von Julia Schlichtkrull | 23.12.2019
Es weihnachtet sehr, auch in Greifswald – und besonders bei den moritz.medien. Mit dem advents.kalender geben wir Euch weihnachtliche Tipps, Tricks, Erfahrungsberichte, Rezepte uvm. für die Adventszeit. Öffnet jeden Tag ein Beitrags-“Türchen”! Im heutigen Türchen: die Kartoffelsalat-Frage.
Wie das Rezept für einen ehrwürdigen, geheimen Hexentrank wird bei uns auch das für den weihnachtlichen Kartoffelsalat von Generation zu Generation in der weiblichen Linie der Familie weitergegeben – von Oma zu Mama und jetzt zu uns. Niemand sonst weiß, was genau und wie viel von allem dazu gegeben werden muss, niemand sonst kennt die Koch- und Ziehzeiten, die nötig sind. Niemand sonst darf es wissen. Kartoffelsalat ist heilig, ist eine Kunst für sich, über die man sich von Familie zu Familie streiten könnte. Kartoffelsalat ist Tradition und Pflicht an Heiligabend für viele Haushalte in Deutschland, genauso wie die dazugehörigen Würstchen. Aber warum überhaupt?
Dass es den Brauch mit den Kartoffeln und der Wurst schon eine ganze Weile gibt, scheint naheliegend, immerhin hat er sich so weit verbreitet, dass heute kaum jemand noch nicht einmal davon gehört hat. Kartoffelsalat – also im weitesten Sinne geschnittene Kartoffeln angereichert mit Zwiebeln oder Gurken und mit Brühe oder Essig übergossen – gibt es in Europa sicher schon, seit die Kartoffel sich in der Küche etablierte. In Deutschland wurde das südamerikanische Gemüse im Laufe des 17. Jahrhunderts eingeführt, aber erst unter dem Preußischen König Friedrich II. (1740-1786) baute man Kartoffeln auch landwirtschaftlich an.
1858 zumindest scheint sich der Kartoffelsalat schon so weit verbreitet zu haben, dass er im Pfälzer Kochbuch aufgeführt wird – allerdings nicht unter dem Unterpunkt “Salate” sondern unter “Warme und kalte Beilagen zum Rindfleisch”. Als eigenständiges Gericht ist er also – zumindest im Pfälzer Raum – noch nicht bekannt. Die Zubereitung aber ist ähnlich. Kartoffeln, Äpfel, eingelegte Gurken, Rotrüben (eine alte Bezeichnung für Rote Bete), Zwiebeln und Schalotten, Fleischbrühe und Essig. Aber ein Unterschied fällt auf – statt Wurst werden als Fleischbeilage Sardellen in den Salat gegeben.
Fisch zu Heiligabend ist auch schon wesentlich länger Tradition. Genauso wie der Kartoffelsalat hat sich der Fisch wohl aus mehreren ähnlichen Gründen behaupten können, die alle mit der besonderen Bedeutung des Weihnachtsfests zu tun haben. Denn früher war vor Weihnachten – so wie auch im Frühling vor Ostern – eine Fastenzeit angesetzt, die neben der religiösen Konnotation auch einen einfachen praktischen Nutzen hatte. Der Winter ist keine Erntezeit, und wenn es an Nahrung nur noch die Reserven aus Sommer und Herbst gibt, muss eben bis zum nächsten Frühjahr weniger konsumiert werden. Hungern um nicht zu verhungern. Weihnachten und Ostern waren dabei besondere Ausnahmen, denn durch die Feste durfte an diesen Tagen ordentlich geschlemmt werden. Zu Weihnachten allerdings erst am 25. Dezember – der 24. war weiterhin Arbeits- und damit auch noch Fastentag. Also musste ein nicht allzu üppiges Gericht her, dass irgendwie noch mit der Fastenzeit zu vereinbaren war. Kartoffelsalat war geboren. Zudem ließ sich das spärliche Essen auch gut mit der religiösen Vorstellung der ärmlichen Umstände von Jesu Geburt vereinbaren, oder mit den bäuerlichen Hirten, die Jesus an Heiligabend in der Krippe vorfanden.
Später wurden oft andere Gründe angegeben, warum sich der Kartoffelsalat und vor allem auch das obligatorische Würstchen so weit verbreitet hat. Die Zubereitungsdauer. Einen Kartoffelsalat selbst herzustellen, erfordert zwar gerne mal einige Stunden, das wichtigste aber: er lässt sich vorbereiten und danach gut aufbewahren. Das war vor allem in nicht allzu lang vergangenen Zeiten notwendig, als der 24. Dezember nur ein halber Feiertag war (wie es auch heute in einigen Berufsfeldern noch gehandhabt wird) und daher den Vormittag noch gearbeitet werden musste. Nachmittags waren dann vor allem Weihnachtsvorbereitungen und später am Abend oder in der Nacht der Kirchbesuch angesagt. Für ein ausgiebiges Kochen blieb da nicht mehr viel Zeit. Den Kartoffelsalat konnte man einfach fertig aus der Speisekammer holen und ein paar Würstchen – kalt oder schnell aufgewärmt – dazu servieren. Damit hatte man immerhin genug Proviant angefressen, um die Christmesse gut zu überstehen.
Aber egal aus welchen Gründen man sich letztendlich für Kartoffelsalat und Würstchen entscheidet – heute ist beides von vielen Heiligabend-Esstischen genauso wenig wegzudenken wie Tannenzapfen und Kerzen als Dekoration und die alljährlichen Familienstreitigkeiten.
Beitragsbild: Till Junker
bearbeitet von: Anne Frieda Müller
von Julia Schlichtkrull | 19.12.2019
Es weihnachtet sehr, auch in Greifswald – und besonders bei den moritz.medien. Mit dem advents.kalender geben wir Euch weihnachtliche Tipps, Tricks, Erfahrungsberichte, Rezepte uvm. für die Adventszeit. Öffnet jeden Tag ein Beitrags-“Türchen”! Im heutigen Türchen helfen Daniel, Pip und Lucy Charles dabei, eine Weihnachtsgeschichte zu schreiben.
Die vergangene Weihnacht
Der nächste Morgen
begrüßte Charles mit heftigen Kopfschmerzen. Die Matratze
unter ihm war weicher, als er es von Zuhause gewohnt war, und auch
die Bettdecke, die lose um seine Beine geschlungen war, fühlte sich
anders an. Was war in der letzten Nacht geschehen? Er hatte den Abend
im Pub verbracht, aber danach war alles verschwommen, ein Schlag
auf den Kopf, bunte Lichter, laute Musik … Vielleicht hatte Wilkie
ihn gefunden. Der Junge war oft morgens in den Straßen Londons
unterwegs, um von einem Schlafzimmer zum nächsten zu schleichen. Es
kam nicht selten vor, dass er dabei einem betrunkenen Charles
über den Weg lief und anstatt zu einer seiner Geliebten schließlich
zu seiner eigenen Wohnung zurückkehrte, seinen halb bewusstlosen
Freund im Schlepptau.
»Wilkie?«,
murmelte er in das Kissen hinein, das so riesig und dick war, dass
sein gesamter Kopf davon verschlungen wurde.
Niemand
antwortete. Aber er konnte Geräusche aus einem anderen Zimmer hören,
etwas klapperte und klirrte leise. Er spürte warmen Sonnenschein auf
seinem Gesicht. Ob Catherine sich wohl bereits Sorgen um ihn machte?
Er bezweifelte es.
»Wilkie!«
Dieses Mal war seine Stimme lauter gewesen, aber nicht unbedingt
kräftiger. Seine Kehle kratzte. Hatte er die ganze Nacht auf der
Straße in der Kälte verbracht?
Langsam
öffnete er die Augen. Das Sonnenlicht blendete ihn und als er zwei,
drei Mal müde blinzelte und der Raum um ihn herum Gestalt annahm,
bemerkte er die Eisblumen auf dem Fenster, die die Strahlen der Sonne
brachen und verstärkten.
Das
Fenster. Es schien nicht an der gleichen Stelle zu sein, an der es in
seiner Erinnerung gewesen war. Zwar hatte er schon lange nicht mehr
bei Wilkie übernachtet, aber konnte er in diesen Monaten seine
Wohnung so sehr umgestellt haben? Oder war er vielleicht gänzlich
umgezogen, von einem wütenden Ehegatten verfolgt, dessen Frau
der Junge wieder einmal bezirzt hatte? Wilkie hielt nicht viel von
solchen Konstrukten wie Liebe und Ehe. Humbug,
nannte er sie.
Ein
wenig beneidete Charles ihn um diese Einstellung.
Er
drehte sich auf den Rücken, stöhnte dabei vor Schmerzen. Sein
Körper fühlte sich ausgezehrt an, die Schultern waren verspannt,
der Kopf brummte wie ein ganzes Stahlwerk, und ihm war übel, so
übel, dass er sich am liebsten sofort umgedreht und erbrochen
hätte.
Charles
zwang sich zur Selbstbeherrschung. Er wollte Wilkies
Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, denn es war sicherlich
nicht das letzte Mal, dass dieser ihn von der Straße auflesen
musste. Und der Junge hatte Stil. So einen Ausbruch der
Übelkeitsgefühle würde er ihm niemals verzeihen.
Er
öffnete die Augen ganz, blinzelte hinauf zur Decke. Und stutzte. Ja,
Wilkie hatte Stil. Aber so viel Stil?
Charles
zumindest hatte die Decke nicht in einem gesättigten Orangeton
in Erinnerung. Auch die darauf gemalten Blumenornamente waren
ihm völlig fremd. Und noch viel seltsamer schien es ihm, dass
die Pinselstriche der Blumen an der Wand hinunter krochen und unten
in ein Meer aus krakeligen Kinderzeichnungen übergingen. Dazwischen
hingen winzige Porträts oder kolorierte Fotografien, eingefasst in
hölzerne Rahmen. Manche von ihnen zeigten zwei Männer, andere ein
junges Mädchen, auf wieder anderen waren alle drei gemeinsam
abgebildet.
Keiner
von ihnen war Wilkie.
Charles
schreckte hoch. Einen Moment lang sah er nur weiße Sterne vor
seinen Augen tanzen, dann konnte er langsam den Raum ausmachen. Das
war definitiv nicht Wilkies Wohnung. Und was immer er über den
Stil der hübsch bemalten Decke noch gedacht hatte, diese Möbel,
allesamt so schrecklich schlicht und glatt gehalten, machten diesen
Eindruck sofort wieder zunichte.
Auf
einem Stuhl zu seiner Seite – ein Stuhl mit nur einem einzigen
Bein, das sich unten in einen krakenartigen Fuß erstreckte –
lagen sein Mantel, seine Weste und seine Hose, alle säuberlich
gefaltet und gestapelt. Charles’ Blick glitt an seinem Körper hinab.
Er trug nur noch sein Hemd und, nach dem was er unter der halb
zurückgeschlagenen Bettdecke ausmachen konnte, seine lange
Unterhose.
Er
war nicht bei Wilkie. Und man hatte ihn entkleidet! Am Ende war es
gar eine Frau gewesen, die ihn in solch einer Blöße, so einer
unanständigen Freizügigkeit gesehen hatte!
Charles
riss die Bettdecke gänzlich zurück und sprang aus dem Bett.
Innerhalb weniger Sekunden war er in seine Kleidung geschlüpft
und bereit aus dem Zimmer zu stürmen, zu flüchten wenn nötig.
Er
kam nur bis zum Flur. Durch die halb geöffnete Tür spähte er
in einen Licht durchfluteten Raum, der mit einem hohen Tisch und
einer Art Küche ausgestattet war. Ein junger Mann stand vor dem Ofen
an einem Herd – ein echter Herd, wenn Charles es richtig sehen
konnte. Von dem Mann konnte er nur kupferrotes Haar erkennen und
seinen schlanken, hoch gewachsenen Körper.
Erinnerungen
zischten wie Blitze durch sein Gedächtnis. Laute Musik. Der Geruch
von süßen Backwaren, auch jetzt lag er wieder in der Luft. Ein
helles Licht und ein riesiger Kasten, bunte grelle Lichter, heißer
Würzwein.
Der
Mann am Herd wandte sich um und lächelte. »Ah, du bist wach.« Er
gestikulierte mit einem riesigen Löffel auf den Tisch zu. »Setz
dich doch schon mal.«
Charles
bewegte sich nicht vom Fleck. Misstrauisch spähte er an dem Mann
vorbei auf die Pfanne, deren Griff er mit der linken Hand hielt. Ein
Stück Fisch zischte fröhlich darin vor sich her. Neben dem Herd auf
einem Küchentisch waren zwei große hölzerne Bretter aufgebaut, die
mit allerlei Gemüse, Käse und Fleisch belegt waren. In einem
kleinen Korb dampfte frisches Brot.
Der
Rothaarige bemerkte Charles’ neugierigen Blick und sein Lachen wurde
breiter, zeigte große Schneidezähne und tiefe Grübchen. »Am
Sinterklaastag gourmetten wir gerne. Kostet zwar ein bisschen mehr,
aber Lucy liebt es.«
Lucy
…
Eine rote schwebende Kugel, auf magische Weise an einem Seil in der
Luft gehalten. Sinterklaas. Lucy
liebt Geschenke.
»Ich
hoffe, du hast gut geschlafen.« Der Rothaarige deutete mit dem
Kochlöffel in einen hinteren Teil des Raumes, in dem ein weiterer
niedriger Tisch und ein Sofa standen. »Daniel und ich haben uns
zusammen da rauf gequetscht. Aber du hast es kaum mehr die Treppe
hoch geschafft, weil du so dicht warst, und da wollten wir dir
wenigstens ein ordentliches Bett anbieten. Noch Kopfschmerzen?«
Ungläubig
betrachtete Charles das Sofa. Es schien kaum groß genug zu sein,
dass er allein bequem darauf Platz gefunden hätte. Sich
vorzustellen, dass zwei Männer, die er kaum kannte, sich diesen
winzigen Raum geteilt hatten, um ihm ihr Bett anzubieten, erfüllte
ihn mit Fassungslosigkeit und einer angenehm warmen Dankbarkeit.
Er
bemerkte, wie der andere ihn noch immer ansah und auf eine Antwort
wartete. Charles lächelte schwach. »Nur ein bisschen.«
Vorsichtig trat er nach vorne und an den Tisch heran, zog sich einen
der Stühle zurück und setzte sich darauf. »Pip war der Name,
richtig?«
Der
Rothaarige lachte und machte sich weiter daran, seinen Fisch zu
braten. »Eigentlich Philip. Aber Daniel hat mich so genannt, seit
wir uns das erste Mal getroffen haben. Er hatte große
Erwartungen an
mich, meinte er.« Der Mann lachte wieder und Charles merkte,
dass er wohl eine Art Witz gemacht haben musste. Der Witz ging nicht
ganz auf, stattdessen zog er nur fragend die Augenbrauen hoch.
Pip
blickte über die Schulter zurück und bemerkte seine Verwirrung. »Du
weißt schon, wegen dem Buch.«
»Buch?«
»Große
Erwartungen. Ist ein Klassiker.«
Charles
zuckte nur die Achseln als Antwort, was den Rothaarigen wieder
zum Lachen brachte. »Gestern Abend warst du noch gesprächiger. Da
hast du ganze Romane gequatscht.«
Charles
wurde hellhörig. »War etwas Brauchbares dabei?«
»Hm?«
»Ich
suche noch eine gute Geschichte für mein nächstes Buch. Aber mir
sind die Ideen ausgegangen.«
»Oh,
du schreibst also wirklich.« Pip zog die Mundwinkel hinab,
überrascht und beeindruckt. »Worüber denn?«
Wieder
zuckte Charles die Schultern. »Über das Leben.«
Pip
lachte. Er schmunzelte weiter, als er den Löffel beiseite legte und
den Fisch neben all den anderen Köstlichkeiten auf einem kleinen
Teller anrichtete. »Warum schreibst du nicht einfach über
Weihnachten? Das ist immer ein gutes Thema.«
Dieses
Mal war es an Charles zu lachen. »Was, über eine herrlich
langweilige Weihnachtsmesse vielleicht?«
»Quatsch.
Über das, was wirklich zählt zu Weihnachten.« Er nahm eines der
Bretter in die Hand und trug es zum Tisch hinüber.
»Freundschaft und Familie. Ein gemütliches Zuhause. Liebe. Das
ist doch das, was Weihnachten ausmacht.«
Charles
schnaubte verächtlich. »Nicht hier in England.«
»Auch
hier in England. Zumindest bei denen, die so viel Glück haben wie
wir.« Pip holte das zweite Brett und stellte es ordentlich neben das
erste. Er betrachtete es mit einem sanften Lächeln, dann hob er den
Blick und sah Charles aus aufrichtigen klaren Augen an. »Hab
ein Herz, das nie verhärtet, ein Gemüt, das nie ermüdet und
eine Berührung, die nie verletzt. Für einander da sein, das heißt
Weihnachten. Etwas für diejenigen tun, denen es nicht so gut geht.
Die letzten Pennies an eine Obdachlosenunterkunft spenden. Oder
einen Fremden von der Straße auflesen.« Er zwinkerte.
Charles
hatte noch nie von so einem Weihnachtsfest gehört. Mit Catherine und
den Kindern ging er in die Kirche, weil es von ihnen erwartet wurde,
mehr nicht. Manchmal las er den Kleinen von der Geburt Jesu vor, wenn
ihm danach war. Dann gingen sie zu Bett, standen am nächsten Morgen
wieder früh auf, verbrachten einen Tag wie jeden anderen. Er hatte
nie etwas gespendet oder den Weihnachtstag als einen besonderen
Tag der Familie betrachtet, und er kannte auch niemanden, der das
anders hielt.
»Daniel
holt gerade Lucy von der Schule ab, aber sie werden bald zurück
sein. Möchtest du mir dabei helfen, den Tisch und den Raum ein wenig
zu schmücken?« Pip ging vor einem kleinen Schrank in die Knie,
kramte darin herum und hielt dann eine große Kiste auf den Armen,
als er sich wieder aufrichtete. Sie war bis zum Rand gefüllt
mit Kerzen, Tannenzweigen, aus Stroh zusammengesteckten Sternen
und roten Tüchern. »Damit alles schön aussieht, wenn die
beiden ankommen. Wir erzählen Lucy dann immer, Sinterklaas
hätte das alles aufgebaut, als er die Geschenke gebracht hat.«
Die
nächsten Minuten verbrachten sie damit, den Raum herzurichten.
Nie zuvor hatte Charles Sterne an die Fenster gehangen oder
Zweige als Schmuck auf den Tisch gelegt, aber er befand, dass es
schön aussah. Warm und herzlich. Sie unterhielten sich ausgelassen,
während sie die gesamte Wohnung in sanftem Kerzenschein erstrahlen
ließen. Pip berichtete ihm davon, wie er als kleiner Junge mit
seinen Eltern Weihnachten gefeiert hatte und wie er diese Werte auch
jetzt noch pflegte, mit seiner eigenen kleinen Familie mit Lucy und
Daniel. Er erzählte viel von den beiden, von der starken Liebe, die
sie alle miteinander verband. Vom Weihnachtszauber, der ihm immer
wieder half, sich bewusst zu werden, wie glücklich er war.
Charles
lauschte interessiert. Es irritierte ihn ein wenig, dass ihn Berichte
über etwas Banales wie das Weihnachtsfest mehr inspirieren konnten
als tausende Kriegsgeschichten vom alten Shapney. Aber Pip ließ es
keinesfalls banal klingen, dieses Weihnachtsfest, sondern nach Wärme
und Liebe, nach Mitgefühl und Barmherzigkeit.
Die
Tür öffnete sich und brachte kalte Winterluft in die Wohnung. Ein
kleines Mädchen tapste hinein, eine Tasche auf dem Rücken, die fast
genauso groß schien wie sie selbst, das rote, geflochtene Haar
voller weißer Flocken. Ihre Augen weiteten sich vor Freude und
Kerzenschein spiegelte sich darin wider. Pip trat zu ihr heran, ging
vor ihr in die Knie und hauchte ihr einen Kuss auf die eiskalte
Stirn, dann richtete er sich wieder auf und schenkte auch Daniel
einen Kuss. »Happy Sinterklaas.«
Lucys
Begeisterung war wunderschön anzusehen. Ihre Aufregung wuchs
mit jedem der kleinen Geschenke, die sie von Pip überreicht bekam,
aber am meisten schien sie sich dennoch über die Kerzen und den
Weihnachtsschmuck zu freuen. Sie war ein aufgewecktes Mädchen, das
ununterbrochen redete und lachte. Sie redete weiter, während sie
aßen, erzählte, was sie den Tag über erlebt hatte, und ließ dabei
die alltäglichsten Kleinigkeiten klingen wie einen
Abenteuerroman.
Schließlich
verließ Pip das Zimmer und kam wenig später zurück, ein Buch in
der Hand. »Hier«, sagte er zu Charles. »Es ist jetzt nicht
eingepackt. Aber das ist für dich.«
Charles
nahm es entgegen und blickte auf den Einband hinunter. Es war in
rotes Leder eingeschlagen, auf dem mit goldener Farbe
verschlungene Linien und Buchstaben gezeichnet waren. Eine
Weihnachtsgeschichte. Charles Dickens.
Charles
stockte der Atem. Das war sein Name. Sein Name, aber eine Geschichte,
die er nicht geschrieben hatte. Hatte ein anderer Autor seinen Namen
benutzt? Oder konnte es sein …
Seine
Finger zitterten, als er vorsichtig die erste Seite aufschlug.
Chapman and
Hall, 1843.
Ihm wurde schwindelig.
Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, als würden die
Buchstaben wie flüssige Tinte ineinander laufen, dann schienen
sie die ganze Seite einzunehmen, während der Raum um ihm herum
dunkler wurde, als hätte man plötzlich ein gewaltiges Tuch über
ihn geworfen.
Das nächste, was er
spürte, war wie er fiel.
Und aufschlug. Kalter, harter Stein. Regentropfen auf seinem Gesicht, die in seine Haut einschnitten. Er hörte Stimmen, Männer, die sich anschrien, als sie miteinander stritten. Seine Augen öffneten sich nur mühsam, aber dann gelang es ihm. Es war dunkel. Nacht. Über ihm ragten die Londoner Fassaden in den Himmel auf.
Ein Gesicht schob sich
in sein Blickfeld, das zur Hälfte von einem grauen Bart bedeckt
wurde, und zur anderen von dunklen Schatten, die ein hoch
aufragender Zylinder warf. »’tschuldigung,
Sir.« Der Man hob seine Hand, um damit herum zu fuchteln. Seine
Finger hielten eine Glasflasche umklammert. Cola.
»Ich
habe gerade in meinem Zimmer an einem neuen Konzept gearbeitet,
als dieses dämliche Vieh durchs Fenster gesprungen ist.«
Charles
stützte die Handflächen auf den nassen Boden und drückte sich auf.
Seine Fingerspitzen berührten etwas und er wandte den Blick hinab.
»Diese
Katze hat einfach meine neueste Erfindung gepackt und ist damit davon
gesprungen«, fuhr der Mann unbeirrt fort. »Ist einfach raus aus dem
Fenster und über die Dächer damit.«
Charles
hörte ihn nicht mehr. In einer größer werdenden Pfütze aus
Regenwasser lag ein Buch mit rotem Ledereinband, dessen Seiten
langsam begannen, sich zu wellen von der Nässe. Goldene
verschlungene Linien, die ein Netz aus Blättern formten, aber
dort, wo zuvor der Titel und sein Name gestanden hatten, war
jetzt nichts als Leere.
Aber
er wusste ohnehin, was dort zu stehen hatte.
»Konnte
ja nicht ahnen, dass sie die Flasche einfach auf Ihren Kopf fallen
lässt. Geht es Ihnen denn gut, Sir? Das blutet ja nun doch ein
wenig.«
Charles
kümmerte sich nicht darum. Er lachte nur, so laut, dass es durch die
nächtliche Londoner Stille schallte.
»Gibt
es ein größeres Geschenk als die Liebe einer Katze?«
»Sir?«
Charles
schnappte sich das Buch und sprang auf die Beine. Ein bisschen
schwindelte ihm noch, vielleicht von dem Sturz. Wie die drei wohl
geguckt haben mochten, als er vor ihnen vom Stuhl gefallen und
verschwunden war?
Er
wandte sich zu dem Mann um, schenkte ihm ein dankbares Lächeln
und ein Nicken. »Sie haben da etwas Großartiges erfunden, mein
Freund!«,
stieß er aus, etwas atemlos vor Begeisterung. Er musste nach
Hause, auf der Stelle, er musste eine Geschichte schreiben, voller
Liebe und Barmherzigkeit und all der wunderbaren Weihnachtsdinge,
eine Weihnachtsgeschichte.
Charles
sah hinab auf die Flasche des Mannes und nickte noch einmal. »Aber
ich würde eine weiß-rote Farbgebung vorschlagen. Das passt
doch etwas besser zu Weihnachten als dieses schlichte Weiß, finden
Sie nicht?«
»’tschuldigung?«
»Happy
Sinterklaas!«
Und er stürmte davon. Weiße Schneeflocken in rotem Haar. Eine
rote schwebende Kugel an weißem Seil. Weiße Kerzen auf rotem Band.
Ein roter Einband und weiße Seiten, die er füllen würde.
Lucy
liebt Geschenke. Und sie liebt es zu singen und zu basteln. Und sie
liebt Geschichten.
Er würde ihr eine Geschichte schreiben. Eine Geschichte der Zukunft und der Vergangenheit, und vor allem der Gegenwart. Eine Geschichte des Glücks und der Liebe. Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben konnte.
Beitragsbild: Till Junker
bearbeitet von: Anne Frieda Müller