von Jenia Barnert

Ausverkaufte Premiere in Greifswald. Schon wenige Tage zuvor hatte der Choreograph Ralf Dörnen bei einer Soiree exklusive Details zu seinem Ballett „Anna Karenina“ verraten. Das Orchester stimmt sich ein, während nach und nach die Gäste ihre Plätze einnehmen und neugierig das Bühnenbild bestaunen. Es kann beginnen.

Das Ballett ist frei nach dem weltberühmten und mehrmals verfilmten Roman „Anna Karenina“ des russischen Autors Lew Tolstoi. Das neben „Krieg und Frieden“ bekannteste und erfolgreichste Werk Tolstois erschien zwischen 1875 und 1878. Seit damals beeindruckt die Leser die bewegende Geschichte einer reichen, zweckmäßig verheirateten schönen Frau, die auf die Liebe ihres Lebens trifft, mit der es ihr aber aufgrund der gesellschaftlichen Zwänge und Pflichten ihrer Zeit nicht vergönnt ist, glücklich zu werden.

„…auf dem Moskauer Bahnhof begegnet die schöne St. Petersburgerin Anna …dem jungen Grafen Wronski und entdeckt in ihm all das, was ihr die eigene Ehe mit dem Staatsbeamten Karenin vorenthält; Wronski entfacht in ihr eine unstillbare Sehnsucht nach Liebe und Zuneigung, für die sie bereit ist, mit jeglicher Konvention zu brechen und sogar ihren Sohn aufs Spiel zu setzen. Während Annas Leben zunehmend aus den Fugen gerät, tastet sich ihre junge Verwandte Kitty zaghaft an die Liebe heran und erfährt, nach anfänglicher Enttäuschung, schließlich vollkommene Erfüllung in der sehr viel ruhigeren Zweisamkeit mit dem Gutsbesitzer Lewin.“

So kurz und treffend ist der Kern des Romans in dem Programmheft zum Ballettstück zusammengefasst. Das „frei nach“ wurde von Ralf Dörnen bewusst betont, denn es ist kaum möglich, einen über Tausend Seiten langen Roman originalgetreu in ein Tanzstück für die Bühne umzuwandeln. Und so ist es nicht chronologisch dem Roman nachvollzogen, sondern konzentriert sich auf die Emotionen und Erinnerungen der Protagonistin.

Der erste Akt beginnt mit dem Freitod Annas, die sich unter die Räder eines einfahrenden Zuges wirft.

Als ihre gequälte Seele wieder erwacht, zieht ihr Leben szenenhaft an ihr vorüber. Ihr Glück und Leid beginnt mit der Begegnung mit dem attraktiven Offizier Wronski, den sie später auf einem Ball wiedertrifft. Kitty, die junge Schwester ihrer Schwägerin, hofft auf einen Antrag seitens Wronskis und schlägt dafür sogar den des gutmütigen Lewin aus. Als Wronski ihr jedoch keine Beachtung schenkt und sich Anna zuwendet, ist sie bitter enttäuscht. Anna reist inzwischen zurück nach St. Petersburg zu ihrem Mann und ihrem Sohn. Indem Wronski ihr nachreist, entfacht er endgültig die Leidenschaft zwischen ihnen und liefert damit gleichzeitig brisanten Gesprächsstoff für die feine St. Petersburger Gesellschaft. Bei einem Pferderennen, an dem auch Wronski teilnimmt, kann Anna ihre Sorge um ihn nicht vor ihrem mit anwesenden Mann verbergen, was diesen im folgenden dazu veranlasst, sie zu einem Geständnis zu zwingen. Für ihn gibt es nichts wichtigeres, als das gesellschaftliche Ansehen zu wahren und so stellt er seine Frau vor die Wahl: der Geliebte oder der eigene Sohn.

Anna tanz mit ihrem Offizier.

Anna tanzt mit ihrem Offizier.

Der Geliebte oder der eigene Sohn?

Anna ist hin und her gerissen zwischen zwei Männern, die beide große Macht über sie haben. In einem Traum erscheinen ihr Wronski und Karenin als gleichberechtigte Liebhaber, was jedoch nur ein Wunsch ihrerseits bleibt, der sich beim Erwachen auflöst. Sie trifft eine folgenschwere Entscheidung, womit der erste Akt endet.

Nach einer kurzen Pause sind alle im Saal gespannt, wie es mit den Liebenden weitergeht. Anna verlässt ihren Mann und ihren kleinen Sohn, und flieht mit Wronski nach Italien, wo beide einen leidenschaftlichen Sommer erleben. Während Anna aber zunehmend unter der Trennung von ihrem Kind leidet, ringt der strenge Karenin um Würde. Dann erscheint vor Annas geistigem Auge die Vermählung Kittys mit Lewin. Diese kommt zustande, nachdem sich beide, vorerst zutiefst unglücklich über den Ausgang der Dinge, wieder begegnen und zueinander finden. Im Kontrast dazu sieht Anna ihre eigene Liebe dahinscheiden, denn sie streitet sich oft mit Wronski und wird zunehmend von ihm und von der Gesellschaft gemieden. Allein gelassen und innerlich von Eifersucht zerfressen, verfällt Anna dem Opium und fristet ein elendes Dasein unter quälenden Wahnvorstellungen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie sich am Moskauer Bahnhof wiederfindet, um ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Die Todesszene wird zum Schluss wiederholt und beendet damit die Erzählung.

Bei der Umsetzung des Stückes legte Ralf Dörnen den Fokus auf Auszüge, die im Tanz umsetzbar und interessant sind. In einer freien Erzählform nimmt die Protagonistin Anna die Zuschauer mit auf eine Reise in ihre seelischen Abgründe. Die erste Begegnung mit Wronski ist dabei besonders intensiv und wichtig. Dazu wird etwa fünf Minuten lang getanzt. Ungewöhnlich für das Ballett ist vor allem das Projizieren von Videosequenzen auf eine durchsichtige Leinwand vor der Bühne, die stellenweise heruntergefahren wird. So sieht man zum Beispiel vor Beginn des Stückes die schwarz-weißen Aufzeichnungen einer alten Lok, die sich den Weg durch die winterliche russische Landschaft bahnt und ihrem Ziel bedrohlich näherkommt.

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