moritz-print-mm76-46-fadenkreuzkAm Morgen des 11. März ging Tim Kretschmer, 17 Jahre alt, noch einmal in seine ehemalige Schule in Winnenden und tötete dort neun Schüler und drei Lehrer. Auf seiner anschließenden Flucht erschießt er drei weitere Menschen und am Ende sich selbst. Die Meldung von einem erneuten Amoklauf in Deutschland verbreitete sich an diesem Tag wie ein Lauffeuer und versetzte die gesamte Bundesrepublik in eine Schockstarre. Doch während der Großteil der Menschen um die Opfer trauerte, begannen Politik und Medien nur wenige Stunden nach der Tat über mögliche Ursachen zu spekulieren. Dabei verfielen sie schnell wieder in ihre alten Argumentationsmuster. Neben der Forderung nach schärferen Waffengesetzen, schoss man sich schnell wieder auf die sogenannten Killerspiele ein. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann beeilte sich mit der Ankündigung, ein erneutes Verbot solcher Spiele in Angriff nehmen zu wollen. Unterstützt wurden solche Forderungen durch Informationen der Polizei, wonach Tim Kretschmer am Abend vor seiner Tat den Egoshooter Far Cry 2 gespielt haben soll.

Ähnliche Debatten gab es bereits nach dem Amoklauf des 19-jährigen Robert Steinhäuser am Erfurter Gutenberg Gymnasium.

Solche Diskussionen um die Wirkung fiktionaler Welten sind nicht neu. Nach der Veröffentlichung von Goethes Werther-Roman 1774 kam es zu einer Reihe von Selbstmorden. Oft trugen die Suizidopfer die typische Werthertracht oder hatten den Roman in der Tasche. Es verbreitete sich der Vorwurf, der übermäßige Konsum von Goethes Roman würde die Menschen zum Selbstmord anstiften. Der Roman wurde 1775 in Leipzig verboten.

Die Debatte um gewalthaltige Computerspiele verläuft ähnlich. Nach einem Gesetzesentwurf zum Verbot gewalthaltiger Computerspiele des Freistaates Bayern aus dem Jahr 2002 sind unter dem Begriff Killerspiel all jene Spielprogramme zu verstehen, „die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen darstellen und dem Spieler die Beteiligung an dargestellten Gewalttätigkeiten solcher Art ermöglichen“. Der Kontakt mit derartigen Medien berge stets die Gefahr der Nachahmung in sich.

Doch ist das wirklich so? Löst fiktionale Gewalt tatsächlich reale Aggressionen aus? Oder greifen ohnehin schon aggressive Menschen zu solchen Videospielen?

Ein Videospiel funktioniert ähnlich wie ein Buch. Es löst Emotionen beim Benutzer aus. Doch die Frage ist, wie funktioniert das?

Genau wie ein Buch erzählt ein Spiel eine Geschichte und genauso ist es eine Anhäufung von Zeichen, die kognitiv verarbeitet werden. Die Bedeutung eines Spiels erschließt sich also erst durch den Menschen selbst. Da jeder Mensch es anders verarbeitet, hat ein Spiel, genau wie beispielsweise ein Gedicht, unendlich viele Bedeutungen. Sie alle sind geprägt durch ein entsprechendes Vorwissen des Nutzers. Dieses ist in der heutigen Gesellschaft vor allem geprägt durch Gewalt. Der Jugendliche erfährt sie unmittelbar, zum Beispiel auf dem Schulhof, sowie medial. Nach einer Studie von 2005 verbringt ein Deutscher in einem Alter von 14 bis 49 Jahren im Durchschnitt über fünf Stunden mit Fernsehen und Radio hören. Dazu kommen noch knapp eine Stunde Internetnutzung, sowie Bücher, Tageszeitungen, DVD, Kino.

Medien und ihre oft gewalthaltigen Inhalte sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Ein Sonntagabend ohne Mord im öffentlich- rechtlichen Fernsehen? Ein Nachmittag ohne die übelsten Gewaltverbrechen in obskuren Richtersendungen? Die Tageszeitung ohne die neuesten Horrormeldungen aus aller Welt? Undenkbar.

Nur mit Hilfe dieses Vorwissens lässt sich ein gewalthaltiges Computerspiel erst verstehen. Ohne diesen medialen Hintergrund würde es sie sogar überhaupt nicht geben, denn ein Spiel entsteht nicht im luftleeren Raum. Letztendlich sind sie nur ein Spiegel einer Gesellschaft, in der Gewalt zu etwas völlig alltäglichem und normalem geworden ist.

Ein Roman oder ein Gedicht wühlt uns oft emotional auf. Nach dem Literaturtheoretiker Martin Huber funktioniert die Übertragung dieser Emotionen vom Text auf den Leser deshalb so gut, weil dieser alle Elemente zur Konstitution des mentalen Selbstkonstrukts „Bewusstsein“ enthält und uns diese Wahrnehmungsmuster vertraut sind.

Ein Computerspiel nutzt diese Elemente ebenfalls, nur wirken sie dort viel intensiver und auf mehr sensitiven Ebenen. Ein Videospiel potenziert die Möglichkeiten von Literatur.

Das erste dieser Elemente ist die Selbstwahrnehmung im Raum. Während Literatur Sinneswahrnehmungen wie Akustik und Visualität künstlich erschaffen muss, funktioniert ein Computerspiel viel unmittelbarer. Der Spieler sieht die Landschaft, in der er sich bewegt, am Bildschirm und hört die Geräusche derselbigen durch die Lautsprecher. Das zweite Muster, die Wahrnehmung der Position im Raum, ist ebenso deutlich. Anhand von Straßenverkehr, Hochhäusern und Wechsel von Tag und Nacht erkennt der Spieler, dass er sich beispielsweise in einer lebendigen Großstadt befindet. Das letzte Element ist die Einbindung dieser Daten in ein autobiographisches Gedächtnis. Diese findet meist über den Protagonisten des Spiels statt. Diese Figur hat in der Regel eine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche im Laufe des Spiels immer mehr offen gelegt wird.

Videospiele wirken, das lässt sich festhalten, weil sie unsere natürlichen Wahrnehmungsmuster ansprechen. Doch bringen die Gefühle, die sie auslösen, den Nutzer wirklich dazu das „gerade Erlebte“ nachzuahmen?

Die beiden Amokläufer von Littleton, die 1999 bei einem Massaker an der Columbine Highschool in Colorado 13 Menschen und sich selbst töteten, trugen stets lange schwarze Ledermäntel, wie sie für die Protagonisten des Matrix-Universums typisch sind. Sie kleideten sich, so wie Millionen anderer Jugendlicher, nach ihren Vorbildern und Idolen. Folgt man der Literaturwissenschaftlerin Katja Mellmann, geht es bei diesem weit verbreiteten Fankult jedoch weniger um Nachahmung, als um die symbolische Kommunikation einer gemeinsamen Erfahrung, eines gemeinsamen Problembewusstseins und eines darauf aufbauenden Gemeinschaftsgefühls. Wenn aber die Nachahmung als Handlungsintention wegfällt, wie ist es dann zu erklären, dass jugendliche Amokläufer stets gewalthaltige Videospiele gespielt haben?

moritz-print-mm76-46-feuilleton-videogewaltspiele-alexander-mueller-arik-platzekkComputerspiele dienen vielen Jugendlichen als Möglichkeit, Probleme und Aggressionen des Alltags zu kompensieren. So wie der unglücklich Verliebte zum Werther greift und Trost sucht, greift die von medialer Gewalt geprägte Jugend zu gewalthaltigen Videospielen. Der gezielte Medienkonsum kann dabei Aggressionen schüren und festigen, das Spiel ist jedoch weder Ziel, noch Ursache der letztendlichen Tat. Es wirkt vielmehr wie ein Begleiter auf einem längst eingeschlagenen, möglicherweise verhängnisvollen Weg.

Der Emotionspsychologe Klaus Scherer fasst Emotionen als evolutionsgeschichtliche Trennung von Reiz und Reaktion auf. Beim Spielen liegt also zwischen der ausgelösten Emotion und der darauf folgenden Handlung eine Latenzzeit, in der der Spieler den Reiz als fiktional enttarnt und sein Handeln dementsprechend anpasst. Wenn der Spieler also gerade eine spannende Verfolgungsjagd spielt, sein Körper Adrenalin ausgeschüttet hat, heißt das nicht dass er, nachdem er den Computer ausgeschaltet hat und beispielsweise mit dem Auto zur Arbeit fährt, seine Angespanntheit und Verhalten während der Verfolgungsjagd im Spiel, auf den realen Straßenverkehr überträgt.

Außerdem gibt es einige praktische Gründe, wie zum Beispiel das Besorgen einer Waffe, die eine affektive Reaktion unmöglich machen. Bis der potenzielle Täter in den Besitz einer Pistole kommt, ist die Ebene der emotionsgesteuerten Reaktion längst verlassen, sie hätte tiefere Gründe als das Spielen eines Videospiels. Die vermeintlich logische Feststellung, das Spielen von Videospielen sei Ursache für das Verüben von realer Gewalt, wie den Amokläufen an deutschen Schulen ist voreilig von Medien und Politik propagiert worden.

Sie hat nur die Funktion, die Medien von einer kritischen Reflexion der eigenen Inhalte abzulenken. Als am Abend des Amoklaufes die Tagesschau über die schrecklichen Ereignisse informierte, berichteten Reporter von Opfern, die noch ihre Stifte in den Händen hielten. Was hat dieses Detail in einer seriösen Berichterstattung zu suchen? Es bedient doch lediglich die Lust der Menschen an Gewaltvoyeurismus, die Schreckenstaten möglichst nah zu erleben, ohne selbst Angst verspüren zu müssen. Solange diese Form von Perversion in den Medien nicht endet, muss weiter mit jugendlichen Gewalttätern gerechnet werden, denn sie ist die wahre Ursache, für die Überforderung vieler Jugendlicher.

Autor: Alexander Müller