Es weihnachtet sehr, auch in Greifswald – und besonders bei den moritz.medien. Mit dem advents.kalender geben wir Euch weihnachtliche Tipps, Tricks, Erfahrungsberichte, Rezepte uvm. für die Adventszeit. Öffnet jeden Tag ein Beitrags-“Türchen”! Im heutigen Türchen: Eine Weihnachtsgeschichte.

nach einer Idee von Franziska Schlichtkrull

Die gegenwärtige Weihnacht

Der Gestank von Schweiß und Zigarren, scharfem Alkohol, tiefster Enttäuschung und geplatzten Träumen erfüllte die sticki­ge Luft des kleinen Raums. Er schien sich schon längst in jede Ritze in dem brüchigen Holz verkrochen zu haben, haftete an den verdreckten Scheiben und an dem klebrigen Tresen, tropfte von den Öllampen, und fraß sich durch die Kleidung der Leute im Pub, sodass er aus jeder Pore ihrer Körper triefte. Sie nah­men ihre Erbärmlichkeit mit dem Ale auf, das sie tranken, und gaben noch mehr davon zurück, als sie die leeren Gläser wie­der über den Tresen schoben.

Die angenehmere Gesellschaft war schon vor einer ganzen Weile gegangen, diejenigen, die nur kamen, um einen anstren­genden Arbeitstag bei einem gemütlichen Bier ausklingen zu lassen, die sich in trauter Runde miteinander unterhielten und lachten, bevor sie sich ihre Mäntel wieder über die Schultern warfen und nach Hause zu ihren Familien gingen.

Er vermisste ihre Gespräche nicht. Glückliches Gerede über die eigenen Kinder oder die neueste Wochenzeitung konnte er nicht gebrauchen. Es passte nicht zu der Stimmung, die sich in seinem benebelten Kopf ausgebreitet hatte. Bei dem lallenden Gesang des alten Shapney über seine miserable Zeit bei der Ar­mee fühlte er sich willkommener. Shapney sang nicht wirklich, er erzählte nur, aber der Alkohol auf seiner Zunge zerrte die Worte so sehr in die Länge, trat den Ton mal nach oben und mal nach unten, dass er einen melodiösen Klang annahm. Wie eine geisterhafte Melodie direkt aus der Totenwelt. »Haben die Kanonenkugeln genommen und eingeschmolzen, sag ich euch. Und dann den guten Arthur draus gemacht, Wellesley, den Duke, ihr wisst schon.«

»Erzähl nicht!« MacPinny schlug lautstark sein Glas auf den Tisch und das Bier spritzte hoch bis auf seinen roten Bart. »Der auf dem Square? Der ist doch nicht aus Kugeln gegossen, der ist aus Stein, ist der!«

Die Männer gerieten in Streit. Ihre beiden Stimmen und die ihrer ebenso betrunkenen Freunde mischten sich allesamt mit­einander zu einem Teppich aus kreischenden Tönen, der sich über ihn legte und ihn langsam in den Schlaf wog. Fort von all­dem. Fort von ihrem miserablen Geschrei, fort von dem dröh­nenden Schmerz in seinem Kopf, fort von den Sorgen.

»Das war’s, Charles. Das war die letzte Chance, die ich dir geben kann. Deine letzten Manuskripte waren alle, und es fällt mir so schwer, dir das sagen zu müssen, aber sie waren alle der größte Mist, den ich je gelesen hab. Und du weißt, ich mag dich, du weißt, wie wichtig du mir bist, aber ich muss auch an mich denken, Charles. An meine Familie. Mary ist gerade wie­der schwanger, fünf Kinder, das sind viele Mägen, viele Klei­der, du kennst das ja, du hast ja auch schon das Vierte mittler­weile. Gott weiß, ich bin der größte Philanthrop der Welt, aber irgendwann … Irgendwann muss ich auch mal an mich den­ken.«

»Ich hab’s doch selbst gesehen!« Shapneys Stimme war so laut geworden, dass die gläserne Umfassung der Lampen vi­brierte. Draußen wütete schon den ganzen Tag ein heftiger Sturm, der ununterbrochen Regentropfen an die Scheiben schlug, sodass Charles glaubte, das Glas hätte schon vor Ewigkeiten darunter zerbrechen müssen. Eccleston, der zu seiner Linken saß, hob müde die Hand, um noch einen Pint zu bestellen. Seinen Kopf konnte er schon längst nicht mehr heben.

»Wir bekommen kein Geld mehr.«

Der Gesichtsausdruck, mit dem Catherine ihn daraufhin strafte, hätte ihn gut auf der Stelle in Fetzen reißen können. »Hat William dir das gesagt?«

»Nein, Edward. Aber er war wirklich sehr entschlossen.«

»Du solltest noch mal mit William darüber sprechen.«

Er spürte die Wut heiß in seinen Wangen glühen. »Damit ich dem auch noch in den Arsch kriechen darf?«

Catherines Augen wurden finster. »Charles, solche Worte! Denk an die Kinder!«

»Die Kinder! Alle denken nur an die Kinder! Ich hab jetzt das fünfte, Charles, wie soll ich dich da auch noch durchfüt­tern? Ich bin halt nicht Christus, der hat sich am Weihnachts­tag der Welt geschenkt, aber ich, bin ich denn Gott, Charles? Soll ich mich denn auch für andere aufopfern? Verrecken soll Edward an seinem Weihnachtstag!«

Shapney hatte eine Münze aus seiner Tasche geholt und hielt sie dem aufgebrachten MacPinny dicht vors Gesicht. »Die Königin! Die Königin selbst hat gesagt …«

MacPinny streckte die Hand so hastig aus, dass er sein Glas dabei umstieß. Er riss Shapney die Münze aus der Hand. »Die Königin! Ich piss auf die Königin!« Seine Hände machten sich an seinem Hosenbund zu schaffen.

Charles Dickens beschloss, dass der perfekte Moment ge­kommen war, um den Pub und dieses Trauerspiel hinter sich zu lassen. Er legte ein paar Münzen auf den Tresen, wahrschein­lich zu viel für die drei, vier Gläser, die er getrunken hatte, aber das kümmerte ihn im Moment wenig. Er wollte nur so schnell wie möglich gehen, bevor MacPinny ihm noch einen Anblick lieferte, den er so schnell nicht mehr vergessen konnte.

Er rutschte schwerfällig von seinem Stuhl, zog mühevoll ein Bein nach vorne, dann wieder das andere, so schnell er nur konnte. Zu seiner Rechten gaffte der alte Shapney MacPinny auf der anderen Seite des Tisches an, als stünde da nicht der schottische Fabrikarbeiter sondern Bonaparte selbst vor ihm. Drei Männer waren aufgesprungen und versuchten verzweifelt, MacPinnys Arme zu fassen zu bekommen, während sie laut­stark auf ihn einschrien.

Charles wusste, dass es schon zu spät war. Eine andere bei­ßende Note hatte sich unter den Gestank in der Luft gemischt.

Er stieß die Tür des Pubs auf und genoss für einen Moment die klare, kalte Luft und den harten Regen auf seinem Gesicht. Hier draußen in den Gassen Londons war es überraschend still. Die Nacht war bereits so weit vorangeschritten, dass nur ent­fernt, in hinter Häuserreihen verborgenen Straßen das Klappern vereinzelter Droschken zu hören war. Nur durch die Tür und die Fenster des Pubs drangen noch immer die Schreie der Män­ner zu ihm nach draußen, und irgendwo hinter der nächsten Häuserecke übergab sich jemand. Die Würgelaute waren so elegant in derbe Flüche eingebunden, dass es Charles wie ein gut komponiertes Lied vorkam. Das Lied hatte eine seltsam ansteckende Wirkung auf ihn. Beinahe fühlte er sich, als müss­te er jeden Moment mit einstimmen, aber er zwang sich, seinen Mageninhalt von vier Pints in sich zu lassen.

Er torkelte nach vorn, dann zur Seite, fing sich an der Wand des Pubs ab, wagte noch einen Schritt. Über ihm mischte sich unter das laute Klappern des Regens auf die Dachziegel auch ein schnelles Kratzen, vielleicht von Katzen oder Marderhun­den. Er tat noch einen Schritt, schob sich langsam an der Wand voran, um nicht zu stürzen. Wenn William oder Edward ihn so finden würden! Er wollte ihnen nicht die Genugtuung geben und zu dem Taugenichts werden, den sie in ihm sahen. Vielleicht war er das bereits, aber das brauchten sie nicht zu wissen.

Noch ein weiterer Schritt. Die Pelztiere über ihm kreischten laut auf, als würden sie sich zu streiten beginnen. Etwas kratzte über die Ziegel, kein Tier, kein Regen. Es klang metallen oder gläsern vielleicht.

Charles Dickens hob den Blick. Das letzte, was er sehen konnte, war ein etwa zwölf Zoll großer Gegenstand, der sich in rasender Geschwindigkeit auf seinen Kopf zubewegte. Für einen winzigen Moment blitzte das Ding im Licht der Straßen­laterne silberweiß auf. Der Schriftzug COKE brannte sich in sein Gedächtnis ein.

Dann spürte er einen dumpfen Schmerz auf der Stirn und das Bild verschwamm vor seinen Augen. Er fiel. Den Aufprall spürte er nicht mehr.

Regentropfen auf seiner Haut, aber schwächer als zuvor. Es war kälter geworden, oder so schien es zumindest. Nur lang­sam kehrten seine Sinne zurück. Ein Geruch lag in der Luft, so süßlich als hätte man ihn in eine Zuckerfabrik entführt. Stim­men. Unzählige, aber dumpf, weit entfernt von ihm. Männer und Frauen unterhielten sich angeregt, Kinder lachten vor Freude. Trotz der Benommenheit schnaufte er verächtlich in den kalten Stein unter seiner Wange. Er konnte unmöglich noch immer in London sein.

»Sir? Geht es Ihnen nicht gut? Soll ich …« Eine Hand legte sich auf seine Stirn, schwebte dann so nah über seinem Mund, dass er die kalten Finger auf seinen Lippen spüren konnte. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

»Können Sie aufstehen?« Zwei weitere Hände griffen ihn vorsichtig an den Oberarmen und zogen an ihm. Der kalte Stein unter seinem Gesicht verschwand. Er fühlte, wie sich die Welt um ihn herum drehte, auch wenn er es nicht sehen konnte. »Ja, kaum machen die Weihnachtsmärkte auf, muss man sich schon vollaufen lassen, hm?«

Er runzelte die Stirn. Sein Schädel brummte, als hätte je­mand eine Druckerpresse darin angeworfen. »Weihnachts­markt?«

»Wissen Sie nicht mehr, wo Sie sind? Vielleicht sollten wir doch einen Krankenwagen rufen.«

Charles öffnete die Augen. Zuerst konnte er nichts als Dun­kelheit ausmachen, doch nach und nach kehrten die Lichter zu­rück. Straßenlaternen nicht weit von ihm, aber sie waren hell, so viel heller als sonst. Dahinter eine Londoner Häuserfassade, aber dort, wo der braune und rote blanke Stein hätte sein müs­sen, waren Girlanden aus Tannenzweigen und bunten Lichtern gezogen worden. Sein Blick folgte ihnen die Straße hinunter, zum Leicester Square, das wusste er. Aber dort, wo sonst die Häuser den Blick auf den kleinen Park freigegeben hätten, konnte er jetzt nur eine gewaltige Ansammlung von Menschen entdecken, die sich allesamt auf ein umzäuntes Gebiet in der Mitte des Parks zuzuschieben schienen. Noch mehr grelle Lichter schienen ihm aus den Fenstern der Häuser entgegen und von den Kronen der Bäume. »Wer hat denn diesen Schwachsinn da in die Bäume gehängt?«

Von dem umzäunten Bereich drang ein Chor zu ihm hinü­ber, auch wenn der Klang seltsam war, von Instrumenten ge­spielt, die er nicht einordnen konnte.

There must have been some magic in

That old silk hat they found

»Kommen Sie, Sir, hoch mit Ihnen. Sie können hier nicht so rumliegen bleiben.« Der Mann hinter ihm, der noch immer seine Oberarme umklammert hielt, zerrte behutsam an ihm, um ihn auf die Beine zu ziehen. Widerwillig ließ er sich aufrichten. Der Mann vor ihm, aus der indischen Kolonie wie es schien, zog etwas aus seiner Tasche hervor. Charles legte den Kopf schief. Der Mann war seltsam gekleidet. Sein Mantel, aus einem glänzenden Material, leuchtete in sattem Rot als würde er das Kleid einer Frau tragen. Seine Hose war blau, mit weißen Streifen, als hätte ein Vogel sich darauf erleichtert, und der Mann besaß sogar die Frechheit, keinen Hut zu tragen!

»Ich ruf jetzt einen Krankenwagen, in Ordnung, Sir?« Das Ding in seiner Hand blinkte gleißend hell auf, stach in seine Augen.

Charles’ Kehle entrann ein spitzer Aufschrei. Er riss sich aus den Händen des Mannes hinter ihm los, rappelte sich auf, stol­perte nach vorn, aber fing sich, bevor er erneut fallen konnte. Er rannte los, auf den Leicester Square zu. So viele Leute um ihn herum, so viele Stimmen und andere, fremde Geräusche, eine Kakophonie des Lärms. Aber vielleicht, vielleicht konnte er ja jemanden finden, nur eine einzige Person, die ihm helfen konnte, die ihm erklärte, was geschehen war.

Nur noch vier Schritte, drei, dann hatte er den Platz erreicht. Er taumelte aus der Irving Street heraus. Und schrak zusam­men. Blendendes blaues Licht zu seiner Rechten, das ihn auf­schreien ließ. Er trat ein paar Schritte zurück, lief in jemanden hinein, der hohe Schrei einer Frau. Er wirbelte herum, blickte der jungen Lady in die Augen, dann an ihr hinauf und hinab, schüttelte den Kopf, fassungslos, über alles. »Eine Hose«, mur­melte er nur.

Ihr Blick wurde finster. Sie erinnerte Charles an Catherine. »Wie hast du mich genannt?«

Bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, erklangen wie­der die Stimmen der beiden Männer hinter ihm. »Sir, warten Sie mal!«

Er wollte davon laufen, aber wusste nicht, wohin. Überall leuchtete es aus den Fenstern heraus, von den Wänden, von den Bäumen, Menschen in der seltsamsten bunten Kleidung, als wären sie Papageien, die aus einem Zoo geflohen waren, und sie unterhielten sich auf den verschiedensten Sprachen, kamen aus den verschiedensten Ländern. Und wo waren ihre Hüte?

»Sir!« Der Mann, der noch immer den leuchtenden Gegen­stand mit sich herum trug, hatte ihn mittlerweile eingeholt. Er legte ihm seine freie Hand auf den Unterarm, nicht fest, aber bestimmt. »Sie sind etwas verwirrt. Wir gehen da hinten hin, zum Weihnachtsmarkt, ja? Da sind ein paar Leute, die Ihnen bestimmt helfen können. Kommen Sie.«

Er ließ sich von dem Mann mitziehen. Seine Gedanken wa­ren mittlerweile so verworren, dass es schien, als hätte er über­haupt keine Gedanken mehr. Sie gingen ein paar Schritte, während die Musik, die vom Leicester Square auszugehen schien, weiter anschwoll. Er konnte jetzt die kleinen Hütten ausmachen, die in dem Park kreisförmig errichtet worden wa­ren, wie Stände bei einem Wochenmarkt. Aus einigen von ih­nen stieg Dampf auf, als wäre eine ganze Küche in ihnen er­richtet worden, andere waren bis zur Decke gefüllt mit winzi­gen bunt verzierten Kisten, doch er konnte nicht erkennen, was in ihnen angeboten wurde. Er streckte sich, wollte über den Zaun spähen, mehr erkennen.

»Entschuldigung.« Der Mann mit dem Leuchtkästchen, aber er sprach nicht zu ihm, sondern zu einer Frau, die am Eingang des Parks zu warten schien.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Der Typ hier … Wir haben ihn da hinten gefunden, er lag am Boden, stinkt ziemlich nach Alkohol. Er ist ganz schön durcheinander, er …«

Charles wirbelte herum. Auf seinem Gesicht lag eine bei­nahe kindliche Freude. »Diesen Markt hier …«

Der Leuchtkastenmann runzelte die Stirn. »Der Weihnachts­markt?«

Charles nickte. Das hier konnte nur ein Traum sein, ein sehr seltsamer Traum zwar, aber sicherlich nur ein Gespenst seiner wirren schriftstellerischen Fantasie, nichts Ungewöhnliches eigentlich. Er wollte noch nicht erwachen. Er verstand nicht, was um ihn herum geschah, aber genau das erregte ihn am meisten. Er wollte diese merkwürdige Welt bis ins kleinste Detail erkunden, er wollte sich inspirieren lassen.

»Du schreibst nichts Originelles mehr«, hatte Edward gesagt. »Was ist nur mit dir los, Charles? Du warst doch früher so inspiriert, und jetzt das hier?«

Edward hatte eine Geschichte gewollt. Das hier war eine.

Charles Dickens trat einen Schritt nach vorn und packte den Leuchtenkastenmann beim glänzenden, knisternden Mantel. »Ich möchte ihn sehen, diesen Weihnachtsmarkt. Ich möchte alles sehen!«

TO BE CONTINUED

Beitragsbild: Till Junker
bearbeitet von: Anne Frieda Müller