von Allan Kant | 26.10.2023
Im Juni 2023 wurde bereits ein Artikel beim webmoritz publiziert, der über den Stand der Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit informiert. Der bisherige Stand ist offensichtlich unzureichend.
In den wenigen Jahrzehnten, in denen das Deutsche Kaiserreich eigene Kolonien besaß, beging es bereits schwere Menschheitsverbrechen an der indigenen Bevölkerung. Der deutsche Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. In Deutsch-Südwestafrika wurden zudem Strafarbeiterlager betrieben, die wie später im Nationalsozialismus Konzentrationslager hießen, und den Nazis als Vorbild für ihre noch brutaleren Konzentrationslager dienten. Schädelvermessungen und andere rassistisch-biologische Untersuchungen wurden auch bereits in dieser Epoche begonnen. Bis heute fehlt dazu eine offizielle Entschuldigung der Bundesregierung.
Kolonialzeit als Schwachstelle einer eigentlich sehr guten Aufarbeitung eigener Geschichte
Dabei ist die kritische Aufarbeitung der eigenen Geschichte eigentlich eine Stärke Deutschlands. Wohl kaum ein Land befasst sich mit einer unmoralischen Epoche seiner eigenen Geschichte so intensiv wie Deutschland mit dem Nationalsozialismus. Das ist auch völlig richtig und muss unbedingt so bleiben. Dennoch muss es zusätzlich auch möglich sein, sich mit vorherigen Verbrechen der eigenen Geschichte ebenfalls kritisch zu befassen. Hier steht Deutschland erst ganz am Anfang. Erst in den 2010er Jahren begann das Auswärtige Amt anzuerkennen, dass die brutale Niederschlagung der Herero- und Nama-Aufstände und deren Vertreibung in eine Wüste, um sie verdursten zu lassen, ein Völkermord waren. Die Verhandlungen über eine Entschädigung liefen stockend, auch weil die Bundesregierung immer wieder versucht hat, die deutschen Verbrechen zu marginalisieren.
Änderungen in der Aufarbeitungspolitik notwendig
Lange überfällig wäre eine aufrichtig wirkende Entschuldigung, die nicht direkt wieder eine Einschränkung enthält. Zudem müssten die Gespräche nicht nur mit der namibischen Regierung, sondern auch mit Vertreter*innen der Herero und Nama geführt werden, um wirklich mit den Opfern in Kontakt zu kommen. Stattdessen wurde lange versucht, eine Anerkennung als Völkermord zu verhindern, weil die UN-Definition dazu erst 1955, also später, entstand. Eine juristische Aufarbeitung wurde entschieden abgelehnt, weil die Verbrechen längst verjährt seien.
Hinzu kommt, dass die Verbrechen der deutschen Kolonialzeit in der deutschen Bevölkerung nahezu überhaupt nicht präsent sind. Natürlich kann man eine solche öffentliche Erinnerung nicht wirksam direkt per Gesetz beschließen, aber es wäre möglich und dringend notwendig, die notwendigen Voraussetzungen dazu in der politischen Bildung zu schaffen. Im Geschichtsunterricht ist das Thema bislang nahezu überhaupt nicht präsent. Eine Schwerpunktsetzung auf dieses Thema in den Lehrplänen würde eine deutlich intensivere Erinnerung und Diskussion mit dieser verbrecherischen Epoche der deutschen Geschichte ermöglichen. Auch gibt es bislang keinen zentralen Gedenkort für die Opfer des Genozids. Die Errichtung eines solchen Mahnmals und die Schaffung weiterer lokaler Gedenkorte könnte eine Erinnerung und Aufarbeitung ebenfalls erheblich verbessern. Es wäre auch möglich, Gedenkstätten für deutsche Kolonialismuskritiker*innen im Kaiserreich oder Widerstandskämpfer*innen in den Kolonien zu errichten. Diese Maßnahmen würden langfristig für eine deutlich effektivere Aufarbeitung sorgen.
Zudem müsste Deutschland in den Verhandlungen mit Namibia erheblich mehr Entgegenkommen zeigen. Das würde diese erheblich beschleunigen und vereinfachen und wäre ein wichtiges Signal der Einsicht an die Nachfahren der Betroffenen. Ein Abkommen über Entschädigungszahlungen mit einer offiziellen Entschuldigung könnte auch eine weitere Aufarbeitung und gesellschaftliche Diskussionen in Deutschland und Namibia ermöglichen.
Gegenargumente nicht plausibel
Es wird immer wieder eingeworfen, dass andere europäische Staaten eine viel intensivere und längere Kolonialzeit mit deutlich mehr Verbrechen als Deutschland hätten und dort solche Diskussionen trotzdem nicht geführt werden würden. Diese Punkte sind zwar richtig, aber kein sinniges Argument. Schließlich beschäftigt sich Deutschland bereits jetzt sehr viel intensiver mit den Verbrechen seiner Vergangenheit als sehr viele andere Staaten, indem es die Verbrechen von Nationalsozialismus und Holocaust immer wieder in der Öffentlichkeit wachruft und diskutiert. Dieses Stellen der eigenen Vergangenheit ist eine Stärke Deutschlands, auf die wir Deutschen stolz sein können, und keine Schwäche. Deshalb ist es aber zwingend notwendig, dass wir dazu bereit sind, uns auch den Fehlern unserer Vergangenheit vor dem Ersten Weltkrieg zu stellen, also der Kolonialzeit. Wenn wir dann die einzige Nation sind, die sie aufarbeiten, sind wir die einzigen, die bereit sind, richtig zu handeln und sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Das ist positiv, nicht negativ.
In diesem Sinne würde eine intensive Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit die Erinnerung an den Nationalsozialismus keinesfalls gefährden. Sie wäre im Gegenteil die Ergänzung, die notwendig ist, um wirklich ehrlich sagen zu können, dass wir uns den Verbrechen unserer Vergangenheit stellen und sie als Mahnung für die Zukunft verstehen. Diese Aussage ist nur dann wirklich glaubhaft, wenn sie alle begangenen Verbrechen miteinbezieht.
Fazit
Folglich gäbe es etliche Möglichkeiten, die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus erheblich zu beschleunigen und zu verbessern. Das könnte auch der Beginn einer neuen Epoche in den diplomatischen Beziehungen zu den Staaten, die einst deutsche Kolonien waren, werden. In einem Zeitalter, in dem die Rolle Europas in der Weltpolitik zunehmend geringer wird, erscheint das nicht nur moralisch, sondern auch geopolitisch-rational ratsam.
Beitragsbild: Kevin Olson auf Unsplash
von Allan Kant | 09.06.2023
Die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg ist in der Öffentlichkeit vergleichsweise stark präsent. Die deutsche Kolonialzeit dagegen steht kaum im Diskurs, obwohl sie eigentlich nicht weniger bedeutsam und problematisch war.
Spät entstandenes und sehr kleines Kolonialreich
Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten begann Deutschland seine Kolonialpolitik sehr spät. Erst in den 1880er Jahren wurden einige Kolonien erworben. Hintergrund war die äußerst späte Entstehung eines deutschen Nationalstaats im Vergleich zu vielen anderen Staaten Europas, die 1871 mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erfolgte. Daher wollte vor allem Reichskanzler Otto von Bismarck die etablierten Staaten nicht durch ein Kolonialreich weiter verunsichern. Durch das Drängen der Koloniallobby und vor allem des dritten deutschen Kaisers, Kaiser Friedrich Wilhelm II., König von Preußen, war er jedoch gezwungen, diese Haltung zu ändern und deutsche Kolonien zuzulassen. So erhielt das Deutsche Kaiserreich Kolonien in Afrika, Ostasien, dem südlichen Pazifik und der Karibik. Dennoch war das deutsche Kolonialreich sehr viel kleiner als die meisten anderen. Die vorhandenen Kolonien waren dem Deutschen Kaiserreich daher besonders wichtig, auch wenn sie wie bei allen Kolonialmächten zwar Prestige brachten, aber wirtschaftlich ein Verlust waren.
Verbrecherische Kolonialherrschaft
Die Kolonialisierung vor Ort verlief bei den Deutschen wie bei den anderen europäischen Kolonialmächten äußerst brutal. Die Kolonisator*innen betrogen oder erpressten die indigene Bevölkerung und konnten so Grundbesitz in den Kolonien erlangen. Die Europäer*innen sahen sich selbst als “Herrenmenschen”, die der “Rasse” der Afrikaner*innen überlegen seien und die Ureinwohner*innen zu einem zivilisierten Leben erziehen müssten. So wurden die koloniale Herrschaft und das gewaltsame Niederschlagen von Protesten der Afrikaner*innnen moralisch legitimiert. Die deutschen beuteten die Ureinwohner*innen aus und zerstörten ihre Kultur. Ein versuchter Aufstand der Herero und Nama, zwei indigener Volksgruppen in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, endete mit einem Genozid der Deutschen an den beiden Stämmen. Die deutschen trieben die aufständischen Volksstämme in eine Wüste, vergifteten deren Brunnen und erschossen diejenigen, die zu fliehen versuchten. Kaum jemand überlebte. Dieser Massenmord war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen errichteten in Deutschsüdwestafrika zudem Konzentrationslager, in denen die einheimische Bevölkerung zu Zwangsarbeit gezwungen wurde. Sie dienten als Vorbild für die Konzentrationslager des Nationalsozialismus.
Erste Aufarbeitungsversuche
Heute ist das Thema Kolonialismus in Deutschland, ebenso wie in den übrigen ehemaligen Kolonialmächten, kaum präsent. In den letzten Jahren sind jedoch erstmals Forderungen nach Aufklärung und nationaler Erinnerung in größerem Maße aufgekommen und publik geworden. Unter der letzten Bundesregierung wurde 2017 eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit erstmals in einem Koaltionsvertrag festgehalten.
Verhandlungen mit Namibia
Ein Jahr später waren die Verhandlungen der Bundesregierung mit Namibia über eine Entschädigung für den Genozid an den Herero und Nama die einzigen derartigen Verhandlungen zwischen ehemaligen europäischen Kolonialmächten und ehemaligen Kolonien überhaupt. Mittlerweile liegt hierzu ein Vertragsentwurf vor, der jedoch äußerst strittig ist. Er sieht eine offizielle Entschuldigung Deutschlands und 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe als Entschädigung vor. Die namibische Regierung verlangt jedoch deutlich höhere Zahlungen, während die Bundesregierung nicht bereit ist, den Vertragsentwurf neu zu verhandeln. Lediglich eine Überarbeitung ist für sie diskutabel. Zudem klagen der namibische Oppositionspolitiker Bernadus Swartbooi und Vertretendenverbände der Herero und Nama in Namibia gegen den Vertragsentwurf, der dem namibischen Parlament nicht zur Abstimmung gegeben wurde. Im Entwurf ist nämlich außerdem verzeichnet, dass zusätzlich zu den 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe keine weiteren Entschädigungen gefordert werden dürfen, sodass die Herero und Nama keine Zahlungen erhalten würden. Der Anwalt der Klagenden argumentiert, dass diese Entscheidung aufgrund ihrer weitreichenden Konsequenzen nicht ohne Zustimmung des Parlaments hätte getroffen werden dürfen.
Geraubte Kultur
Ein weiteres Diskussionsthema ist die Rückgabe in der Kolonialzeit geraubter afrikanischer Kulturgüter, die bis heute in deutschen Museen ausgestellt werden. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden 2022 20 Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben, die von britischen Kolonisator*innen aus dem Königreich Benin im heutigen Nigeria geraubt und von Deutschen gekauft und bis vor kurzem in deutschen Museen ausgestellt worden waren. Forderungen nach Rückgabe solcher Gegenstände existieren in etlichen weiteren Fällen. Deutsche Museen stehen dem oft kritisch gegenüber und argumentieren, sie würden die Objekte seit Jahrzehnten sicher verwahren und hätten so dafür gesorgt, dass sie noch existieren würden. Der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer entgegnet dem, dass ethnologische Museen von Anfang an politisch gewesen seien und ihre Entstehung mit dem Kolonialismus eng in Verbindung stünde. Der Kameruner Historiker und Philosoph Achille Mbembe kritisiert zudem im Hinblick auf die europäische Migrationspolitik, dass europäische Museen den Afrikaner*innen ihre Kulturgüter vorenthalten würden, wenn sie diese, wie momentan, in ihren Museen für die meisten Afrikaner*innen unerreichbar verwahren würden. Er erklärt jedoch auch, dass keine Rückgabe sämtlicher Raubgüter gefordert werde. Stattdessen plädiert er für eine Präsentation der Gegenstände an verschiedenen Orten in Europa und Afrika. Gerade für junge Afrikaner*innen sind ohnehin oft Zukunftsfragen wichtiger als die Rückgabe von Gegenständen aus der Vergangenheit. Auch virtuelle Rückgabe in Form von Digitalisierungen können sich viele vorstellen. Allerdings ist vielen auch wichtig, dass Deutschland und Europa anfangen, sich mit afrikanischen Kulturen zu beschäftigen und nicht nur mit der Rückgabe von Gegenständen. Hierbei sehen Expert*innen große Rückschritte seitens Europa.
Mangelnde Präsenz in Deutschland
In Deutschland ist das Thema Kolonialismus heute dennoch in vielerlei Hinsicht nur von marginaler Bedeutung. Es gibt keinen zentralen Gedenkort für die Opfer und Straßennamen und Gedenkstätten ehren weit häufiger die Täter*innen als sie. Auch in der schulischen Bildung wird das Thema nur kurz angerissen, während die Verbrechen des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur deutlich intensiver behandelt werden. So ist das Thema auch in der Gesellschaft kaum relevanter Diskussionsgegenstand.
Fazit
In den letzten Jahren ist das Thema Kolonialismus und koloniale Aufarbeitung in Deutschland etwas präsenter geworden und es gibt erste Bemühungen für Wiedergutmachungen. Dennoch sehen Expert*innen und Opfer weiterhin großen Handlungsbedarf und Entschädigungen werden in Deutschland auch kritisch betrachtet.
Beitragsbild: Kevin Olson auf Unsplash
von Oliver Wunder | 16.10.2010
Staubig. Wenn ich mit nur einem Adjektiv beschreiben müsste, wie Kenia so ist, würde ich nicht lange nachdenken und staubig wählen, auch wenn ein Wort alleine nie ein Land beschreiben kann. In Kenia gibt es den Staub in mindestens zwei verschiedenen Farben. Im fruchtbaren Hochland dominiert rot. In der Savanne grau. Wenn es regnet, wird der Staub innerhalb von Minuten klebrig und rutschig. Unter den Schuhen sammelt sich dann zentimeterdick der Matsch. Ansonsten ziehen sich schon nach wenigen Tagen ohne Regen große Trockenrisse durch den Boden. Schnell ist der Staub überall. In den Lungen, auf der Haut, an allen Kleidungsstücken.
Eröffnungsfeier des 13th World Scout Moot
Wenn man von Afrika redet, ist damit meist Subsahara-Afrika gemeint. Wenige Menschen haben hiermit positive Assoziationen. Zu viele Bilder und Berichte von Bürgerkriegen, Elend, Hungersnöten, Armut, Korruption und Gewalt sind aus dieser Region per Nachrichten in unsere gemütlichen Wohnzimmer transportiert worden. Auf der anderen Seite wurde uns immer wieder die großartige Schönheit der Natur und die einfache Lebensweise der Stämme gezeigt. Erzählt man dann seinen Freunden oder der Familie von einem bevorstehenden Aufenthalt in Kenia, dann wird man mit diesen Vorurteilen und geschürten Ängsten konfrontiert. „Was hat dich denn geritten, so ein Wagnis einzugehen?“ Der Grund für meinen Aufenthalt in Kenia war ein Zeltlager und sicher etwas Abenteuerlust. Außerdem fand ich, dass Backpacking die beste Möglichkeit bot, Kenia zu erkunden.
Vom 27. Juli bis 7. August 2010 fand mit dem 13th World Scout Moot in Kenia das erste internationale Großevent für Jugendliche auf dem afrikanischen Kontinent statt. Ungefähr alle vier Jahre findet diese Veranstaltung der Weltpfadfinderorganisation WOSM an einem anderen Ort der Erde statt. Das letzte Moot fand 2004 in Taiwan statt. Nach Kenia kamen dieses Jahr circa 1.800 Menschen aus 67 Ländern.
Wir waren mit 55 deutschen Teilnehmenden vor Ort, von denen ich die 21 Teilnehmenden meines Verbandes, dem Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) e.V., betreute und die komplette Teilnahme organisierte. Das beinhaltete die Vorbereitung, ein Vortreffen, Absprachen mit den anderen beiden deutschen Subkontingenten und in der Gruppe der deutschsprachigen Kontingente, Kommunikation mit den Ausrichtern und Teilnehmenden, Planung der An-/Abreise, und dann auf dem Moot die täglichen Besprechungen aller Kontingentsleitungen. Also sehr viel Aufwand. Erst nach dem Moot begann für mich der entspanntere Teil meines Keniaurlaubs ohne viel Verantwortung und Arbeit.
Maschinengewehre trennen Reichtum und Armut
Internationaler Nachmittag auf dem 13th World Scout Moot
In international gemischten Gruppen zu je 10 Personen verbrachten die Teilnehmenden die 12 Tage des Zeltlagers. Junge Menschen von allen Kontinenten der Erde, verbunden durch die Idee der vor kurzem 100 gewordenen Pfadfinderbewegung. Das war schon eine ganz besondere Erfahrung, fast zwei Wochen mit so verschiedenen Menschen die meiste Zeit zusammen zu verbringen und ihre Kultur zu erleben. Orte und Zeit gab es dafür reichlich, zum Beispiel beim gemeinsamen Zubereiten und Kochen des Abendessens. Dabei prallten oft Welten aufeinander. Während die Teilnehmenden aus reicheren Ländern das Fleisch akribisch von Knochen, Sehnen und Fett trennten, kochten sich viele Teilnehmenden aus Kenia und anderen afrikanischen Ländern aus genau diesen Zutaten ihre Mahlzeit. Viel krasser war allerdings der Zusammenstoß zwischen den Welten am Beispiel des zentralen Zeltplatz und der direkten Nachbarschaft.
Der Zeltplatz lag nämlich am Rande Nairobis. Genau 300 Meter neben dem zweitgrößten Slum Afrikas, Kibera. Ein kleiner Streifen Wald, ein Zaun und mit Maschinengewehren bewaffnete Sicherheitskräfte trennten den Platz vom Elend. Geschätzte 1.000.000 Menschen leben hier in ärmlichsten Verhältnissen und auf der anderen Seite des Zauns, campierten die „reichen“ Eliten und warfen überflüssige Lebensmittel einfach weg.
Blick über die Wellblechdächer von Kibera
Kibera wurde auch als ein Ursprung potenzieller Bedrohung für uns angesehen. Als am 4. August das kenianische Wahlvolk über eine neue Verfassung abstimmte, wurden die Sicherheitsvorkehrungen drastisch erhöht und keiner durfte den Lagerplatz verlassen. Bei der Präsidentenwahl Ende 2007 gab es bis März 2008 Ausschreitungen auf Grund von Wahlbetrug und ethnischen Spannungen. Dabei kamen mindestens 1.500 Menschen um. Zwar verteilten sich die Ausschreitungen über das ganze Land, doch in Kibera lag ein Schwerpunkt. Zum Glück war das Votum für die neue Verfassung eindeutig und es kam zu keinem Zwischenfall. Trotzdem war besonders an diesem Tag die Stimmung im Camp etwas angespannt.
Ansonsten war das Verhältnis zu den Menschen in Kibera gut. Einige der Teilnehmenden führten soziale Projekte durch und gingen beispielsweise an Schulen und betätigten sich dort handwerklich. Allerdings waren manche dieser “Community Services” genannten Programmpunkte recht schlecht organisiert, so gab es z.B. für 50 Personen nur drei Pinsel zum Streichen der Wände. “Hakuna Matata?” Na ja, von wegen kein Problem. Diese organisatorischen Lücken wurden dann aber schnell durch die Spontaneität der Teilnehmenden gefüllt.
Workshops über Frieden, Gender, Umweltschutz und Gesundheit
Neben dem Community Services gab es noch andere zentrale Programmpunkte. Im “Global Development Village” wurden Workshops zu den Oberthemen Frieden, Gender, Umweltschutz und Gesundheit durchgeführt. Zu Beginn des Moots wurden die Teilnehmenden drei Tage lang in drei verschiedenen „Expedition Centers“ aufgeteilt, um das Land besser kennenzulernen. Das schweißte sowohl die Subcamps als auch die Kleingruppen zusammen.
Matatu Busstation in Naivasha
Nach dem Moot begann dann der individuelle Teil des Urlaubs. 10 Tage waren wir nur zu sechst unterwegs und bewegten uns wie die Einheimischen per öffentlichen Kleinbussen, den Matatus von einer Stadt zu anderen. Teilweise zählte unser Matatu 23 Insassen, davon der Fahrer, der „Schaffner“ (steht an der Tür und treibt den Fahrpreis ein), drei kleine Kinder, die auf dem Schoss ihrer Mutter saßen, sowie uns sechs Mzungus (=weißer Mann auf Swahili) inklusive Gepäck. Sitzplätze hatte der Minibus allerdings nur 13.
Als Unterkünfte nutzten wir unsere Zelte auf Campingplätzen oder billige Hotelzimmer, in denen man teilweise die ganze Nacht durch von der Band nebenan wach gehalten wurde. Überhaupt lief ständig und überall laut Musik. Shakiras WM-Song “Waka Waka This time for Africa” hat sich zu einem ganz speziellen Sommerhit für die Kenianer entwickelt. Sobald irgendwo Musik lief, war auch Shakiras Ode an Afrika dabei. Ansonsten lief viel Reggae, Dancehall und etwas Rap. Teilweise stand ein DJ an der Straße vor einem Geschäft und legte dort live auf.
Vogelparadies und schnaubende Flusspferde
Natronsee Lake Elmenteita im Rift Valley
Unsere Nachtour hatte zwei Schwerpunkte, das Rift Valley als Teil des Großen Afrikanischen Grabenbruchs mit erloschenen Vulkanen, Natronseen und hunderten verschiedener Vogelarten und als zweites die Masai Mara, das bekannteste Wildschutzgebiet Kenias. Größere Stationen waren durchwegs Städte, die mit “n” begannen: Naivasha, Nyanhururu, Nakuru, Narok und Nairobi.
Am Lake Naivasha hatten wir eine nächtliche unheimliche Begegnung mit Flusspferden. Zwei besonders verrückte aus meiner Gruppe meinten, Hippos wären gar nicht so gefährlich wie ihr Ruf und die Warnungen vor ihnen. Als sie dann aber im Dunkeln das wütende Schnauben eines Flusspferdes hörten, liefen sie doch ziemlich schnell. Immerhin sollen die Dickhäuter für die meisten Todesfälle durch Wildtiere in Afrika verantwortlich sein.
Besonders unheimlich empfand ich es, an einer zentralen Busstation aus dem Matatu auszusteigen und von Klebestoff schnüffelnden Kindern umgeben zu sein. Ein Mzungu erregt aber in Kenia überall Aufsehen und wird anstrengend umworben, doch irgendein Produkt zu erwerben.
20°C im Winter
Gnus in der Masai Mara
Nur soviel zum Wetter: es war Winter. Das hiess, im 1.650 Meter hochgelegenen Nairobi war es tagsüber etwas über 20°C warm und nachts mit um die 10°C sehr kalt. Die ersten Nächte gab es leichte Niederschläge. In meinem “Expedition Center” am Mt. Kenya nahe Nyeri war es auch bis in den späten vormittag nass-kühl. Wenn dann aber die Sonne durch die Wolken brach, wurde es schlagartig heiß. Das Rift Valley und die Masai Mara dagegen entsprachen schon den klimatischen Vorstellungen von Afrika. Dort war es um die 25°C und fast immer trocken.
Die Masai Mara ist wohl die bekannteste Region Kenias. Im TV ist sie immer wieder zu sehen, wenn es um die Gnuwanderung aus der Serengeti in Tansania nach Norden geht. Über 1,4 Millionen Gnus, hunderttausende Zebras, Antilopen, Gazellen und in deren Gefolge Löwen, Geparden, Leoparden, Hyänen und andere Raubtiere ziehen Ende Juli/Anfang August über den Fluss Mara nach Kenia, um dort in der dann fruchtbaren Savanne zu leben. Ab Oktober geht es wieder zurück nach Süden. Diese weltweit größte Säugetierwanderung an Land ist ein Schauspiel sondergleichen. Jährlich lockt es tausende Touristen an und ist damit einer der größten Devisenbringer der kenianischen Tourismuswirtschaft. Auch wir folgten dem Ruf der Wildnis und verfielen dann dem Zauber, als wir dort zwei Tage unserer Nachtour auf Safari waren.
Überwältigende Tierwelt
Löwin in der Masai Mara
So viele Tiere, vor allem so viele Säugetiere, gibt es sonst nur selten zu sehen. Es ist einfach überwältigend, wenn man in das „Game Reserve“ reinfährt und nach wenigen Minuten die ersten gigantischen Gnuherden sieht. Abgenagte Kadaver zeigten deutliche Spuren der nächtlichen Jagd der Raubkatzen. Hier erfüllte Kenia das Klischee von Afrika, wie es uns „Jenseits von Afrika“ oder etliche Tierdokus im TV eingetrichtert haben. An einigen Stellen im Park sammelten sich die Safariautos. Dort gab es dann immer etwas besonderes zu sehen. Meistens vollgefressene Löwen beim Schlafen.
Als ich am letzten Tag der Reise im Safaribus auf der Straße Richtung Nairobi saß, wirbelte dieser auf der unasphaltierten Piste viel Staub auf. Durch das offene Fenster war sowohl mein T-Shirt als auch mein Arm ganz rot-braun geworden. Auch das spätere mehrfache Waschen zu Hause in Greifswald brachte keinen Erfolg. Das T-Shirt bleibt weiterhin staubig. Ein Teil von Afrika klebt für immer an mir.
Fotos: Oliver Wunder // Mehr Fotos gibt es auf dem privaten Blog des Autoren.