Es weihnachtet sehr, auch in Greifswald – und besonders bei den moritz.medien. Mit dem advents.kalender geben wir Euch weihnachtliche Tipps, Tricks, Erfahrungsberichte, Rezepte uvm. für die Adventszeit. Öffnet jeden Tag ein Beitrags-“Türchen”! Im heutigen Türchen streift Charles Dickens weiter kopflos durch London.

Die zukünftige Weihnacht

Allmählich gewöhnte Charles sich an den Gedanken, dass es nur ein Traum war. Als Schriftsteller hatte er sich bereits die seltsamsten Geschichten ausgedacht, und nicht selten hatte er sich so sehr in ein paar Gläsern zu viel verloren, dass die Welt um ihn herum plötzlich nicht mehr schien, wie sie eigentlich war. Zwar hatte niemals zuvor eins seiner Hirngespinste so we­nig der Realität entsprochen wie das hier, aber wenn überhaupt sollte er sich über diesen Umstand eher freuen. Edward und William hatten eine Geschichte gewollt. Wenn ihn das hier nicht inspirieren konnte, was sollte es dann können?

Die beiden Männer, auf die er in der Seitenstraße gestoßen war, folgten ihm dicht auf, auch wenn sie anfangs nicht begeis­tert davon schienen. David, der junge Mann aus der indischen Kolonie, hatte ihn erst zurückhalten wollen, aber er scheiterte schnell an Charles’ Starrsinn. Sein Freund, ein schlaksiger flachsblonder Brite mit dem merkwürdigen Namen Pip, hatte noch versucht, David davon zu überzeugen, dass es besser wäre einfach zu gehen, aber David war hartnäckig geblieben. »Der Typ ist total verwirrt«, hatte er nur gesagt. »Nachher macht er noch irgendwas Dummes.«

Charles merkte schnell, dass es gar nicht so schwer war, in einer Welt, die sich völlig wider jeder Vernunft verhielt, etwas Dummes zu tun. Genauer gesagt merkte er es bereits, als er das eingezäunte Gebiet in der Mitte des Leicester Squares betreten wollte, und sich die Frau am Eingang in ihrer blendend grünen Weste ihm in den Weg stellte. »Ich muss Sie einmal abtasten.« Dann legte sie ihm auch schon die Hände auf den Körper. Charles schrie auf, erst vor Schreck, dann vor Scham und schließlich vor Wut. »Wer glauben Sie, das Sie sind? Das ist unerhört, nicht einmal meine Frau hat je …«

Sie hörte ihm gar nicht mehr zu. Er war noch nicht fertig, mit seiner Schimpftirade, wollte noch mehr zornige Worte hin­terher setzen, doch er wurde bereits weitergetrieben. Immer mehr Menschen strömten in den Park, so viele, wie er nie zu­vor auf einem einzigen Platz versammelt gesehen hatte, nicht einmal – oder vielleicht gerade erst recht nicht – zur Weih­nachtszeit in einer Kirche.

Den Park zu betreten fühlte sich an, wie im Sommer in den Männerbadeteich in Hampstead abzutauchen. Ein bisschen angsteinjagend im ersten Moment, ein bisschen kalt und atem­raubend, und dann nur noch überwältigend.

Die Stände, die am Rand und in der Mitte des Parks aufge­baut waren, schienen einmal im Kreis zu verlaufen. Überall duftete es nach gebackenem Teig und süßem Zimt, nach gebra­tenem Fleisch und gerösteten Nüssen. An den Ständen, aus denen nicht der Dampf der Öfen und kochenden Töpfe drang, wurden die verschiedensten Waren angeboten. Gläserne Halter in bunten Farben für Kerzen, aus Holz geschnitzte Bögen, Fi­guren, die aus Honig geformt worden waren. Musik lag in der Luft, die nicht von einem Chor oder einem Orchester auszuge­hen schien sondern vielmehr von den Bäumen um ihn herum. Und überall leuchtete es. Alle Dächer der Stände waren mit einer leuchtenden Kette behangen, die einzelnen Waren strahl­ten in glitzerndem Licht, es blinkte rot und grün und silbern, stach ihm in die Augen und schien seine Sinne mehr zu bene­beln, als das Ale, das er sonst so zu sich nahm.

Taumelnd blieb er neben einem Stand stehen und streckte die Hand nach der Kette aus, die sich vom Dach aus an der Wand hinunter schlängelte. Er wollte eine dieser Kerzen berüh­ren, musste wissen, wie sie es anstellten, mit dem Feuer einge­schlossen in dem winzigen Glas.

Es war heiß. So heiß, dass er sich augenblicklich die Finger daran verbrannte. Charles schreckte zurück.

»Hey, willst du ein Foto machen? Du kannst es ganz einfach hier auf so einen Würfel drucken lassen oder vielleicht auf ein kleines Teelicht? Wir haben auch Teddybären, wenn du zum Beispiel kleine Kinder Zuhause hast, die sich freuen würden.«

Charles wirbelte herum. Ein Mann stand vor ihm, der zu dem Stand zu gehören schien, an dem er sich gerade umsah. Er hielt einen Würfel in der einen Hand, einen gläsernen Becher in der anderen. Auf beide waren kleine Porträts gezeichnet, so winzig und trotzdem detailgetreu, dass Charles sich einen Mo­ment darin verlor, weil er sich sicher war, dass ihm seine Au­gen einen Streich spielten.

»Dauert auch nicht lange, du musst dich nur einmal vor die­se Box da stellen und in die Linse gucken. Den Rest regel ich.« Der Mann sah ihn noch einen kurzen Augenblick an, dann zuckte er die Schultern, stellte die beiden Gegenstände beiseite und nahm Charles vorsichtig bei der Schulter. »So was ist im­mer ein schönes Geschenk für die Familie. Ich kann dir nach­her auch eine Weihnachtsmütze auf den Kopf zaubern oder den Hintergrund gegen einen Weihnachtsmannschlitten austauschen oder so.«

Charles ließ sich vor einem mannshohen Kasten abstellen, während seine geweiteten Augen auf den Verkäufer geheftet blieben. »Zaubern?«

»Naja, du weißt schon.« Der Kerl nahm auf der anderen Seite des Kastens Platz und legte seine Hand auf einen kleinen Regler an der Seite. »Rennst du eigentlich immer so rum oder spielst du bei ‘nem Theaterstück oder so mit?«

Charles’ Miene wurde finster. »Ich darf doch wohl bitten!«

Vor ihm blitzte es hell auf. Er zuckte zusammen und riss die Arme nach oben, vor seinen geschlossenen Augen tanzten wirre Lichter.

»Sorry, das war vielleicht ein bisschen spontan. Jetzt guckst du ganz grimmig da drauf. Wir machen einfach noch eins, du musst am Ende auch nur das schönste davon bezahlen.«

»Bez– Bezahlen?«

»Ja, aber keine Sorge, ist nicht viel, zwei Pfund für das Bild und dann noch mal wenn ich es dir irgendwo drauf drucken soll. Das Teelicht zum Beispiel, das geht immer, das wären dann noch mal sechs Pfund dazu.«

»Sechs …!« Das war mehr als sein gesamtes letztes Jahres­gehalt! Er spürte wieder die Wut in sich aufkommen. »Wollen Sie mich ruinieren?«

Eine Hand legte sich auf seinen Arm und hielt ihn davon ab, auf den Verkäufer loszugehen. »Hey hey hey, komm man, lass uns ein Stück gehen.« Es war Pip, der schlaksige Brite. Charles ließ sich von ihm und seinem Freund mitziehen. Wenigstens konnte er so der Schlägerei entkommen, ohne Schwäche zu zeigen. Sechs Pfund hätte er nie im Leben bezahlen können, und in Prügeleien war er meistens unterlegen. In der Regel, weil er zu betrunken war, um auch nur einen einzigen guten Schlag zu landen.

Trinken. Vielleicht würde ihn das etwas ablenken, ein gutes lauwarmes Ale. All die Sinneseindrücke waren zu viel für ihn. Er wusste, dass er bereits die gesamte Nacht getrunken hatte, aber die Wirkung schien schon völlig von ihm abgefallen zu sein, und er hatte das Gefühl, dass der Moment, als er den Pub verlassen hatte und von dem Ding erschlagen worden war, bereits Tage zurück lag.

»Alkohol«, murmelte er.

»Hm?«

»Ich brauche Alkohol.«

Pip warf seinem Freund einen skeptischen Blick zu, dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, du hattest schon mehr als genug.«

David runzelte die Stirn. »Na, vielleicht ist er ja auf Entzug. Da verhalten sich Leute manchmal komisch.«

»Und? Was hast du vor?«

Er kramte in der Tasche seiner roten Jacke herum. »Ein Glas kann nicht schaden. Ich hatte sowieso Lust auf Glühwein.«

Charles nickte begeistert. »Wein klingt nach einer wunder­baren Idee!«

Sie gingen zu einem nahen Stand hinüber, in dem verschie­dene große Metallkessel dampften. Der Geruch von unzähli­gen fremdartigen Gewürzen ging von den Kesseln aus, sodass sich Charles bereits von dem Duft betrunken fühlte.

»Drei kleine Becher.«

Der Wein war kochend heiß, als sie ihn in die Hand ge­drückt bekamen. Die Tassen, in denen er serviert wurde, schie­nen aus Papier gemacht zu sein, nur dass es dicker und fester war, und der Wein wie auf magische Weise nicht hindurch sickern konnte.

Charles schlang ihn dennoch sofort hinunter. Es schmerzte auf seiner Zunge, und der schlaksige Pip verzog entgeistert das Gesicht, als er es sah, aber wenn das hier ohnehin nur ein Traum war, was kümmerte ihn dann eine verbrannte Zunge? Er glaubte, sein Kopf würde bald explodieren von all dem Lärm und dem Licht, den Menschen und den Gerüchen, er konnte nicht mehr warten.

Der Effekt setzte sofort ein. Als ein leichtes Kribbeln in den Händen und in den Beinen bei den ersten Schlucken, dann als eine watteartige Leere im Kopf, als er den Becher ausgetrunken hatte. Charles ließ die leere Tasse sinken. Die Lichter um ihn herum schienen nur noch greller geworden zu sein, dafür sta­chen sie ihn nicht mehr so sehr in die Augen.

Die Weinverkäuferin räusperte sich. Offenbar hatte David ihn so verdutzt beobachtet, dass er ganz vergessen hatte, zu zahlen. Er öffnete seine Brieftasche, zog einen blauen und ei­nen orangeroten Schein daraus hervor.

Fünfzehn Pfund.

Charles’ entglitt der Becher aus den Händen.

Pip seufzte. »Du musst das auch in den Mülleimer werfen. Wir brauchen wirklich nicht noch mehr Plastikscheiß in der Natur.«

Charles hörte ihn gar nicht. Er trat einfach nur nach vorn, legte David eine Hand auf den Arm und starrte ihn mit funkeln­dem Blick an. »Lasst uns Dinge kaufen!«

Nur eine Stunde später hatten David und Pip die Arme voll mit kleinen und großen Kisten, so viel, dass die Stapel jeden Mo­ment drohten, herunterzustürzen. Sie hatten gläserne Kugeln mit Wasser und Schnee darin gekauft, bunte Lichter, Kerzen und Holzbögen, die leuchteten. Charles hatte auch mit Zucker übergossene Nüsse kaufen wollen und eine dieser klebenden Wolken am Spieß. David hatte außerdem eine bunte schwebende Kugel gekauft, die er mithilfe einer Leine in seiner Hand davon abhielt, davon zu fliegen. »Für die Kleine«, hatte er gesagt.

Sie waren durch die Straßen Londons gegangen, aber das London, das Charles kannte, schien nicht mehr zu existieren. Wäre er nicht so betrunken gewesen, hätte er sich sicherlich über Vieles gewundert, oder hätte vor Schreck geschrien, beim Anblick all dieser pferdelosen schnellen Droschken. Aber er war nun einmal betrunken, denn der heiße gewürzte Wein hatte ihn mehr überwältigt, als es ihm lieb war zuzugeben. Und so lachte er nur über das Droschkenchaos und sah mit großen Au­gen wie ein kleines Kind begeistert zu allen neuen Häusern auf, die er noch nicht kannte, zu den leuchtenden Fenstern und zu den gewaltigen gläsernen Fassaden, die sich über den Dächern erstreckten.

Und er erzählte Geschichten, denn das konnte er am besten. Und zum ersten Mal fühlte er sich wieder inspiriert, von dem schlaksigen Pip und von David, dem Zauberer mit der Schwe­bekugel, und von all den Dingen, die um sie herum geschahen und die er nicht verstand.

»Spar dir die Geschichten für unsere Kleine auf.« David blieb stehen. Sie waren in einer Nebengasse angekommen, die Charles nicht vertraut schien, aber bei den ganzen Veränderun­gen in der Stadt schien ihm ohnehin nicht mehr viel vertraut. Irgendwann hatten sie die Themse überquert und sich auf die Südseite gewagt, wo die Lichter immer weniger und die Häuser immer schäbiger wurden. So viel hatte sich zumindest nicht ge­ändert.

»Die Kleine?«

Pip stellte die vielen Kisten auf dem Boden ab und holte einen Bund mit Schlüsseln aus seiner Tasche. »David hat Recht. Komm mit zu uns rein und ruh dich ein bisschen aus. Und wenn du magst, kannst du morgen auch Sinterklaas mit uns feiern.«

David nickte lächelnd. »Pips Eltern kommen aus den Nie­derlanden. Ist ein bisschen ungewöhnlich, aber wir halten an der Tradition fest. Vor allem wegen Lucy.«

Pip öffnete die unauffällige braune Tür, vor der sie zum Ste­hen gekommen waren und gab den Blick auf einen schmalen Treppenaufgang frei. »Lucy liebt Geschenke. Und sie liebt es zu singen und zu basteln. Und sie liebt Geschichten.« Er lächelte warmherzig und auf seinen Wangen erschienen tiefe Grübchen. »Sie wird dich sehr schnell ins Herz schließen.«

TO BE CONTINUED

Beitragsbild: Till Junker
bearbeitet von: Anne Frieda Müller