Ein Stein, um zu erinnern

Ein Stein, um zu erinnern

Jürgen Wenke trägt eine Regenbogenmütze und hat einen Regenbogenfächer dabei, extra für die Fotos. Es ist ja auch ein schönes Bild, dieser Regenbogen. Die Schnittstelle zwischen Regen und Sonne, der Übergang von etwas Trübem und Tristem zu etwas Hellem, Hoffnungsvollem. Für manche ist der Regenbogen auch ein Zeichen der Standhaftigkeit, des Kampfes für Sichtbarkeit und Akzeptanz. Eine Erinnerung an all jene, die diesen Weg schon vor uns gegangen sind.

Es regnet ein wenig an diesem Morgen, aber das Wasser hilft auch beim Putzen des Stolpersteins. Ein einfacher Küchenspülschwamm, etwas Scheuermilch, klares Leitungswasser aus der Trinkflasche zum Abspülen. Das ist die mechanische Weise, erklärt mir Jürgen, während er die Oberfläche des Steins wieder zum Glänzen schrubbt. Es gibt auch noch eine chemische Methode, bei der man eine Lösung aus Salz und Essig einwirken lässt, doch das greift auch das Messing an, sodass es sich rötlich verfärbt. Jürgen hat Erfahrung im Umgang mit den Stolpersteinen. Etwa 60 davon hat er bereits in Auftrag gegeben, und stolz berichtet er mir auch schon von denen, die für das nächste Jahr geplant sind. Für die Anfertigung und in der Regel auch für die Verlegung ist der Künstler Gunter Demnig zuständig, während Jürgens Aufgabe vor allem in der Recherche zu den jeweiligen Opfern liegt. Von anonymen Listen mit hunderten von Namen, über Geburts- und Sterbeurkunden und Verfolgungsakten bis hin zur Kontaktaufnahme mit noch lebenden Angehörigen, bis ein mehr oder weniger detailliertes Bild der Betroffenen entsteht, eine Lebens- und Leidensgeschichte, die Jürgen auch auf seiner Homepage teilt. „Das geht einem schon sehr nahe“, sagt er, nickt dabei und das sonst so präsente Lächeln auf seinem Gesicht verschwindet für einen Moment.

17 Jahre ist es nun her, dass Jürgen seine Recherchen aufgenommen hat. Damals, auf einem Weg durch die Straßen seiner Heimatstadt Bochums, wurde ihm bewusst, dass sich unter all den verlegten Steinen kein einziger für diejenigen finden lässt, die unter dem Paragraphen 175 verurteilt wurden: Homosexuelle. Also begann er, nachzuforschen, und stieß schließlich auf die Arbeit eines Historikers zu einem Doppelstigmatisierten, Wilhelm Hünnebeck, in den Worten der Nazis „Halbjude“, aber verfolgt nach §175. Jürgen war unzufrieden mit der unzulänglichen Recherche, die vor ihm betrieben wurde, und machte sich selbst an die Arbeit. Wilhelm Hünnebeck war sein erster Stolperstein, während Hünnebeck selbst bereits 10 Jahre zuvor ein Stein gewidmet wurde. Allerdings ohne den tatsächlichen Grund für die Verfolgung, seine Homosexualität.

Über die Zeit häuften sich die Namen und Lebensläufe an. Über seine begonnene Recherche gelangte Jürgen an die Listen der KZs Auschwitz und Buchenwald, jeweils mit 136 und 550 Namen der bekannten Opfer, die den rosa Winkel tragen mussten. „Dann fand ich die Liste aus Dachau, dann die aus Sachsenhausen. Und es geht so weiter. Wenn ich jetzt forsche, stellt sich nicht mehr die Frage Wie mache ich weiter?, sondern nur Wie beschränke ich mich?“ Um nur zehn Prozent der Namen abzuarbeiten, müsste er wohl 200 Jahre alt werden, scherzt er. Aber man müsse irgendwann realisieren, dass es nicht darum gehen kann, die Geschichten aller Opfer aufzuarbeiten, sondern Stellvertreter*innen zu finden. Stellvertreter*innen für die Verfolgung, für die Leidensgeschichte. Auch Jürgens eigenes Archiv Zuhause wächst immer weiter. „Ich könnte dir da wahrscheinlich zweieinhalbtausend Namen nennen, von Leuten, die in diesen Lagern waren.“ Dieses Archiv ist auch ein guter Startpunkt, wenn jemand direkt auf ihn zukommt, um einen Stolperstein zu verlegen, um zum Beispiel dem Wunsch nachzukommen, sich für einen Stein in der eigenen Heimat einzusetzen.

Wir stellen uns an den Säulen des Theatereingangs unter, während der Regen die letzten Schaumblasen von Kurt Brüssows Namen und seiner Verfolgungsgeschichte fortwäscht. „Mehr ginge nicht drauf an Schrift“, sagt Jürgen. Bei den meisten Steinen ist noch die Anmerkung „Hier wohnte“ über dem Namen eingraviert, doch in Brüssows Fall wurde der Stein nicht an seinem letzten freiwillig gewählten Wohnort verlegt, sondern an seinem Schaffensort, dem Greifswalder Theater. Auf den Schauspieler, der 1940 inhaftiert und 1943 zwangskastriert wurde, ist Jürgen über eine Anfrage gestoßen. Der Mann, der ihn anfragte, stammte zwar von Rügen, doch dort für die vielen kleinen Dörfer jemanden zu finden, ist schwierig. Also weitete Jürgen die Suche aus, auf Stralsund, Wismar und Greifswald, und stieß schließlich auf Kurt Brüssow. Ein „Volltreffer“, nennt er den Fund, denn von Brüssow ist eine vollständige Akte von 30 bis 40 Seiten erhalten. Außerdem stößt er nach einer aufwendigen Reise durch verschiedene Einwohnermeldeämter schließlich sogar auf eine noch lebende Stiefenkeltochter, die fassungslos ist, als sie die Geschichte ihres Großvaters liest. Es folgen mehrere persönliche Treffen, lange Gespräche, der Austausch von Fotos und Erzählungen. „So kam eins zum anderen.“ Jürgen berichtet so lebendig von seinen Nachforschungen und den Treffen, als hätten sie erst gestern stattgefunden. „Zum Schluss war das eben eine Geschichte, die den ganzen Teil des Lebens umfasst, soweit man das sagen kann. Den Mann selbst kann ich natürlich leider nicht mehr interviewen, dafür kam ich dann sozusagen zu spät.“ Trotzdem, als er ein Bild Kurt Brüssows aus seiner Tasche holt, um es für ein Foto neben den Stein zu legen, sieht er es an, als hätte er den Schauspieler selbst gekannt.

Der nächste Stolperstein wird morgen in Wismar verlegt. Fritz Stein war Kulturbautechniker, als er nach einer Haftstrafe in das KZ Auschwitz verlegt wurde. Anders als Kurt Brüssow überlebte er die Gefangenschaft nicht, sondern starb bereits mit 38 Jahren an den erlittenen Torturen. Auf Fritz Stein stieß Jürgen durch das Buch „Erinnern in Auschwitz. Auch an sexuelle Minderheiten„. Dem „kleinen Mann mit der Brille“, wie Jürgen ihn nennt, waren nur vier Zeilen und ein Foto gewidmet, aber es war sein Geburtsort, der für Jürgen aus der Masse herausstach. Ein kleines Dorf, in dem er vor einiger Zeit bereits einen Stolperstein verlegte, und in dem aufgrund seiner geschlossenen, dörflichen Struktur noch immer Angehörige und sogar die Kinder der damaligen Denunziant*innen leben. Fritz Stein wählte jedoch Wismar zuletzt als Wohnort aus, also geht die Reise dorthin. Jürgen freut sich auf die Verlegung, denn er wird dabei auch den Neffen und die Großnichte Fritz Steins kennenlernen, mit denen er zuvor nur übers Telefon Kontakt hatte. Wie bei den meisten Opfern, zu denen er recherchiert hat, wussten die Angehörigen nichts vom wahren Grund der Verurteilung Fritz Steins. In der Familie wurde stattdessen behauptet, dass Stein ein Verhältnis mit einer Jüdin gehabt hätte. „Das war leichter offensichtlich als zu sagen ‚Er war schwul'“, erklärt Jürgen mit einem Schulterzucken. „Damit war er immerhin ein Straftäter.“ Bei der Verlegung möchte auch Steins Großnichte einige Worte an die Anwesenden richten, worauf sich Jürgen besonders freut. Obwohl er bereits einige Angehörige hat kennenlernen dürfen, ist das das erste Mal, erzählt er, dass jemand selbst etwas sagen möchte. Die meisten sind dafür viel zu überwältigt.

Wir stehen noch immer an den Säulen des Theatereingangs, schauen immer wieder zu dem Plakat der Burschenschaft auf der anderen Seite hinüber, scherzen über deren konservatives Weltbild, über Fußball und die katholische Kirche. Das Lachen ist befreiend, auch wenn es mit einem Wermutstropfen einhergeht, denn die Wahrheit tut weh. All das Verstecken, die Ausgrenzung und Verfolgung queerer Menschen, mit denen sich Jürgen in seiner Arbeit beschäftigt hat, sind eben nicht nur Relikte der Vergangenheit. Und gerade deshalb ist das Erinnern daran und an die Menschen, die auf diesem Leidensweg gegangen sind, auch heute noch so wichtig.

Als wir uns schließlich verabschieden, hat der Regen aufgehört, und zwischen einer dichten Wolkendecke lugt sogar die Sonne hervor. Einen Regenbogen gibt es nicht. Zumindest nicht am Himmel.

Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Verlegung eines Stolpersteins zur Würdigung von Fritz Stein
Wann? Mittwoch, dem 09.11.2022, um 11 Uhr
Wo? Wismar, Spiegelberg 54, vor dem dortigen Wohnhaus

Beitragsbilder: Julian Schlichtkrull

Hol Luft, Emma – The Prom. Eine Rezension

Hol Luft, Emma – The Prom. Eine Rezension

Alleine am Rand der Bühne und zur Hälfte im Halbschatten verborgen steht Emma da, gekleidet in eine schlichte orangene Jacke, eine gerade geschnittene Jeans und bereits etwas ausgetretene Turnschuhe. „Hol Luft, Emma“, singt sie, anfangs noch ganz leise und zerbrech­lich, dem Publikum entgegen, und macht mit diesen Worten auch sich selbst Mut. Denn Emma hat sich vor Kurzem geoutet und damit nicht nur die Abneigung ihrer Mitschüler*innen und deren Eltern auf sich gezogen. Sie könnte durch eben dieses Outing auch den gesamten Abschluss­ball ihrer Klassenstufe in Gefahr gebracht haben. Nur wegen des Wunschs nach einem einzigen Tanz mit dem Mädchen, das sie liebt.

Das Musical The Prom – Der Abschlussball, das derzeit im Kaisersaal des Greifswalder Theaters aufgeführt wird, basiert auf dem Stück von Chad Beguelin (2016) und der anschließenden Netflix-Verfilmung (2020). Die Greifswalder Aufführung beeindruckt in erster Linie durch ihre Schlichtheit. Die Bühne ist nur dezent gestaltet – wo wir uns befinden symbolisieren nur ein Spind oder ein Tisch oder vier Bürostühle, die allesamt schnell auf- und abgebaut und hin und her geschoben werden können. Gefühle entstehen vor allem durch die Abwesenheit von großen Effekten und durch das Spiel mit Licht und Dunkelheit, mit den Farben. Und The Prom beeindruckt durch seine Nahbarkeit. Denn der gesamte Cast besteht selbst aus Schüler*innen, denen man abkauft, dass sie verstehen, worüber sie dort sprechen und singen. Die Neunt- bis Zwölftklässler*innen des Jahn-Gymnasiums wissen, was es bedeutet, seinen Platz in der Schubladenwelt finden und behaupten zu müssen, mit der Angst im Hinterkopf, möglicherweise abgelehnt zu werden, von Gleichaltrigen, den Eltern oder vielleicht sogar der ganzen Gesellschaft.

Von Fremdbestimmung und Eigeninitiative

Unterstützt wird Emma bei ihrem Kampf vom Schulleiter und vier etwas in die Jahre gekommenen Broadway-Schauspieler*innen. Es wirkt ein wenig befremdlich und erinnert beinahe an die alltäg­liche Bevormundung queerer Leute durch nicht-queere Menschen, wenn die Vier ohne Absprache mit Emma für die Schülerin sprechen und handeln. Aber wie so vieles im echten Leben ist auch das Stück ein Prozess. Und so merkt Emma gerade durch die Fehler ihrer Schutzengel-Diven, dass sie anfangen muss, für sich selbst zu sprechen. Wir dürfen sie dabei begleiten, wie sie zunehmend ihre eigene Stimme findet, und auf diesem steinigen Weg nicht nur sich selbst, sondern auch ihren eigentlichen Helfer*innen hilft – sie selbst zu sein, Mut zu haben, für sich einzustehen. Und ein Stück weit hilft sie damit auch uns Zuschauer*innen.

Dabei ist es keinesfalls Emmas Anliegen, diese Bürden auf sich zu laden und der Welt – oder zumindest dem vor Wut kochenden Elternrat – entgegenzutreten. „Ich will keinen Aufstand machen, bin zum Vorbild nicht gemacht“, singt sie und klammert sich dabei verzweifelt an die Hände ihrer Freundin. Und während die Eltern den Ball um jeden Preis verhindern wollen und mit dem Finger auf diejenigen zeigen, die auch für Emma einen Ball fordern, und sich damit gegen das Recht der freien Wahl ein diskriminierendes Arschloch zu sein stellen wollen, steht Emma auf der anderen Seite der Bühne und sagt in einer fast schon absurden Einfachheit: „Ich möchte doch nur zum Abschlussball gehen.“

Die Komik in der Absurdität des Tragischen

Solche Gegenüberstellungen zweier Situationen in der gleichen Szene durchziehen das Stück wie ein roter Faden. Sie verdeutlichen die Ungerechtigkeit und die Hilflosigkeit, wenn man als Einzelne*r gegen alle anderen steht. Und genau diese Ungerechtigkeit ist es, die im Publikum immer wieder teils Unverständnis, teils eine unangemessen wirkende Belustigung auslöst. „Das ist ein Albtraum“, sagt Emma, und ihr Schulleiter erwidert trocken: „Das ist kein Albtraum. Aus einem Albtraum kannst du aufwachen“, und so aus der Ferne betrachtet kann man lachen über diese Worte. Hier im Publikum ist es ja immerhin auch geradezu lächerlich, dass ein erwachsener Mann nur wegen seines Outings seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr zu seiner Mutter haben könnte, von hier aus sieht es absurd komisch aus, wenn die schillernden Broadway-Schauspieler*innen inmitten der schwarzgekleideten Masse stehen, von Akzeptanz singen und dabei von den genervten Monstertruck-Fans ausgebuht werden, die doch eigentlich nur den Sport sehen wollen.

Diejenigen, die solche Szenen aus dem eigenen Alltag kennen, haben aber hingegen vielleicht kein Lachen auf den Lippen, sondern Tränen in den Augen. Man schaut sich einen Moment im Publikum um, blickt in die vielen erheiterten Gesichter, wird zum Nachdenken angeregt. Warum kommt uns Diskriminierung und Ausgrenzung auf der Bühne so absurd und lächerlich vor? Warum können wir hier im Publikum ihre absolute Sinnfreiheit erkennen? Warum gelingt uns das im echten Leben so oft nicht, obwohl es doch täglich direkt in unserer Mitte geschieht?

Ein amerikanisches Musical?

Denn wer regelmäßig nach Neuigkeiten über die LGBTQ+-Community schaut, stolpert andauernd darüber: Im Land der Glorreichen und Freien wurde wieder ein Gesetz gekippt, hat wieder eine weitere Minderheit ihre Rechte verloren. Ob es das im März verabschiedete Don’t say gay bill Floridas ist, nach dem Erzieher*innen und Lehrkräfte gegenüber Kindern im Kindergarten- und Grundschulalter nichts mehr erwähnen dürfen, das gleichgeschlechtliche Liebe oder trans*-Identitäten andeuten und damit Kinder frühsexualisieren könnte (keine Sorge, Genderparties und Trickfilm-Küsse zwischen Disneyprinz und -prinzessin sind selbstverständlich weiterhin erlaubt). Oder ob es die verschiedenen Gesetze der Südstaaten sind, die alle bereits in diesem Jahr beschlossen wurden und unter anderem Eltern und Lehrkräften mit bis zu 10 Jahren Gefängnis drohen, wenn diese ihren trans*-Kindern helfen wollen, sich in ihrem Körper wohler zu fühlen. Auch der reale Fall McMillen v. Itawamba County School District, auf dem The Prom beruht und bei dem einer Schülerin die Teilnahme an ihrem eigenen Abschlussball verweigert werden sollte, nur weil sie ihre Freundin als Begleitung mitbringen wollte, ist gerade einmal 12 Jahre her, und auch wenn dieser Prozess große Medienaufmerksamkeit erhielt, ist er bei Weitem kein Einzelfall.

Aber das ist ja nur Amerika, nicht wahr? In Deutschland dürfen wir immerhin schon seit nun fast 5 Jahren unsere gleichgeschlechtlichen Partner*innen heiraten (zur besseren Anschaulichkeit: die „Ehe für Alle“ ist damit vom Anfang der Coronapandemie genauso weit entfernt wie wir heute), und seit bereits etwas mehr als 10 Jahren kann ich theoretisch mein Geschlecht im Ausweis ändern lassen, ohne zwangssterilisiert zu werden. Großartig! Und trotzdem wirkt die Rhetorik des Elternrats an Emmas Schule nur allzu vertraut. Denn sie wird noch immer zahlreich genutzt, auch hier. Es ist erschreckend, wenn man ohnmächtig wie Emma und ratlos wie zwischen all den lachenden Zu­schauer*innen dabei zusehen muss, wenn die Partei dieBasis, die erst am vergangenen Sonntag in der Greifswalder OB-Wahl auf mehr als 8 Prozent aller Stimmen kam, in ihren Artikeln sichtbar queere Menschen als „extremste Beispiele“ beschimpft und im gleichen Atemzug glaubt, für „unauffälli­gere“ queere Menschen sprechen zu können, die sich angeblich von all jenen „von der Realität weit entfernten“ Individuen angegriffen fühlen. Würden wir über diese Art der Diskriminierung auch lachen, wenn wir sie mit genug Distanz auf der Theaterbühne sehen würden?

The Prom – Der Abschlussball wird noch drei Mal im Kaisersaal aufgeführt, an diesem Donnerstag, Freitag und Samstag. Gespielt von Schüler*innen des Jahn-Gymnasiums ist es sicherlich ein Stück, dass in erster Linie Freund*innen und Familie in den Theatersaal lockt, aber das sollte es nicht sein. Denn Emmas Geschichte ist nicht nur aus der Begeisterung einer Gruppe von Jugendlichen für eine Netflix-Adaption entstanden, sondern aus der Realität unserer Gesellschaft. Und es ist eben diese Nähe zu unseren eigenen Erfahrungen von Diskriminierung – egal welcher Art –, die das Stück für das ge­samte Publikum so fühlbar macht und einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Das Wichtigste auf einen Blick:

Was? Musical The Prom – Der Abschlussball
Wann? Donnerstag, Freitag, Samstag, 16., 17. und 18.06.2022, jeweils 19:30 Uhr
Wo? Kaisersaal, Theater Greifswald
Preis? 12 Euro, ermäßigt für Studierende 10 Euro; Karten sind online oder an der Abendkasse erhältlich

Beitragsbild: Julian Schlichtkrull

Von Angesicht zu Angesicht: der Markt der Möglichkeiten

Von Angesicht zu Angesicht: der Markt der Möglichkeiten

Er ist zurück und nach zwei Jahren in digitaler Ausführung nun endlich wieder in Präsenz: Morgen, am Samstag den 02.04.2022, habt ihr die Möglichkeit, mit den verschiedensten Vereinen und Initiativen, die unsere Universität und Stadt zu bieten haben, ins Gespräch zu kommen – face to face und quasi zum Anfassen (aber bitte nicht zu sehr, wir haben ja immer noch Corona).

Der Markt der Möglichkeiten. Diejenigen von euch, die schon länger an der Uni Greifswald studieren, können sich vielleicht noch schwach an ihn erinnern, wie an einen Traum, bei dem man sich nicht sicher ist, ob er vielleicht doch wirklich passiert ist. Andere, die ihr Studium erst in den letzten zwei Jahren begonnen haben, kennen ihn nur noch als Kacheln auf einem flimmernden Bildschirm, stockenden Vorträgen mit abbrechender Internetverbindung, PowerPoint-Präsentationen zum selber Durchlesen. Und wieder andere, die erst in diesem Semester an die Uni gekommen sind, kennen ihn noch gar nicht und können sich überraschen lassen, wenn sie sich morgen in das Stände-Getümmel stürzen.

An diesem Samstag, von 12 bis 16 Uhr, habt ihr die Möglichkeit, von Stand zu Stand zu schlendern, euch über die verschiedenen Organisationen, an denen ihr euch neben dem Studium beteiligen könnt, zu informieren und mit den Mitgliedern ins Gespräch zu kommen. Stattfinden wird der Markt der Möglichkeiten dieses Jahr in der Mensa am Beitz-Platz. Ihr selbst müsst nichts weiter mitbringen als einen 3G-Nachweis über euren Genesenen-, Geimpften- oder Getesteten-Status, eine Maske, etwas Interesse und vielleicht eine*n Freund*in, damit ihr in dem Chaos nicht verloren geht. Im Vorfeld haben sich nämlich bereits 50 Vereine, AGs, Clubs, Parteien, Initiativen und mehr angemeldet, die an dem Markt teilnehmen werden. Wenn ihr euch schon einmal einen Überblick verschaffen wollt, wer euch alles so erwartet, findet ihr die Liste mit allen Teilnehmenden hier bei NOVA (Achtung: die Startzeit des Markts der Möglichkeiten hat sich auf 12 Uhr verschoben! Wer um 14 Uhr kommt, trifft uns aber natürlich auch noch alle an).

Auch wir werden übrigens wie gewohnt mit dabei sein. Wenn ihr also etwas über die Arbeit von moritz.magazin, moritz.tv und webmoritz. erfahren wollt, einfach nur mit uns über das Greifswalder Wetter schnacken oder euch ein bisschen Merch von unserem Stand klauen möchtet, haltet Ausschau nach dem magenta-farbenen M!

Das Wichtigste auf einen Blick:
Was?
Markt der Möglichkeiten
Wann? Samstag, 02.04.2022, 12 bis 16 Uhr
Wo? Mensa am Beitz-Platz
Noch etwas? 3G-Nachweis und Mundschutz mitbringen

Beitragsbild: Julian Schlichtkrull

Neues Jahr, neues Ich?

Neues Jahr, neues Ich?

„Was sind eigentlich deine Neujahrsvorsätze für dieses Jahr?“, fragte mich ein Freund neulich interessiert, wenn auch etwas verspätet. Neujahrsvorsätze … Eigentlich habe ich so etwas nicht, weil ich sowieso schlecht im Planen bin und ohnehin nicht viel davon halte — wenn ich etwas tun will, dann tue ich es einfach, und zum Anfangen gibt es nie den einen perfekten Moment, außer vielleicht jetzt gleich. Aber dieses Jahr habe ich tatsächlich einen Vorsatz, zumindest so etwas ähnliches, denn kurz vor Weihnachten 2021 hat sich einiges für mich geändert, was ich in diesem Jahr weiterführen, ausbauen muss. Obwohl, wirklich geändert hat sich eigentlich nichts, die Dinge sind viel mehr an den Platz gefallen, auf den sie schon immer gehörten. Und damit lautet mein Neujahrsvorsatz für dieses Jahr: mit vollster schonungsloser Ehrlichkeit einfach ich sein.

Für einige mag das banal klingen, für andere wie die größte Unmöglichkeit der Welt. Mindestens dreizehn Jahre lang war ich auch eher von letzterem überzeugt. Seit ich in die Pubertät kam und mein Körper anfing, sich zu verändern. Seit ich merkte, dass diese Veränderungen einfach nicht zu dem passen, was ich fühle. Seit die Menschen um mich herum anfingen, alles und jede*n zu kategorisieren und sich die Kategorie, die sie für mich vorgesehen hatten, absolut nicht richtig anfühlte. Wie soll ich jemals wirklich ich sein können, wirklich glücklich werden, wenn mein Körper einfach nicht so ist, wie er sein soll? Und während ich hoffte, dass alles doch irgendwie noch „richtig“ wird, während ich versuchte, verschiedene Rollen zu spielen — Was ist mit dieser weiblichen Figur aus dieser einen Serie, die mag ich doch, vielleicht kann ich ja sein wie sie? — und immer wieder kläglich scheiterte, begriff ich, dass es vor allem eine Sache war, die mir die ganze Zeit zum Glücklichsein fehlte: Akzeptanz. Akzeptanz von anderen, mich anzunehmen wie ich wirklich bin. Aber auch Akzeptanz von mir selbst, dass es nicht notwendig ist, jemand anderes zu sein, sondern alles genauso richtig ist, wie es eben ist. Ich bin ein Junge. War es schon immer und werde es immer bleiben. Und das ist gut so.

Ich bin in einer der offensten Familien aufgewachsen, die man sich nur wünschen kann. Christliches Mindset, wie es eigentlich sein sollte: Uneingeschränkte Nächstenliebe, egal wem gegenüber. Als Kind lernte ich nicht, dass Kleider oder Spielzeuge oder Hobbys ein Geschlecht haben sollten. Ich war kein „Mädchen“, das mit „Jungsspielzeug“ spielte. Ich war einfach ich, das kleine Kind, das sich gerne als Pirat verkleidete oder Papa beim Schreinern half oder die Matchbox-Autos im ganzen Zimmer verteilte. Das Kind, das auch mal ein Kleidchen trug oder den Barbies die Haare kämmte oder heimlich in Mamas Hackenschuhe schlüpfte. Ich war ein Kind, das frei sein durfte, und jeden Tag davon genoss. Die Probleme begannen erst in der Pubertät, wenn so viele Probleme beginnen: Mobbing, Ausgrenzung, Selbsthass. Wenn Kinder einen Teil ihrer Kindlichkeit ablegen und zu kleinen Erwachsenen werden. Wenn sie anfangen, in die von der Gesellschaft vorgefertigten Schubladen einzuordnen und ausschließen, was nicht reinpassen will.

In der Schulzeit hielten sich die Probleme hauptsächlich in meinem eigenen Kopf auf, da ich auch hier das große Glück hatte von einem Freundeskreis umgeben zu sein, in dem alle „anders“ waren und gerade deshalb so sein durften, wie sie wollten. Eine kleine Gruppe von queeren Kids, die der Rest der Welt vielleicht manchmal nicht verstand, aber die sich gegenseitig verstanden. Das änderte aber nichts daran, dass die Gesellschaft immer näher rückte, und mit ihr der Wunsch dazuzugehören und sich einzufügen. Und ich fing an, an mir zu zweifeln und fragte mich, ob vielleicht nicht die Gesellschaft falsche Erwartungen von ihren Individuen hat, sondern ob ich es selbst als Individuum bin, das falsch ist. Mit zweiundzwanzig wurden für mich die Begriffe „nonbinär“ und „genderfluid“ relevant. Ich hatte schon vorher davon gehört, lernte aber erst hier jemanden kennen, der ähnliche Erfahrungen gemacht hatte wie ich. Ich lernte, dass das innere Gefühl über den eigenen Körper nichts mit dem Erscheinungsbild des eigentlichen Körpers zu tun haben muss — wie trans oder cis (also in der Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmend) jemand ist, hat nichts damit zu tun, wie „männlich“ oder „weiblich“ die Person aussieht. Ich tastete mich weiter vor, lernte, dass es mich schon ein Stück glücklicher macht, von mir selbst mit männlichen Begriffen zu sprechen. Eine heikle Angelegenheit, wenn dein Umfeld, bei dem du noch nicht out bist, es liebt zu gendern („Du bist Student? Meinst du nicht eher Studentin?“ — „Äh … Neee ..?“).

Aber ich lernte auch, dass es für mich kein dazwischen oder beides ist, sondern ein ausschließlich. Dass sich weibliche Begriffe zunehmend unangenehm anfühlten, dass ich nicht mehr wollte, dass Familie und Freund*innen von mir als „Frau“ denken, zu keinem Zeitpunkt. Dass es mir ein warmes, zufriedenes Gefühl im Bauch gab, wenn meine Schwester mich ihren „kleinen Bruder“ nannte, dass ich mich wohler fühlte in Kleidung, die meine Brüste und meine Hüfte verdeckte und dass ich den ganzen Tag mit einem Dauergrinsen durch die Gegend rannte, nachdem mich ein Kollege auf dem Bau als „Junge“ bezeichnete. Dann war da dieser Charakter in dieser einen Sendung, Theo, der die erste Staffel als Susie begann, und als ihn — pre-Outing — die blinde aber hellsehende Großmutter einer Freundin mit „Hübscher Junge!“ begrüßte, brach ich für Minuten in Tränen aus. Für mich war klar: Das will ich auch. Nein, das brauche ich auch. Ich muss endlich auch von anderen so gesehen werden, wie ich mich selbst sehe. Und so schrieb ich meinen Eltern am 16. Dezember 2021 auf dem Nachhauseweg eine Nachricht. „Hallo, Mama und Papa. Ich wollte euch gerade die ganze Zeit etwas sagen, aber wusste nicht wie, weil der Moment irgendwie nie gepasst hat und weil ich ganz dolle Angst davor habe und mein Herz geschlagen hat wie verrückt […] Obwohl ich hoffe, dass es eigentlich egal ist und dass ihr mich trotzdem immer lieb haben werdet, als euer Kind, das ich immer war und bleiben werde. Ich bin nicht eure Tochter. Weil ich keine Frau bin. Das war ich nie, auch wenn ich lange versucht habe, das zu ändern […]“

Und nur wenige Minuten später, während ich noch mit einer Panikattacke im Auto festsaß, leuchtete bereits mein Handy auf.
Papa: „Mein kleiner Julius (Caesar) klingt doch auch gut :-*“

So weit, so gut. Alle Probleme löst so ein Outing nicht. Um genau zu sein, wird sich der Haufen der Probleme danach vielleicht sogar noch tausend Mal größer anfühlen. Während man sich jahrelang mit den Fragen eines stagnierenden Zustandes beschäftigt hat, kommen jetzt plötzlich ganz neue, vorher unbekannte Fragen hinzu: Wie „weiblich“ darf ich jetzt noch sein, um es für andere und mich selbst möglichst leicht zu machen? Wie weit möchte ich gehen — für meine Eltern stand sofort fest, dass sie mich bei jedem Schritt unterstützen werden, aber welche Schritte genau möchte ich eigentlich gehen und wie schnell? Und der immer wiederkehrende nagende Zweifel: Bin ich mir wirklich sicher? Was, wenn ich mich geirrt habe?

Mir selbst half es, ein Tagebuch oder besser ein Gedankenbuch zu beginnen. Hier wandern alle Fragen und Zweifel und jedes Gefühl der Körperdysphorie rein, sobald sie auftreten. Hier kann ich beim Schreiben auch weiter reflektieren, meine Gedanken ungefiltert zu (digitalem) Papier bringen und mir dabei selbst viele Dinge bewusst machen. Bin ich mir sicher? Ja. Ich weiß, dass ich ein Junge bin, und das nicht erst seit gestern. Möchte ich meinen Körper angleichen? Ja, aber ich habe auch Angst vor den Folgen und Risiken, und das ist okay, und die Akzeptanz durch mein Umfeld hilft ungemein, meinen Körper weniger als störend wahrzunehmen.

Warum jetzt eigentlich dieser ganze Artikel? Um Mut zu machen. Mut, zu sich selbst zu stehen und sich selbst so zu lieben, wie man ist. Denn so viele Fragen und Zweifel nach dem Outing auch dazukommen, so wohltuend ist es doch jedes einzelne Mal, den richtigen Namen zu hören, mit den richtigen Pronomen angesprochen zu werden, zu wissen, dass man verstanden und angenommen wird, so wie man ist. Gleichzeitig soll dies kein allgemeiner Aufruf zum sofortigen Outing sein. Ich bin mir bewusst, dass ich mich durch mein Umfeld in einer unfassbar privilegierten Situation befinde, und dass ein Outing für viele nicht sicher ist. Aber Akzeptanz kann nicht nur von außen helfen. Mindestens genauso wichtig ist die eigene Akzeptanz: Sich selbst bewusst zu machen, wer man eigentlich ist, Geschichten anderer zu hören, denen es ähnlich geht, zu erkennen, dass man nicht allein und nicht „verkehrt“ ist und sich nicht ändern muss. Und dieser Artikel soll Mut machen, über das Thema zu sprechen und den Diskurs über Trans-Identitäten und Queerness weiter in die Öffentlichkeit zu rücken, in der er noch immer viel zu sehr gemieden wird, obwohl nur so mehr allgemeines Wissen und Verständnis geschaffen werden kann. Und mit diesem Verständnis — so klischeehaft das auch klingen mag — wird es irgendwann besser. Ganz bestimmt.

Anlaufstellen
in Greifswald:
Aktionsbündnis Queer in Greifswald e.V. (E-Mail: Kontakt@Queer-HGW.de)
Qube — queere Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit in MV (31. März 2022, 16:30 bis 18:30 Uhr: Gesprächsrunde bei Kaffee und Kuchen „tin* Tratsch für trans*, inter*, nicht-binäre Menschen“ in der STRAZE)
Antidiskriminierungsstelle der Uni Greifswald (Telefon: +49 3834 420 3491, E-Mail: antidiskriminierung@uni-greifswald.de; auf der Webseite findet ihr auch Informationen darüber, wie ihr euer Geschlecht und euren Namen in den Stammdaten der Universität ändern könnt)
Gender Trouble AG der Studierendenschaft (E-Mail: gendertroubleag@gmail.com)
Psychologische Beratung des Studierendenwerkes (E-Mail: beratung@stw-greifswald.de)
AStA-Referat für soziale Aspekte und Gleichstellung
Nightline Greifswald

deutschlandweit:
Gendertreff-Forum
Telefonseelsorge (dauerhaft erreichbar; Telefon: 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111 0 222, oder unter diesem Link per Mail und Chat)
Info-Telefon Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe (Telefon: 0800 3344533, Sprechzeiten: Mo, Di, Do: 13:00 bis 17:00 Uhr sowie Mi, Fr: 08:30 bis 12:30 Uhr)
Krisenchat (für alle unter 25 Jahren)

Beitragsbild: Alina Dallmann

Adweb.kalender 23. Fensterchen: Eine Liebeserklärung an … Schnee

Adweb.kalender 23. Fensterchen: Eine Liebeserklärung an … Schnee

Alle Jahre wieder weihnachtet es auch beim webmoritz.! Hier wird Weihnachtsmusik gedudelt, werden Plätzchen gebacken und Geschichten der vergangenen, diesjährigen und zukünftigen Weihnacht unter flackernden Lichterketten geraunt. Einen Teil dieser besinnlichen Stimmung möchten wir wieder in unserem Adweb.kalender mit euch teilen. Hinter dem 21. Fensterchen erwartet euch: eine Liebeserklärung an … Schnee.

Der erste Schneefall ist nicht nur ein Ereignis, er ist ein magisches Ereignis. Du gehst zu Bett in einer Welt, und wachst in einer völlig veränderten wieder auf. Und wenn das keine Verzauberung ist, was dann?

John B. Priestley

Schnee verändert die Welt. Er bemalt Bäume, Dächer, Straßen mit einer dicken Schicht aus weißer Farbe. Er lässt die Luft glitzern, wenn er sacht zu Boden fällt, wenn ein Eisnebel über Gehwege zieht und unzählige Silberkristalle mit sich nimmt, die nicht zu Boden fallen, sondern schweben, wirbeln, tanzen. Er verwandelt die Geräusche. Lässt die Stiefelsohlen dumpf knarzen, wenn sie durch seine weiche Oberfläche dringen. Seine Flocken auf der Fensterscheibe leiser als Regen und doch nicht gänzlich lautlos.

Und draußen herrscht Stille. Wer bewegungslos auf einem Winterfeld steht und lauscht, kann sie hören, so durchdringend, dass es fast schon ohrenbetäubend ist. Die Welt ist ruhig unter dem Mantel aus Schnee. Er scheint das Säuseln des Winds zu schlucken, den Lärm, der von Autos aus der Ferne herüber getragen wird. Selbst die Vögel zwitschern ruhiger, verhaltener, wenn es schneit. Die Stille lässt Raum für Gedanken, in den unterschiedlichsten Formen, und es fällt leichter, sie frei umher fliegen zu lassen, wenn man das weiße Treiben beobachtet.

Ich wüsste gern, ob der Schnee die Bäume und die Felder liebt, wo er sie so zärtlich küsst.

Lewis Carroll

Und mit jeder Minute im tiefen Schnee kriecht mehr Kälte durch die dicken Stiefel, legt sie sich mit eisigen Fingern auf Schenkel, Hände, Wangen. Der Atem formt heiße Wolken vor dem Gesicht, die für einen kurzen Moment wärmen, aber wirklich nur kurz, während einen die Füße schneller und schneller nach Hause tragen. Die Finger zittern, wenn sie den Schlüssel drehen, die Tür öffnen, und schnell huscht man hinein ins Warme, löst sich aus dem dicken Mantel, schlüpft in flauschige Hausschuhe, kuschelt sich unter eine wollene Decke. Es ist nicht wärmer in der Wohnung geworden, seit man das Haus verlassen hat, doch nun scheint alles zu glühen und schnell ist die Kälte vergessen.

Mit einer Tasse heißem Tee oder Glühwein vor dem Fenster sitzen und durch die Gitter aus Eis und Schneeflocken hinaus auf die Stadt schauen. Wo alles glänzt und glitzert, wo Kinder lachen, weil sie sich über den ungewohnten Anblick freuen, und Erwachsene, weil sie sich einmal mehr daran erinnern, Kind zu sein. Und erneut zieht es einen nach draußen, wo man sich in den Schnee fallen lässt und Arme und Beine Schneeengel formen, und man mit Freunden erbitterte Schneeballschlachten ausficht, in denen es nur Gewinner geben kann.

It had snowed softly and thickly all through the hours of darkness and the beautiful whiteness, glittering in the frosty sunshine, looked like a mantle of charity cast over all the mistakes and humiliations of the past.

Lucy Maud Montgomery

Manchmal können das Weiß und die Stille auch schwerere Gedanken heraufbeschwören. Denn der Schnee leitet die letzte Zeit des Jahres ein, wiegt die Welt in einen Winterschlaf, und so blickt man hinaus in den glitzernden Flockentanz und denkt an alles, was war und was nicht mehr ist. Aber wie den Abschied verkündet der Schnee auch einen Neubeginn, bereitet die Welt unter seinem kalten Tuch darauf vor, neu zu erwachen im kommenden Jahr. Und wer aufmerksam lauscht, kann sie jetzt schon hören: die Eichhörnchen und Fledermäuse, die in ihren Winterquartieren leise schlummern, die Krokusse und Märzenbecher, die bereits darauf warten, zaghaft ihre Blüten durch Eis und Tau zu schieben.

Doch noch nicht jetzt. Noch ist es zu früh, und auf dem geräuschlosen weißen Feld und im schnellen Schlittenrutsch von einem Berg und im warmen Haus mit einer Tasse Tee in den Händen, wo der Schnee nicht Haare und Haut, sondern nur die Fensterscheibe benetzt, wird die Tür zu einem anderen Land geöffnet. Einem Land, in dem Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen, in dem die Seele zum ersten Mal seit Langem frei aufatmen kann. Einem Land des Winterzaubers.

Beitragsbild: Julia Schlichtkrull