der Zerbrochenes mit Gold repariert wird und dadurch an Wert gewinnt. Auch wir sind schon mehrfach gescheitert, aber jedes Mal ist daraus etwas entstanden, das besser war als zuvor. Wer klein und klug scheitert, hat langfristig die besten Chancen, Großes zu schaffen.
Vielen Dank für das Interview.
Beitragsbild: Collage / Kim Mahrenholz, www.kimoment.de
von moritz.magazin | 02.04.2025
In October 2024, Wren Scarborough self-published That Which Sings an action-packed Young Adult Fantasy novel. We sat down with Wren to discuss her new book, her perspective on fairy tales and her own unique approach to writing fantasy.
Interview by Franz-Herman Krauel
This interview was published in a shortened version in the 172. issue of moritz.magazin. You can find the issue with other articles online here, or in physical form in our libraries, canteens and other university buildings.
moritz.magazin: That Which Sings is a “punk rock fairytale”. What makes a punk rock fairytale and what inspired you to write one?
Wren Scarborough: The term “punk-rock fairy tale” actually came after writing the book. It was coined by my friend and reader Grace a few drafts in, at which point I informed her that I would be stealing it for marketing purposes. She may have her own definition, but as a lover of both the punk spirit and fairy tales, I think of it like this:
Firstly, it must have at least the bones of a fairy tale: escapism and adventure, peril and comfort, enchantment and the eucatastrophe. It must take place in Faerie, the realm we are summoned to by the words “once upon a time”, where magic is a simple fact of reality and we do not question why the Wolf speaks or the Giant may take his heart from his body.
Secondly, it must be animated by the values of the punk – the real, proper punk, not just anybody who wears leather and spikes and listens to loud music (and in fact, conformity to the punk aesthetic for the sake of it is completely the opposite of punk). The willingness to be thoroughly and unapologetically oneself regardless of societal pressures, furthermore to rebel against oppressive establishments and authorities, and to suffer the consequences.
To be frank, fairy tales are already pretty punk. They are stories for those who already know the world is rife with monsters, but need to hear that the monsters can be defeated. That even when it seems hopeless, it is your solemn duty to carry on, to endure and to fight to whatever end awaits you.
You’re a big fan of C. S. Lewis (author of the Chronicles of Narnia). Does his work inspire your own writings?
Indirectly, yes, and there are several scenes in That Which Sings where I noticed that inspiration coming through. I’ve never found myself actively drawing from the works of C. S. Lewis, but I love him dearly, and everything I love comes up one way or another in what I write.
The worldbuilding in That Which Sings is very immersive. The magical world of Elphame (setting of the story) feels very alive (often in a literal sense) and the Faeries are very different from the popular image of what a fairy looks like. What’s your worldbuilding process like?
My process is very… maybe “organic” would be the word. I’m not a worldbuilder by nature, those Tolkien (author of Lord of the Rings) types who actively delight in constructing a world down to the smallest details. I love and appreciate hard worldbuilding like that, but I am and have always been a soft worldbuilder (perhaps another area of Lewis’ influence).
I feel things out; I go where the story takes me. I knew I needed Elphame to be beautiful, lush, dangerous, and not quite right. There had to be something uncanny to every aspect, some edge to all that beauty that could be frightening or sickening or mysterious. I also knew I didn’t want my faeries to be either stuck in ancient or medieval times, or overly modernized, and that I needed them to still feel deeply folkloric. I drew from folklore, but played with it freely—the glossary exists in part to clarify how the fae of my Elphame work, not just to explain the basics of what they are in mythology and folklore. So while I did know going in several essentials to the world, mostly I was feeling it out, wandering through Elphame just as much as Nes herself.
The book is thrilling and surprisingly fast paced. How important is pacing to you as a storyteller?
I do think good pacing is essential to making a story work, if only to keep the reader from putting the book down, but good pacing is not necessarily fast pacing. A slower, lingering book can be paced perfectly; it just needs to keep up the tension to continue pulling the reader along. That Which Sings does start rather slowly, all things considered. There’s a long, tense buildup before the action kicks in and immediately starts escalating. This is the kind of thing you feel out, especially with help from your beta readers and critique partners to let you know that hey, Wren, turns out it is actually possible to spend too long describing a faerie market.
The fight scenes in the book oscillate between being delightfully brutal and horrifying. What’s your approach to writing action scenes?
I love writing action scenes, which is probably obvious to anyone who’s read the book. The trick to them is to understand they’re just a collection of moving parts, so as soon as you create a system to track those parts they become far easier to write. I did actually write an extensive Substack post on this, but to summarize:
Know your opponents, weapons, terrain, and how those relate to each other. Take them one movement at a time, like you’re choreographing a dance. Track movements, wounds, and ammunition of multiple opponents by visualizing the scene, either by acting it out or creating the fight in miniature with anything from LEGOs to labeled corn kernels and beans. Figure out when to disorient your reader and when to show them exactly what’s happening. Write out the beats and then flesh them out into prose.
It might sound like a lot, but again, once you have a system it starts to become simple. And really, really fun.
The delightful brutality and the horror are mainly determined by the tone the story calls for at that moment, as different action scenes have different implications. Either one, though, is the result of me enjoying myself a little too much and asking myself just how far I can take this.
Throughout the story, Nes (the protagonist) turns into a bit of a badass. At the same time, she is very vulnerable and suffers through much physical and emotional pain. How important was it to strike that balance between Nes’ badassery and her vulnerability?
Absolutely essential. When I first had the vague notion of this story I was probably around fourteen or so, and a sixteen-year-old girl going on a perilous adventure sounded like an exciting romp and hardly anything more. When I actually sat down to write the story a few years ago, though, I understood that Nes, whatever else she may be or become, was first and foremost a child, and that her story was not so much one of adventure but of a terrible and costly necessity.
One of my rules for writing the book was, “No one is allowed to forget she’s a child.” The only exception to that rule was Nes herself. She could forget, she could tear herself apart and attempt to reforge herself into whatever thing would best complete her mission, but the rest of us, even the faeries, must see the little girl underneath it all.
You argued that it’s essential to the story that Nes is a girl. Could you elaborate on that point?
Could I? Excessively. But it’s a little tricky to do so properly without getting into spoilers.
The most basic aspect of this book’s premise, the rescue/vengeance mission, is the sort of story one usually expects to have a male lead. A lot of the struggles – the physical ones, anyway – which Nes suffers are the sort one is more used to seeing a male character going through, and the sort more easily stomached when it is a man, or even a boy, enduring them. We send real, flesh-and-blood teenage boys into war; we have done so since the dawn of time. We are accustomed, in a sense, to subjecting men and boys to certain kinds of horrors. To subject a woman or a girl to them is something else.
In The Lion, the Witch and the Wardrobe, Father Christmas says that “battles are ugly when women fight.” I found myself dwelling on that quote while writing this book, in part because it’s often misunderstood. It does not mean that women must not fight, or that women make fighting ugly, or any other reactionary interpretation. It means that it is a terrible, hideous thing for circumstances to become so dire that women must fight, that it is unnatural and disordered for women to engage in mortal combat even when it is necessary. Nes suffers in That Which Sings what she, as a girl, is not meant to suffer, but it becomes necessary for her to do so. That alone makes her being a girl essential to the story.
Nes’ girlhood infects endless aspects of the book, in large part because a girl is the thing she cannot allow herself to be. She cannot be soft or gentle or merciful. She cannot hold on to her own feminine weaknesses – which might not sound so bad, unless you understand what must be let go with them. It affects character dynamics, and that’s not even limited to those we see: Nes is her father’s daughter, and to be your father’s daughter is not the same as to be your father’s son.
But it would be essential no matter the story. Being a girl is essential to the story of any girl, just as being a boy is essential to the story of any boy.
Are you already working on a new writing project and would you write a That Which Sings-sequel?
Yes! And never!
The new book is referred to publicly only as 5th Side at this juncture, and it’s quite a bit different from That Which Sings in a lot of ways. A slower, softer, far less straightforward book with a protagonist rather unlike Nes. But of course it’s still me; it’s still filled with strange entities and brutality and fairy tale logic. It’s giving me a hard time, but all the same I’m very much enjoying myself.
Everybody asks about (and a few readers have been lobbying for) a sequel, but That Which Sings was always meant to be a standalone story. I feel I’ve put Nes through more than enough, thank you very much. And anyway, were I to actually continue her story in a sequel, I’m quite sure it would be an almost entirely separate genre from the original story. I’m not sure how many people would be up for that.
I do, however, intend to return to the world of That Which Sings. I didn’t write that glossary for nothing. Elphame and I aren’t done with each other yet.
How can people support your work?
The first thing, of course, is to read the book. You can find That Which Sings on Amazon, or order it from your local library or bookstore. After that, leaving an honest review makes a huge difference, and I do mean an honest review. It’s easy to get the idea that you’re only helping an author if you leave them a four or five star review, but in reality it helps way more to have a lot of varying reviews than a few glowing ones. Plus, what you dislike in a story will likely appeal to another reader, and may even convince them to give the book a shot. Tell your friends and family about it, suggest it for your book club, suggest it to your favorite book reviewer – anything that helps make people aware of it can help.
Thank you for the interview.
Beitragsbild: Wren Scarborough / ikigloo
von moritz.magazin | 17.02.2025
2021 holte die SPD-Kandidatin überraschend das Direktmandat für Greifswald. Bei dieser Wahl wird es schwer, den Erfolg zu wiederholen. Doch für welche Themen setzt sich Kassautzki im Bundestag eigentlich ein?
Von Lara Sitzmann und Meryem Kocabas
Anna Kassautzki wurde 1993 in Heidelberg geboren und wuchs bei Alsfeld im Vogelsbergkreis in Hessen auf. Nach ihrem Abitur in Alsfeld studierte sie Staatswissenschaften in Passau und begann anschließend ein Masterstudium in Greifswald. Bereits mit 13 Jahren war sie in der Antifaschistischen Bildungsinitiative e.V. tätig und mit 20 Jahren trat sie der SPD bei. Vor ihrem Mandat leitete sie den Familienservice der Universität Greifswald.
Bei der Bundestagswahl 2021 gewann sie den Wahlkreis 15 und steht seitdem im Bundestag vor allem für zwei große Themen:
Digitalisierung und Daten
Das klingt zunächst natürlich etwas trocken, doch Kassautzki, die auch als stellvertretende Vorsitzende des Digitalausschusses im Bundestag tätig ist, betont die Relevanz des Themas immer wieder. Laut ihr ist das Internet und seine Infrastruktur nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken. Deswegen fordert sie konkrete Regeln. Auch eine Sicherung der Chancengleichheit, damit auch alle im digitalen Umschwung mitgenommen werden, soll gesichert sein, denn nur das wäre laut Kassautzki auch demokratisch.
In Reden im Bundestag wird auch der Schutz kritischer digitaler Infrastruktur immer wieder erwähnt, insbesondere Ereignisse der letzten Jahre, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, resultieren in immer mehr Angriffen auf Daten und Strukturen in Deutschland. Genau das soll unter anderem eine starke Digitalpolitik verhindern.
Doch was fordert die SPD Kandidatin konkret in diesem Themengebiet? Ihre Webseite erklärt ihre Position zu folgenden Themen:
- Daten: Hier soll eine starke Unterscheidung zwischen allgemein nutzbaren und schützenswerten privaten Daten existieren. Im Internet herrscht oftmals keine Transparenz über die gespeicherten Daten und genau deswegen setzt sich Kassautzki für mehr Datenschutz ein.
- Algorithmen: Diese basieren meist auf nicht komplett nachzuverfolgenden Daten und werden in vielen Branchen benutzt, um Entscheidungen zu treffen. Oftmals sind die Programmierungen dieser jedoch sehr intransparent und auf Optimierung ausgerichtet. Anna Kassautzki problematisiert dies in mehreren Aussagen und Reden stark.
- Open Source: Anders als Algorithmen sind die Codes von Open-Source-Software (Bspw. Wikipedia oder Linux) frei und transparent einsehbar. Für die Förderung dieser Software, dieses „Ökosystems“, setzt sich die Kandidatin ein.
- Games (-Förderung) und E-Sport: Als leidenschaftliche “Gamerin” setzt sie sich für die Förderung von Videospielen als Möglichkeit zur Bildung und Sozialisierung ein. Auch will sie das negative Bild, das viele Deutsche von Videospielen haben, verändern. Hierfür saß Anna Kassautzki 2022 zum ersten Mal in der Jury des Deutschen Computerspielpreises!
Landwirtschaft und Ernährung
Neben ihrer Arbeit in der Partei und am Thema Digitalisierung sitzt Anna Kassautzki auch im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Sie macht sich vor allem für Moore und die Fischerei in Mecklenburg-Vorpommern stark. Hier also eine kleine Übersicht ihrer Forderungen:
mo(o)re für Moore
Trockengelegte Moore machen in Deutschland einen beachtlichen Teil des jährlichen CO₂ Ausschusses aus und werden auch in der Landwirtschaft in MV viel genutzt. Dieses CO₂ soll aber am liebsten im Boden bleiben und da hilft es, die Böden zu nässen. Um die Landwirtschaft nicht zu überfordern, aber trotzdem etwas für den Klimaschutz zu tun, will Kassautzki eine nachhaltige Bewirtschaftung der Moore. Dabei macht sie klar, dass dies nicht ohne Zusammenarbeit mit den Landwirt*innen funktionieren könne.
Nicht ohne Fischerei!
Der gesamte Fischereisektor, nicht nur in der Ostsee, steht unter Bedrohung aufgrund der Klimakatastrophe und Überfischung. Neben Folgen für die Umwelt und das Ökosystem bringt es auch Probleme für die Fischer*innen von MV. Die Abgeordnete betont die Relevanz der Fischerei für die kulturelle Identität der Küstengebiete und für die Ernährung in Deutschland. Sie will den Fischer*innen neue Perspektiven schaffen und auf EU-Ebene an Lösungen für das Problem arbeiten.
So stellt sich Anna Kassautzki selbst vor:
moritz.medien: Wer bist du?
Anna Kassautzki: Ich bin Anna Kassautzki, seit 2021 direkt gewählte Abgeordnete des Wahlkreis 15 im Deutschen Bundestag für die SPD. Ich habe Staatswissenschaften studiert und vor dem Mandat den Familienservice hier an der Universität Greifswald geleitet. Als Abgeordnete möchte ich weiter unsere Region aktiv mitgestalten und moderne Politikansätze in Berlin vertreten. Ich sehe mich als Brückenbauerin zwischen den Bedürfnissen vor Ort und den Entscheidungsprozessen im Bundestag, um Greifswald nachhaltig voranzubringen.
Was sind deine konkreten Ziele für Greifswald?
Ich setze mich für den Ausbau der Vorpommern-Magistrale ein, um Greifswald besser mit dem Zug anzubinden und die Reisezeiten zu verkürzen. Greifswald soll Vorreiter für Bildung, Forschung und nachhaltige Wirtschaft werden. Dazu gehören bessere Studienbedingungen und digitale Infrastruktur. Mit erneuerbaren Energien haben wir ideale Voraussetzungen für grüne Industrien und die Umwälzung der Netzentgelte haben wir bereits erreicht. Zudem setze ich mich für die Wiedervernässung der Niedermoore rund um Greifswald (und überall anders) ein, um CO₂ nachhaltig zu speichern und die Klimakrise zu bekämpfen.
Warum sollten Greifswalder Studis dich wählen?
Als ehemalige Greifswalder Studentin setze ich mich für bessere Studienbedingungen ein. Bereits erreicht: BAföG-Erhöhungen, 1.000€ Studienstarthilfe für vulnerable Gruppen und erweiterter Wohngeldanspruch. Künftig will ich die Mietpreisbremse entfristen, den Mindestlohn auf 15€ erhöhen und das BAföG reformieren, damit Studierende nicht zum Arbeiten neben dem Vollzeitstudium gezwungen werden. Dafür kämpfe ich für ein elternunabhängiges BAföG als Vollzuschuss. Beim Deutschlandticket befürworte ich eine faire, freiwillige Lösung, um bundesweite Mobilität zu ermöglichen, ohne Studis finanziell zu überlasten.
Beitragsbild: Auftragsarbeit/spdfraktion.de/abgeordnete / Collage: Konstantin Ochsenreiter
von moritz.magazin | 08.08.2023
Von Maya Elinor Miller
Im Kontext der Klimakrise ist ziviler Ungehorsam wieder ins Zentrum der politischen Debatten geraten. Heute fragen wir uns, wie Proteste im Angesicht untragbarer Zustände aussehen dürfen und wie wir als Gesellschaft mit ihnen umgehen sollten. Wie diese aktuellen Fragen am Beispiel der Letzten Generation mit der berühmten Definition des Philosophen John Rawls vereinbar sind, erfahrt ihr in einer ausführlichen Version in diesem Artikel, der den gleichnamigen Artikel aus der Ausgabe 163 des moritz.magazins ergänzt.
In diesem Artikel werden wir die politische Theorie des zivilen Ungehorsams von John Rawls auf die Klimaproteste der Letzten Generation anwenden und sie so gesehen reaktualisieren. Das Ziel dabei ist es, zu schauen, ob die Proteste der Letzten Generation der Rawls’schen Definition des zivilen Ungehorsams entsprechen, wo sich Fragen oder Lücken ergeben.
Doch warum soll in diesem Artikel ausgerechnet Rawls‘ Definition des zivilen Ungehorsams auf aktuelle Klimaproteste angewandt werden und nicht Hannah Arendts, Howard Zinns oder Jürgen Habermas‘ Definition von zivilem Ungehorsam? Die Antwort lautet schlicht: Weil man an der Rawls’schen Definition des zivilen Ungehorsams nicht vorbeikommt. Sie ist besonders populär. So oder so werden sich daher die Proteste der Letzten Generation an dieser messen lassen müssen.
Die moritz.medien freuen sich auf eine Zusammenarbeit mit den Teilnehmer*innen des Seminars „Ziviler Ungehorsam“, bei der ausgewählte Inhalte gemeinsam aufbereitet und präsentiert werden. So wird es Studierenden der Politikwissenschaft beispielsweise möglich sein, selbst erarbeitete Texte oder Interviews zu veröffentlichen oder Podcastfolgen für moritz.uncut zu produzieren. Das Ziel der Zusammenarbeit ist es, dem Thema des zivilen Ungehorsams eine Plattform zu bieten und noch mehr Diskussionsraum zu schaffen.
Gerechtigkeit und ziviler Ungehorsam
John Rawls gilt als bedeutendster Philosoph des 20. Jahrhunderts und beschäftigt sich in seinem Denken mit Gerechtigkeit. Hierbei entwickelt er zwei fundamentale Gerechtigkeitsgrundsätze, die erfüllt werden müssen, um von einer gerechten Gesellschaft sprechen zu können. Der erste Grundsatz bezieht sich hierbei auf rechtlich-politische Freiheiten. Der zweite Grundsatz betrachtet hingegen die soziale und ökonomische Grundstruktur einer Gesellschaft. In seiner Theorie der Gerechtigkeit befasst sich Rawls aber auch mit zivilem Ungehorsam.
Hierbei definiert Rawls grundlegende Rahmenbedingungen, unter welchen er zivilen Ungehorsam überhaupt erst als mögliche, sinnvolle und legitime Protestform betrachtet. Außerdem entwickelt er konkrete Kriterien darüber, wie der Protest selbst konzipiert sein sollte beziehungsweise wie sich die Aktivist*innen, die zivilen Ungehorsam praktizieren, zu verhalten haben. Nach Rawls findet ziviler Ungehorsam in einer fast gerechten Gesellschaft statt: Für ihn meint das immer eine Demokratie. Die fast gerechte Gesellschaft beinhaltet, dass die Gesetze, die in dieser Gesellschaft gelten, ebenfalls fast gerecht sind. Rawls sieht vor, dass sich die Gesellschaftsmitglieder bis zu dem Punkt an die Gesetzte halten müssen, in dem eine Ungerechtigkeit so groß wird, dass nur der zivile Ungehorsam einen letzten Ausweg aus der Ungerechtigkeit darstellt. Durch die Aktionen des zivilen Ungehorsams soll dann die fast gerechte Gesellschaft erhalten oder noch gerechter werden. Dafür sollen für Rawls die legalen Mittel zur Bekämpfung der Ungerechtigkeit weitestgehend ausgeschöpft sein. Was ebenfalls deutlich wird ist, dass Rawls im zivilen Ungehorsam eine Stabilisierungsfunktion sieht, um gerechte Institutionen und Gesetze zu stärken.
Ganz konkret definiert Rawls zivilen Ungehorsam als öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, politischen Verstoß gegen Gesetze mit dem Ziel eine Veränderung der herrschenden Gesetze oder eine konsequente Umsetzung bereits herrschender Gesetze zu erwirken. Öffentlich, weil die Protestaktionen für alle sichtbar stattfinden und die Aktivist*innen sich zu ihren Aktionen bekennen und die Konsequenzen für den Gesetzesverstoß auf sich nehmen. Gewaltlos, da man erstens im Protest eine grundlegende Gesetzestreue ausdrücken will und zweitens, weil sich ein Widerspruch entwickeln würde, wenn man im Kampf für mehr Gerechtigkeit Ungerechtigkeit in Form von Gewalt praktizieren würde. Auffällig ist hier, dass Rawls ein sehr breites Verständnis von Gewalt hat, da auch Drohungen und Zwang für ihn indirekte Gewaltanwendung bedeuten. Gewissensbestimmt insofern, als dass man sich vom Sinn für Gerechtigkeit leiten lässt. Hierbei nimmt Rawls an, dass es in der Gesellschaft einen geteilten Gerechtigkeitssinn gibt. Und politisch insofern, als dass die Aktivist*innen mit einem politischen Anliegen oder Grundsätzen an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit appellieren.
Gesetzestreue und die Letzte Generation
Wendet man diese Rahmenbedingungen und Kriterien der Rawls’schen Definition des zivilen Ungehorsams auf die Proteste der Letzten Generation an, so zeichnet sich ein geteiltes Bild. Zuerst einmal kann man eine weite Übereinstimmung der Praxis des zivilen Ungehorsams durch die Letzte Generation mit der theoretischen Definition von John Rawls feststellen. Die Protestaktionen finden im Lichte der Öffentlichkeit statt und es wird, seitens der Aktivist*innen, Rechenschaft abgelegt. Man handelt gewissensbestimmt mit dem Ziel eine bereits herrschende und darüber hinaus zukünftige Ungerechtigkeit abzuwenden. Die Aktionen selbst sind häufig gesetzeswidrig und zielen auf die notwendige Einhaltung bereits herrschender nationaler und internationaler Gesetze und Abkommen, wie die Pariser Klimaziele, und auf notwendige Gesetzesänderungen ab. Nach Angaben der Aktivist*innen der Letzten Generation wird im Protest selbst durch besondere Höflichkeit und die Inkaufnahme der Strafe die grundlegende Gesetzestreue ausgedrückt, welche immer wieder auch durch den Bezug auf das Grundgesetz und das Verfassungsgerichtsurteil vom 29. April 2021 untermauert wird. Zuletzt schwingt in ihren Aktionen immer ein Appell an die Gesellschaft – an uns Bürger*innen – mit.
Eine Frage der Stabilisierung
Es gibt jedoch auch Rawls’sche Kriterien, die nur in Teilen zutreffen oder deren Übereinstimmung mit den Aktionen der Letzten Generation mindestens strittig sind. Ambivalent ist beispielsweise die Frage nach der Stabilisierungswirkung, die Rawls dem zivilen Ungehorsam zuschreibt. Man könnte argumentieren, dass diese im Fall der Letzten Generation eintritt, da etwas gegen die drohenden extremen Folgen der Klimakrise zu unternehmen, als ultimative Rettung vor daraus resultierenden politischen Folgen gewertet werden kann. Dagegen spricht, dass momentan im gesellschaftlichen Diskurs eher eine Polarisierung anhand der Klimaproteste sichtbar wird, also ein Instabilerwerden des gesellschaftlichen und politischen Zusammenhalts. Für mich schließt sich hier allerdings die Frage an, ob und inwieweit man dies der Letzten Generation vorhalten kann. Denn die stabilisierende Wirkung zeigt sich auch bei Rawls erst im letztendlichen Erfolg der zivilungehorsamen Proteste.
Auch die Gewaltlosigkeit ist in Teilen strittig. Nach Selbstaussagen ist die Letzte Generation komplett gewaltfrei. Nie werden Sicherheitskräfte oder Zivilisten angegriffen oder beschimpft. Jedoch liest die deutsche Justiz Aktionen, wie die Blockade von Straßen, als Nötigung, also gewissermaßen als Zwang, was nach Rawls ebenfalls eine Form von Gewalt darstellt. Hier tut sich, wie es scheint, eine fundamentale Frage auf: Denn baut nicht jede Form von Protest einen für das Anliegen meist notwendigen Druck auf, welchen man stets auch als Drohung, Zwang oder Nötigung lesen könnte?
Ein anderer Apell?
Was den Appellcharakter des zivilen Ungehorsams angeht, tut sich ein anderes Problem auf, nämlich die Frage, was zu tun ist, wenn der Appell der Aktivist*innen fehlschlägt.
Momentan scheint es der Letzten Generation nicht zu gelingen, den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit und der Regierenden erfolgreich zu adressieren und auf die bereits herrschende und zukünftige Klimaungerechtigkeit, sowie für ungleiche Partizipationschancen der jungen Generation aufmerksam zu machen. Aus Sicht der Letzten Generation manifestieren die aus dem Klimawandel resultierenden Ungleichheiten daher auch ein Demokratieproblem. Der zielführende Charakter der Aktionen des zivilen Ungehorsams stellt auch für Rawls einen wichtigen Aspekt dar. Dieser Punkt könnte in Anbetracht der aktuellen Entwicklungen die Achillesverse des zivilen Ungehorsams der Letzten Generation darstellen, da es dieser, wie beschrieben, nicht gelingt die Mehrheit der Gesellschaft, den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit und der Regierenden erfolgreich anzusprechen.
Vielleicht liegt an dieser Stelle das Problem in der Artikulation des Protestes der Letzten Generation, welche immer wieder auch mit einer Angst-Rhetorik arbeitet, statt nach dem Vorbild vorhergegangener Protestbewegungen die Debatte um ungleiche Freiheiten aufzunehmen. Es wäre folglich empfehlenswert, die Anliegen der Klimaproteste in die Sprache ungleicher Freiheiten zu überführen. Auch Rawls sieht zivilen Ungehorsam eigentlich nur in Verletzungen von individuellen Freiheitsrechten, d. h. in Verletzungen des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes und von fairer Chancengleichheit, als gerechtfertigt. Außerdem scheinen Protestbewegungen, die sich auf ein Freiheitsproblem bezogen, historisch gesehen erfolgreicher.