Auf ihrem Weg nach vorn merkt Marie, dass außer ihr niemand mehr im Bus ist. Außer ihr und… dem blonden Mädchen. Zusammengekauert sitzt es auf einer der Bänke, schaut aus dem Fenster und schluchzt vor sich hin.

„Ähm…hey“, flüstert Marie, „geht es dir gut?“ Das Mädchen zuckt zusammen und schaut auf: „Ich dachte es wäre niemand mehr im Bus. Ich dachte… mir geht es gut.“ Das Mädchen wischt sich die Tränen ab und schaut sie abweisend an. Doch jetzt will Marie nicht lockerlassen. Immerhin hat sie auch sonst nichts anderes zu tun. „Kann ich mich setzen?“, fragt sie. „Meinetwegen“, kommt es patzig von der Sitzbank zurück. Marie setzt sich und schaut sich im Bus um. Noch immer ist niemand wieder reingekommen. Stockend fängt sie an zu fragen: „Also. Ich weiß ja nicht, aber wenn du Hilfe…“

„Es ist ja soooo schrecklich“, platzt es aus dem Mädchen heraus. Jetzt weint sie auch wieder ein bisschen. „Ich hatte eine Aufgabe und jetzt mit der Panne wird das wohl nichts. Und irgendwie dachte ich, du gehörst zu uns. Wegen der vielen Geschenke und so.“ „Zu euch?“, fragt Marie verwundert. Das Mädchen wischt sich ein zweites Mal die Tränen ab und atmet tief ein: „Also: Ich bin ein Weihnachtself und ich dachte du auch. Also es gibt ganz viele Weihnachtselfen auf der Welt. Wir verteilen Liebe und kleine Wunder zu den Feiertagen und natürlich die Geschenke. Unsere Anweisungen bekommen wir per magischer Post von der Zentrale. Wer das genau ist, weiß ich jetzt auch nicht. Vielleicht das Christkind oder der Weihnachtsmann oder sonst wer. Ich bin für ein Kinderkrankenhaus in Berlin eingeteilt und sollte auf dem Weg den Leuten in den Autos ein paar Wunder mitgeben. Aber das ist ja nun völlig nach hinten losgegangen.“

Marie dreht sich der Kopf. Vielleicht hätte sie auf den Schuss im Tee verzichten sollen. Langsam kann sie einen Satz formen: „Warum sollte ich zu euch gehören?“ „Achso. Du hattest so viele Geschenke dabei und dann dachte ich. Na ja, es gibt viele Weihnachtselfen. Manche machen es hauptberuflich, so wie ich. Viele Eltern sind auch Weihnachtselfen und dann nur für ihre Kinder zuständig. Oder die älteren Geschwister werden Weihnachtselfen. Schließlich braucht es viele Hände für eine magische Zeit. Aber nur die hauptberuflichen Elfen können zaubern.“ Das Mädchen kichert. Doch dann endet das Lachen und sie schürzt die Lippen: „Du darfst das niemandem verraten. Das musst du mir versprechen.“ Marie nickt: „Versprochen.“

Eine Weile sitzen beide schweigend da. Das Mädchen spielt fahrig mit ihren Haaren, Marie sortiert ihre Gedanken. Erst formt sich eine Erkenntnis und dann eine Frage in ihrem Kopf: „Hast du die Panne verursacht?“ Immer nervöser wandern die Finger des Mädchens durch ihre Haare: „Also naja…nicht direkt. Also vielleicht schon ein bisschen. Also vielleicht hat mir die Zentrale gesagt, dass ich erstmal bei den kleinen Wundern bleiben soll. Aber im Auto nebenan war ein Vater. Seine Tochter hat ihn für Heiligabend ausgeladen. Ich übe noch an meinen Versöhnungszaubern, aber der Streit geht schon lang und die Wunden auf beiden Seiten sind tief. Auf jeden Fall ging irgendwas schief und auf einmal hat es aus dem Bus geraucht.“ Wieder kullern ihr Tränen über die Wangen. „Aber einen Bus-Reparatur-Zauber hast du nicht im Repertoire?“, fragt Marie vorsichtig. Die Weihnachtselfe schüttelt den Kopf. Wieder Schweigen im Bus. Marie startet einen zweiten Anlauf: „Wollen wir kurz raus und uns die Beine vertreten? Draußen kann man besser denken.“ Das Mädchen nickt und gemeinsam gehen die beiden zur Tür.

Draußen schneidet Marie die kalte Luft ins Gesicht. Die Elfe scheint die Kälte nicht zu merken. Sie schaut gedankenverloren auf die Fahrbahn, auf der die Autos wie Lichtblitze in der eisigen Dunkelheit vorbeirauschen. Langsam spazieren sie zum Busende. Dort stehen die anderen Fahrgäste und halten mit zitternden Händen ihre Handytaschenlappen an die Heckklappe. Einige wärmen sich in einem Kreis. Mit Ankunft der Elfe wird es plötzlich heller. Marie vernimmt die schüchterne Frage: „Wollen wir etwas singen?“ Kurz bekommt sie Angst, dass sich jemand an Wham! versucht. Doch vorsichtig klingen die ersten Töne von „Maria durch ein Dornwald ging“. Alle im Kreis singen mit. Die Musik am Rande der kalten Autobahn, die Lichter der Handys und der Scheinwerfer. Marie wird warm.

Als der letzte Ton verstummt, knallt auf einmal die Heckklappe. Stefan hat die Panne behoben und geht stolz voran zurück in den Bus. Die Fahrgäste trotten ihm hinterher. Das Rascheln von Mänteln füllt den Wagenraum. Marie setzt sich zurück an ihren Platz. Neben ihr das blonde Mädchen. „Glück gehabt“, flüstert sie ihr zu. Die Elfe nickt stumm. Die Wärme in Maries Herz macht sie schläfrig. Der Bus brummt sanft, als die Zündung startet. Marie schaut aus dem Fenster und denkt nach: Vielleicht hat das Mädchen ja geflunkert und sich die ganze Geschichte aus Langeweile ausgedacht? Doch Zweifel haben in dieser Nacht keinen Platz. Mit dem Gedanken an Wunder und endlich auf dem Weg nach Berlin schläft Marie selig ein.

Betragsbild: Laura Schirrmeister