von moritz.magazin | 01.04.2012
Stoffe zuschneiden, neue Muster kombinieren und dann ab unter die Nähmaschine. Schon hat man etwas Neues aus eigener Hand geschaffen. Die offene Nähwerkschaft Kabutze bietet die Möglichkeit kreative Kleidung zu kreieren.
Den Faden in die Öse fädeln, mit Bedacht und Geduld. Leicht ist das nicht. Die Zickzack-Naht ist eingestellt und eignet sich am Besten für meinen elastischen Stoff. Einmal tief durchatmen und dann kann das Vernähen von Oberteil und Zwischenstück beginnen. So betrachtet muss es doch leicht sein, ein eigenes Kleidungsstück herzustellen. Doch welche Stoffe welche Stiche erfordern oder welche Tricks man anwenden muss, um elastische und steife Stoffe irgendwie zu vereinen, war mir nicht bewusst.
Deshalb sitze ich nun im Kapuzenkleid-Workshop in der Kabutze, eine offene Nähwerkstatt, und versuche, drei verschiedene Stoffe zu etwas Neuem zu kombinieren. In meiner Vorstellung sieht es jetzt schon umwerfend aus. Neben mir sind noch drei andere Teilnehmer da, stöbern in der Kiste für Stoffreste, betrachten alte Oberteile oder wühlen sich durch den unglaublichen Berg von Knöpfen. Uns zur Seite steht die Workshopleiterin Babett Gibb, die uns alles Nötige erklärt und der wir oft verzweifelte Blicke à la „Ich glaube, ich habe die Nähmaschine kaputt gemacht.“ zuwerfen. Fäden haben eben manchmal ein Eigenleben.
„Wir sind ja auch keine Profis. Hier kann jeder von jedem lernen. Wir freuen uns, wenn wir auch noch etwas dazu lernen. Zudem entsteht auch ein generationsübergreifender Austausch.“ Es ist jener Ansatz, berichtet Kabutzenmitglied Mel, der die Nähwerkstatt ausmacht.
Sie ist eine von denjenigen, die den Entstehungsprozess von Anfang an begleitet hat. Seit 2009 gibt es die Gruppe, doch erst ein Jahr später konnten sie sich in den derzeitigen Räumlichkeiten in der Friedrich-Loeffler-Straße 44a niederlassen. In der Zwischenzeit wurde viel geplant. Zurzeit besteht die Kabutze aus acht Mitgliedern. Der Gründerkreis bestand aus drei Leuten, die in Greifswald einen Ort des gemeinsamen Nähens etablieren wollten. Als Vorbilder dienten bereits bestehende Nähcafés in Großstädten. „Wir haben erst einmal überlegt, wie wir das Ganze gestalten wollen und ein Konzept geschrieben. Denn wir wollten eine Nähwerkstatt mit politischem Hintergrund aufbauen“, erinnert sich Mel. Gemütlich sitzt sie in der Ecke auf einem Sofa, welches wie der Rest der Einrichtung aus Spenden stammt.
Den Stoff, welchen ich mir für meinen Rock herausgesucht habe, war früher, allem Anschein nach, eine Tischdecke. Zugegeben, eine sehr hübsche Tischdecke mit blumigem Muster. Neben dem gemeinsamen Nähen und voneinander lernen gehört auch das Teilen zur Grundidee. Poltische, ökologische und soziale Komponenten bilden das Grundgerüst.
„Wir versuchen, alles mit dem Thema Kleidung zu verknüpfen“, erklärt Mel. So gibt es auch Filmabende, die zum Beispiel über Arbeitsbedingungen in der südamerikanischen Textilindustrie aufklären oder diverse Workshops zum nachhaltigen, privaten Wirtschaften. Geplant sind zum Beispiel ein Workshop zur Herstellung von Lampen oder das Basteln eines Sitzkissens aus alten Tetrapacks.
Mode ist ein sehr kurzlebiges Geschäft, was die Kleidungsstücke im Schrank schnell verblassen und altern lässt. Dabei ist es enorm, wie viele Ressourcen in der Textilproduktion ausgebeutet werden. So erzeugt die Herstellung eines einzelnen T-Shirts nach verschiedenen Berechnungen und je nach Größe, Webdichte und Herstellungsart fünf bis acht Kilogramm CO₂. Laut Statistischem Bundesamt verursacht jeder Einwohner in Deutschland 200 Kilogramm CO₂-Emissionen pro Jahr für Kleidung und Textilien. Einer World Wide Fund For Nature (WWWF)-Studie zufolge sind 2 700 Liter für die Herstellung eines einzigen T-Shirts notwendig.
Unvorstellbare Summen für einen täglichen Gebrauchsgegenstand, den man bereits für wenig Geld bei einschlägig bekannten Modeketten kaufen kann. Selber nähen bedeutet, neben der Entwicklung eines eigenen Konsumbewusstseins auch Entschleunigung vom hektischen Alltag. Eine sinnstiftende Handarbeit, die wir in globalisierten Zeiten auf unterster Ebene zurück erobern können.
In der Zwischenzeit ist die Mittagspause angebrochen. Wir haben uns in der behaglichen Sitzecke niedergelassen und genießen die eigens für uns gekochte Kartoffelsuppe. Nach der delikaten Suppenstärkung begeben wir uns alle wieder an unsere Werke, die sich nach Vollendung sehnen.
Wo bitte schön ist denn nun dieser tolle Stich, den ich an meiner gekauften Kleidung erblicke? Jener, der die Ränder so schön umnäht. Nach langem Suchen an meiner Nähmaschine Zuhause musste ich enttäuscht feststellen, dass es diesen wohl nicht gibt. „Overlockstich“ nennt sich das Ganze und dafür gibt es eine extra Nähmaschine in der Kabutze.
Doch warum überhaupt selbst nähen und nicht den Weg des geringsten Widerstandes nehmen und in Kleidungsgeschäften einkaufen? Das Nähen beansprucht, besonders am Anfang, viel Zeit. Und manchmal entspricht das Resultat dann nicht der eigenen Wunschvorstellung.
Doch eine Nähmaschine kann viel mehr, als nur Löcher in einer Hose zusammennähen. Sie haucht alten und neuen Stoffen frisches Leben ein und erschafft etwas Eigenes, in dem Herzblut, Geduld und Stolz stecken. Es formt das Individuelle. „Ich finde es spannend, wie man sich durch Kleidung ausdrücken kann“, erzählt Mel. Eileen, eine der Teilnehmerinnen ist inzwischen fertig mit ihrem Kleid.
Aus einem mitgebrachten bunt gestreiften T-Shirt hat sie ein entzückendes Kleidchen gezaubert. „Ach, das ist so schön, ich liebe es jetzt schon“, sagt sie mit einem breiten Grinsen. Am Ende des Tages werden wir entspannt und zufrieden mit unseren Werken nach Hause gehen. In Gedanken bin ich allerdings schon bei meinem nächsten, selbst genähten Kleidungsstück.
Ein Feature von Maria Strache
von moritz.magazin | 30.01.2012
Hollywood – Zentrum der Filmindustrie, Wahrzeichen für Filmgeschichte, Heimat großer Filmtitanen. Doch kommt es immer öfter vor, dass wir im Kino merken: Das kenne ich doch! Woran liegt es, dass Filme immer wieder neu verfilmt werden?
Die meisten Menschen schauen gerne Filme: gruselige, abenteuerreiche, lustige, phantasievolle. Immer wieder gibt es neue Ideen. Oft passiert es allerdings, dass sich Filmemacher für altbekannte Geschichten entscheiden und diese neu verfilmen. Meist merkt der Otto-Normal-Filmgucker nicht, dass es sich um Neuverfilmungen handelt, doch beschäftigt man sich mit dem Thema genauer, stellt man fest, dass sich viele Drehbuchautoren an bestehenden Filmen festkrallen und höchstens ihre Schwerpunkte verschieben. Plot, Charaktere und Szenerie bleiben dabei oft gleich. Durch neue Möglichkeiten gerade im Bereich der Technik, wie zum Beispiel die Computeranimation, kommen viele Regisseure in Versuchung einen Film neu aufzulegen. „Remakes sind eine generelle Praxis in Hollywood“, sagt Dr. Martin Holtz vom Institut für Anglistik/Amerikanistik, der zu einem Filmthema promovierte. Doch wann macht das Sinn und wann ist es Unsinn? Stellt sich Hollywood und die restliche Filmwelt damit neuen Herausforderungen oder ist es ideenlos? (mehr …)
von moritz.magazin | 18.12.2011
Freuds Erkenntnis der Mensch sei eben ein »unermüdlicher Lustsucher«, und jeder Verzicht auf eine einmal genossene Lust sei ihm sehr schwer, lerne ich erst jetzt zu verstehen. Der vegane Selbstversuch: Warum Fleisch tödlich sein kann.
Ihr esst unserem Essen das Essen weg!“ Diese mehr oder weniger qualifizierte Äußerung hört man als Vegetarier oder Veganer nur allzu häufig. Die Tatsache, dass es eigentlich die Fleischesser sind, die 70 Prozent des gesamten Getreideanbaus wegfuttern, wird häufig ignoriert. Man sollte sein Gehirn ja auch nicht zu sehr mit Informationen belasten. Nachher müsste man sich noch über seine Ernährung Gedanken machen. Umso einleuchtender erscheint die Studie der Universität Southampton, die herausgefunden haben will, dass insbesondere sich vegetarisch Ernährende überdurchschnittlich intelligent sind. Schließlich sind die Argumente, die eine vegetarische Ernährung rechtfertigen, wesentlich ausgereifter, als die bloße Behauptung: Der Mensch kann ohne Fleisch nicht leben. (mehr …)
von moritz.magazin | 18.12.2011
Am ersten Novemberwochenende beehrte Moderator und Musiker Tex das Café Koeppen. Im Anschluss an das ausverkaufte Konzert ergründete moritz Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Liedermachertums.
Auffällig ist, zumindest für uns Kleinstädter, dass du deine Konzerte nicht nur in den Metropolen Deutschlands spielst, sondern auch kleine Städte wie gestern Wismar und heute Greifswald besuchst. Sind die Kleinstadtmenschen vielleicht ein dankbareres Publikum?
Wir haben eigentlich die Erfahrung gemacht, dass es leichter ist in Großstädten Konzerte zu spielen. Was sich aber in Wismar und auch hier gezeigt hat, meine Sachen funktionieren sehr gut mit Studentenpublikum. Denn Studenten haben die Zeit und den Spaß sich intensiv mit den Texten zu beschäftigen. Außerdem sind studentische Zusammenhänge auch noch mehr in solchen Blasen organisiert, also so ein Freundeskreis von acht bis fünfzehn Leuten. Und das ist auch etwas, das man spürt, dass da eben größere Gruppen gekommen sind. Und das passt irgendwie sehr gut zu dem was ich mache.
Du hast Mathematik studiert und als Programmierer gearbeitet, heute beschäftigst du dich vornehmlich mit Worten und Musik. Wo liegen da die Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Welten?
Es war nicht so, dass ich eine lupenreine Karriere hatte und dann irgendwann gedacht hab, jetzt mach ich mal etwas anderes. Seit ich 14 war, ist die Musik im Grunde das Zentrale. Ich hab zwar auch mit Leidenschaft Mathe studiert und auch sehr gerne gearbeitet, aber selten ganztags. Das Neue an der Situation ist daher, dass ich das Technische vor ungefähr einem Jahr ganz aufgegeben habe. Bei TV Noir arbeite ich als Firmenchef nicht nur künstlerisch, man stellt sich das kreativer vor, als es tatsächlich ist. Ich glaube als reiner Musiker würde es mich auch nicht so glücklich machen.Du hast gefragt ob es dort nun Gemeinsamkeiten gibt – ich habe so lange Mathe studiert, dass ich egal was ich mache, das als Mathematiker tue. Im Studium ging es oftmals darum, etwas zu beweisen. Das liegt nicht immer auf der Hand, man hat aber schon einen Verdacht, man spielt ein bisschen herum und erarbeitet sich irgendwie einen Zugang. Und auf einmal „schnackelts“, wie man auf Bayrisch sagt. Dieser Prozess ist ganz ähnlich wie bei der Musik, wenn man so ein wenig auf dem Klavier rumprobiert. In der Mathematik macht man es eleganter, kürzer und bei der Musik feilt man an den Worten und bastelt an der Harmonik. (mehr …)
von moritz.magazin | 18.12.2011
Kultur nach Greifswald bringen – ein Ziel des Café Koeppen Konzert Teams. So arbeiten Studenten mit dem Café Koeppen Team zusammen, um Konzerte zu organisieren. moritz sprach mit zwei Mitgliedern: Kristina Ewald und Jens Leuteritz.
Wie motiviert ihr euch für die vielen Stunden unentgeltlicher Arbeit?
Kristina: Mich motiviert die Liebe zur Musik, die Künstler live zu erleben. Aber vor allem dabei zu helfen Kultur nach Greifswald zu bringen.
Wie hat sich das CKKT gegründet?
Jens: Wir sind eigentlich immer noch in der Gründungsphase. Obwohl wir jetzt mit einem festen Kern aus sieben Mitgliedern eine gute Arbeitsatmosphäre haben. Wir wollen uns ja auch gegenseitig kennen, damit man weiß, wer wie tickt.
Kristina: Ich war auf dem Gregor McEwan Konzert. Am Ende hat Jens sich auf die Bühne gestellt und angesagt, dass sich Interessierte gerne anschließen können. Ich bin daraufhin zu einem Treffen gegangen und wurde gleich stark involviert.
Wie lockt ihr die Künstler nach Greifswald?
Kristina: Mit unserem Charme.
Jens: Nein, vertraglich haben wir leider nicht so viel zu bieten. Unsere Gagen liegen meist unter Bundesdurchschnitt, sowie auch unsere Ticketpreise. Ich habe das Gefühl es spricht sich in der Szene herum. Inzwischen kriegen wir mehr Anfragen, als wir Konzerte machen können. Das war nicht immer so. Wenn wir uns wirklich jemanden wünschen, dann fragen wir einfach an. (mehr …)
von moritz.magazin | 03.12.2011
Eine Rezension von Stephanie Napp
Wie eine Erinnerung, die man vergessen hat und langsam wiederfindet – so muten die alten Filmaufnahmen aus dem Jahre 1912 an, die der Filmemacher Georg Wasner ausgehend von einem sechsminütigen Zeitdokument in ein mondänes Stück Kunst verwandelt hat, das den Namen „Oceano Nox“ trägt. Die Bilder, die uns zerkratzt und staubig entgegen flackern, wurden kurz nach der schicksalshaften Fahrt der Titanic aufgenommen. Lediglich die erste Aufnahme springt vor das Ereignis. Wir sehen Kapitän Edward John Smith, einer der 1500 Menschen, die den Untergang nicht überlebten.
In den folgenden Bildern ist die Katastrophe schon vergangen. Überlebende Mitglieder der Crew stehen in Position für die Kamera und starren in das Objektiv, ganz fasziniert von diesem neuen, unbekannten Medium. Einer setzt ein Lächeln auf, ein anderer stiert – wie in Trance – mit offenem Mund. Man sieht ihnen nicht an, dass sie erst vor Kurzem den eisigen Wellen entkommen sind. Unser Blick wandelt über die einzelnen Gesichter der Besatzungsmitglieder. Dabei hat der Regisseur die alten Bilder jedoch nicht einfach aneinander geschnitten, sondern künstlerisch instrumentalisiert.
Stasis des Augenblicks
Beobachter im Hintergrund – ein Spiegelbild des Zuschauers?
Die ursprüngliche Länge des Filmmaterials dehnt der gebürtige Wiener auf 15 Minuten. Dabei wiederholt Wasner einzelne Momentaufnahmen in Zeitlupe: Eine reiche Dame mit Federhut holt aus ihrem Wagen Kleidung für die überlebenden Passagiere. Große Säcke, aus denen etwas Stroh herausragt. Vielleicht gefüllt mit warmem Schuhwerk. Normale Koffer folgen, auch hier lässt sich der Inhalt nur erahnen. Aber: wir haben Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufnahme ist um ein Vielfaches verlangsamt. Schwarzbild.
Dann läuft die gleiche Sequenz in normaler Geschwindigkeit ab. Wieder Schwarzbild.
Es folgt dieselbe Aufnahme in Zeitlupe, aber dieses Mal mit einem anderen, vergrößerten Bildausschnitt. Zwei Männer, ein langer und ein kurzer, stehen hinter dem Vehikel. Sie beachten die Dame nicht, sondern blicken ungläubig und gespannt in die Kamera. Die Beiden scheinen mehr Interesse an diesem neuen Instrument, als an dem Geschehen zu haben, das sich vor ihnen abspielt.
Nach diesem Muster verfährt der Filmemacher mit allen Momentaufnahmen. Als würde man immer wieder versuchen, die Zeit anzuhalten, um der Wahrnehmung des Bildes genug Raum zu lassen. Zweifelsohne aber eine gelenkte Wahrnehmung, denn der Betrachter bekommt nur die Details zu sehen, die der Regisseur ihn sehen lassen will. Dabei gelingt es Wasner, dem Zuschauer einen Spiegel vor die Augen zu halten. Während wir einen Einblick in den Nachklang der Katastrophe erhalten, nehmen wir als Zuschauer eine ähnliche Position wie die Personen hinter der reichen Dame ein – Beobachter, Gaffer, Voyeure. Die Spiegelfläche zwischen ihnen und uns bildet das Zelluloid.
Die Momentaufnahmen sind stetig durchsetzt mit Schwarzbildern, die uns die Möglichkeit geben, das gerade Gesehene wieder zu erinnern. Wie bei eine Schallplatte mit Sprung, werden wir stets von Neuem an dasselbe Bild herangeführt. Um zu starren.
Die stummen Filmaufnahmen sind mit einfachen Klavierklängen unterlegt, die die Nostalgie des Visuellen auch auf die auditive Ebene hinübertragen. Die nachdenklichen Töne machen grundlegend die Stimmung von „Oceano Nox“ aus; sie bilden den melancholischen Nachklang, der uns neben den Gaffern stets an die nicht sichtbaren Verunglückten erinnert.
Schwarzbild. „Oceano Nox! O Wellen! von welch traurigen Ereignissen könnt ihr erzählen“ heißt es im Zwischentitel. Der Ausruf stammt aus Victor Hugos gleichnamigem Gedicht. „O flots! Que vous savez de lugubres histoires!“ Nachdem der Romantiker im Jahre 1836 einen gewaltigen Sturm an der nordfranzösischen Küste beobachtet hatte, schrieb er das kurze Versepos über diese düsteren Nächte auf dem Ozean. Das Gedicht erzählt von den unzähligen Seefahrern, deren Körper im Meer und deren Namen in der Zeit versunken sind. Dieses Bild macht sich Wasners Titel zunutze und lässt es wie einen dunklen Schatten über den Aufnahmen schweben.
Alte Filmstreifen üben immer eine gewisse Faszination aus. Ein vergangener Moment wird aus der Rumpelkammer gekramt und uns – staubig wie er ist – präsentiert. Aber der Moment ist mehr als nur ein voyeuristischer Blick in die Vergangenheit. Er ist eine zu Kunst gemachte Geschichtsaufnahme. Ein Fundstück aus dem Filmarchiv, das uns in knappster Form an das Schicksal derer heranführt, die gerade nicht auf dem zerkratzten Zelluloidstreifen zu sehen sind.
Am Ende bleibt das weite, endlose Meer. Wir blicken auf den Atlantik und eine hinter den Wolken durchschimmernde Sonne aus dem Jahre 1912. „Oceano Nox“ schließt wie das Gedicht von Victor Hugo. Die Seelen ruhen auf dem Meer, ihre Namen geraten der Vergessenheit an. Doch mit diesem Film hat Georg Wasner den Schiffbrüchigen eine Erinnerung geschaffen, die über ein bloßes Zeitdokument hinausgeht. Er macht sich die Faszination der Nostalgie und den voyeuristischen Charakter der Menschen zunutze, um ein Stück Filmpoesie zu schaffen. Wir blicken auf die Menschen, dessen Leben sich mit dem der Verunglückten kreuzt und wissen nicht recht, ob wir weiter hinschauen sollen oder nicht.
Regie: Georg Wasner, Österreich, 2011
Anmerkung: Am 9. Dezember wurde diese Rezension von der Autorin überarbeitet.
Wie eine Erinnerung, die man vergessen hat und langsam wiederfindet – so muten die alten Filmaufnahmen aus dem Jahre 1912 an, die der Filmemacher Georg Wasner ausgehend von einem sechsminütigen Zeitdokument in ein mondänes Stück Kunst verwandelt hat, das den Namen „Oceano Nox“ trägt. Die Bilder, die uns zerkratzt und staubig entgegen flackern, wurden kurz nach der schicksalshaften Fahrt der Titanic aufgenommen. Lediglich die erste Aufnahme springt vor das Ereignis. Wir sehen Kapitän Edward John Smith, einer der 1500 Menschen, die den Untergang nicht überlebten.
In den folgenden Bildern ist die Katastrophe schon vergangen. Überlebende Mitglieder der Crew stehen in Position für die Kamera und starren in das Objektiv, ganz fasziniert von diesem neuen, unbekannten Medium. Einer setzt ein Lächeln auf, ein anderer stiert – wie in Trance – mit offenem Mund. Man sieht ihnen nicht an, dass sie erst vor Kurzem den eisigen Wellen entkommen sind. Unser Blick wandelt über die einzelnen Gesichter der Besatzungsmitglieder. Dabei hat der Regisseur die alten Bilder jedoch nicht einfach aneinander geschnitten, sondern künstlerisch instrumentalisiert.
Die ursprüngliche Länge des Filmmaterials dehnt der gebürtige Wiener auf 15 Minuten. Dabei wiederholt Wasner einzelne Momentaufnahmen in Zeitlupe: Eine reiche Dame mit Federhut holt aus ihrem Wagen Kleidung für die überlebenden Passagiere. Große Säcke, aus denen etwas Stroh herausragt. Vielleicht gefüllt mit warmem Schuhwerk. Normale Koffer folgen, auch hier lässt sich der Inhalt nur erahnen. Aber: wir haben Zeit, darüber nachzudenken. Die Aufnahme ist um ein Vielfaches verlangsamt. Schwarzbild.
Dann läuft die gleiche Sequenz in normaler Geschwindigkeit ab. Wieder Schwarzbild.
Es folgt dieselbe Aufnahme in Zeitlupe, aber dieses Mal mit einem anderen, vergrößerten Bildausschnitt. Zwei Männer, ein langer und ein kurzer, stehen hinter dem Vehikel. Sie beachten die Dame nicht, sondern blicken ungläubig und gespannt in die Kamera. Die Beiden scheinen mehr Interesse an diesem neuen Instrument, als an dem Geschehen zu haben, das sich vor ihnen abspielt.
Nach diesem Muster verfährt der Filmemacher mit allen Momentaufnahmen. Als würde man immer wieder versuchen, die Zeit anzuhalten, um der Wahrnehmung des Bildes genug Raum zu lassen. Zweifelsohne aber eine gelenkte Wahrnehmung, denn der Betrachter bekommt nur die Details zu sehen, die der Regisseur ihn sehen lassen will. Dabei gelingt es Wasner, dem Zuschauer einen Spiegel vor die Augen zu halten. Während wir einen Einblick in den Nachklang der Katastrophe erhalten, nehmen wir als Zuschauer eine ähnliche Position wie die Personen hinter der reichen Dame ein – Beobachter, Gaffer, Voyeure. Die Spiegelfläche zwischen ihnen und uns bildet das Zelluloid.
Die Momentaufnahmen sind stetig durchsetzt mit Schwarzbildern, die uns die Möglichkeit geben, das gerade Gesehene wieder zu erinnern. Wie bei eine Schallplatte mit Sprung, werden wir stets von Neuem an dasselbe Bild herangeführt. Um zu starren.
Die stummen Filmaufnahmen sind mit einfachen Klavierklängen unterlegt, die die Nostalgie des Visuellen auch auf die auditive Ebene hinübertragen. Die nachdenklichen Töne machen grundlegend die Stimmung von „Oceano Nox“ aus; sie bilden den melancholischen Nachklang, der uns neben den Gaffern stets an die nicht sichtbaren Verunglückten erinnert.
Schwarzbild. „Oceano Nox! O Wellen! von welch traurigen Ereignissen könnt ihr erzählen“ heißt es im Zwischentitel. Der Ausruf stammt aus Victor Hugos gleichnamigem Gedicht. „O flots! Que vous savez de lugubres histoires!“ Nachdem der Romantiker im Jahre 1836 einen gewaltigen Sturm an der nordfranzösischen Küste beobachtet hatte, schrieb er das kurze Versepos über diese düsteren Nächte auf dem Ozean. Das Gedicht erzählt von den unzähligen Seefahrern, deren Körper im Meer und deren Namen in der Zeit versunken sind. Dieses Bild macht sich Wasners Titel zunutze und lässt es wie einen dunklen Schatten über den Aufnahmen schweben.
Alte Filmstreifen üben immer eine gewisse Faszination aus. Ein vergangener Moment wird aus der Rumpelkammer gekramt und uns – staubig wie er ist – präsentiert. Aber der Moment ist mehr als nur ein voyeuristischer Blick in die Vergangenheit. Er ist eine zu Kunst gemachte Geschichtsaufnahme. Ein Fundstück aus dem Filmarchiv, das uns in knappster Form an das Schicksal derer heranführt, die gerade nicht auf dem zerkratzten Zelluloidstreifen zu sehen sind.
Am Ende bleibt das weite, endlose Meer. Wir blicken auf den Atlantik und eine hinter den Wolken durchschimmernde Sonne aus dem Jahre 1912. „Oceano Nox“ schließt wie das Gedicht von Victor Hugo. Die Seelen ruhen auf dem Meer, ihre Namen geraten der Vergessenheit an. Doch mit diesem Film hat Georg Wasner den Schiffbrüchigen eine Erinnerung geschaffen, die über ein bloßes Zeitdokument hinausgeht. Er macht sich die Faszination der Nostalgie und den voyeuristischen Charakter der Menschen zunutze, um ein Stück Filmpoesie zu schaffen. Wir blicken auf die Menschen, dessen Leben sich mit dem der Verunglückten kreuzt und wissen nicht recht, ob wir weiter hinschauen sollen oder nicht.