Ein Gespenst geht um in Europa – der Flüchtlingsstrom. Von den Tagesschau-Bildern aus Lampedusa in Italien hin zur Lebenswirklichkeit dreier Flüchtlinge in Greifswald – eine Reise in eine andere Welt, unweit vom Stadtkern entfernt.

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Wie schnell vergisst man, dass hinter den Zahlenkolonnen in den Medien Menschen mit individuellen Einzelschicksalen stehen. Brechen wir die Problematik einige Ebenen runter, landen wir direkt vor unsere Haustür. Auch in Greifswald steht ein Asylbewerberheim, eines von vier in ganz Vorpommern. Seit letztem November ist es wieder geöffnet und vorläufig neues Zuhause für rund hundert Menschen aus zwölf verschiedenen Ländern. Getragen wird die Einrichtung vom Deutschen Roten Kreuz  Kreisverband Ostvorpommern, unterstützt von verschiedenen Vereinen und Initiativen, von denen sich einige im Netzwerk für Migration Vorpommern zusammengeschlossen haben. Ein Donnerstag im April. Sonnenstrahlen fallen auf die schmutzig-braune Fassade des Hauses in der Spiegelsdorfer Wende 4, eine jener Hinterlassenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates, die auch beim schönsten Frühlingswetter noch Tristes und Trostlosigkeit verbreiten.

Ich trete ein, kleine Kinder flitzen auf Inline Skates an mir vorbei, es riecht nach Kaffee, kaltem Rauch und Essen. Junge Männer in Jogginghose und Unterhemd, Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arm. Neonröhren tauchen die verlebten Flure in fahles Licht. Kulisse und Stimmung gehen hier Hand in Hand. Denn trotz zahlreicher Bemühungen ist Perspektivlosigkeit ein mächtiger Gegner im Kampf um Zukunft. Mitunter erscheint er, so erzählen mir später Bewohner wie Sozialarbeiter, unbesiegbar, da per  Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) verordnet. Dieses stammt aus dem Jahre 1993 und verströmt trotz mehrmaliger Novellierungen immer noch restriktiven Geist. Im ersten Jahr des Aufenthalts gibt es keine Arbeitserlaubnis, Deutschkurse werden nicht finanziert, der Alltag vieler Flüchtlinge in Deutschland pendelt zwischen nervenaufreibenden Gängen zum Amt und ziellosem Warten. Oftmals erlittene Grausamkeiten im Herkunftsland oder während der Flucht immer im Hinterkopf, fernab von Familie und vertrauter Umgebung in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht. Und über allem schwebt beständig das Damoklesschwert „Abschiebung“. Es bleibt die Frage, ob wir satten Mitteleuropäer uns trotz guten Willens in eine solche Lage überhaupt hinein versetzen können.

In Beton gegossene Funktionalität - Asylbewerberheim in Greifswald

Ich bin mit Ahmed Omar Ali *verabredet. Ich treffe ihn in seinem Zimmer im ersten Stock. Er ist einer der wenigen, die ein Eigenes haben. Ein Spind, ein Tisch, ein Bett, dazwischen surrt monoton ein Kühlschrank. Ein Fernseher mit Kommode, es läuft das Vormittagsprogramm der ARD, ein deutscher Heimatfilm. Ist das Leitkultur? Unbefangenheit fühlt sich anders an, die ersten Gesprächsansätze verlaufen noch schleppend, schließlich beginnt der 31-Jährige von seinem Zuhause, Somalia, zu erzählen. Er musste seine Frau und fünf Kinder zurücklassen, saß einige Zeit im Gefängnis, seine Tante gab ihm schließlich das Geld für die gefährliche Reise. Über den Sudan ging es nach Syrien, von da aus in die Türkei, nach Griechenland, Norwegen, Schweden, Dänemark, schließlich nach Deutschland. Registriert wurde er in Griechenland, daher müsste er im Fall einer Abschiebung dahin zurück. Dort habe er auch einen falschen Pass samt Visa sowie gefälschter Fahrkarten gekauft. „Die Lage dort ist katastrophal“, sagt er, die Menschen hausen förmlich auf der Straße, polizeiliche Willkür sei an der Tagesordnung. Seit November 2010 lebt er nun in Greifswald. Ich frage ihn, wie sein Alltag aussehe. Er geht täglich in die Moschee oder spazieren, kocht gemeinsam mit seinen Landsleuten, lernt Deutsch in der Volkshochschule, finanziert aus eigenen Ersparnissen.

Und kulturelle Unterschiede zwischen Somalia und Deutschland? Ja, die gebe es natürlich, aber: „Wenn du diese Kultur nicht magst, dann solltest du wieder nach Hause gehen. Ich möchte in Deutschland bleiben, meine Familie herbringen. Die Schule nachmachen und vielleicht sogar studieren, hier arbeiten.“ Mir fällt ein, was Anett Dahms, Integrationsbeauftragte der Stadt Greifswald vor ein paar Tagen zu mir gesagt hat: „Arbeit ist der beste Weg, um die Menschen zu integrieren!“

So denken auch Parastoo und ihr sechzehnjähriger Sohn Parsa . Ich habe in dem Zimmer der Familie Platz genommen, es gibt Tee und Datteln, auf dem Bett sitzt die siebenjährige Tochter. Die Drei sind seit Januar in Deutschland und kommen ursprünglich aus dem Iran. Fliehen mussten sie aus politischen Gründen. Die Familie gehörte in ihrem Heimatland zur oberen Mittelschicht, ein Haus, zwei Autos, der Vater besaß eine Fabrik. Sie selbst habe eine eigene Boutique geführt, ihr Sohn eine der besten Schulen des Landes mit Note „sehr gut“ abgeschlossen. Doch dann kamen die landesweiten Unruhen, infolge derer der Vater verfolgt wurde. Drei Monate, in denen er psychisch und physisch gefoltert wurde, saß er im Gefängnis. Er kehrte krank nach Hause zurück, musste  wenig später fliehen. „Irgendwann wollten sie meinen Sohn festnehmen, unsere Bankkonten wurden gesperrt und wir entschieden uns, das Land zu verlassen. Deutschland war unser Ziel“. Das Bild von Deutschland habe sich während ihres Aufenthalts geändert, fährt die Mutter fort. Immer wieder erzählt sie von der Perspektivlosigkeit ihres Sohnes, der gerne Mathematik studieren würde. Man spürt ihre Enttäuschung: „Germany is better than this!“ Ich frage  nach ihrem Tagesablauf, viel zu erzählen gibt es da nicht: „ Wir sitzen hier, schauen Fernsehen, hören Musik.“ Es sind Momente wie diese, in denen man erkennt, dass der Mangel an Beschäftigung und die allgegenwärtige Abhängigkeit von einer komplexen Bürokratie vielleicht die größten Probleme sind.

Neuanfang auf engstem Raum - Zimmer einer iranischen Familie im Greifswalder Asylbewerberheim

„Viele kommen mit überzogenen Erwartungen hierher und denken, Deutschland warte nur auf Sie“, sagt mir Olaf Kiesow, der Heimleiter. Die Situation hier sei eben ganz anders als sie es von zu Hause kennen. Dazu zählt auch, dass sie beispielsweise für Arzt- oder Familienbesuche Anträge stellen müssen, deren Bewilligung keinesfalls obligatorisch ist. Unterstützung bei Schwierigkeiten dieser Art hat sich beispielsweise die Antirassistische Initiative Greifswald zur Aufgabe gemacht. Die im Dezember 2010 gegründete Gruppe umfasst rund dreißig Personen, darunter auch viele Studierende. Sie setzt, neben Aufklärung und Information, auch auf ganz praktische Zusammenarbeit mit den Migrantinnen. Hausaufgabenhilfe für Kinder, Deutschkurse oder Arztbegleitung vermitteln „Handwerkszeug“, um sich in Deutschland zurechtzufinden. Solidarität, ohne die Menschen zu bevormunden oder sie pauschal in Schubladen zu stecken.

„Bis zur letzten Patrone“ werde er in der Berliner Koalition gegen „Zuwanderung in die deutschen Sozialsystem“ kämpfen, polterte Horst Seehofer (CSU) am politischen Aschermittwoch. Wer hier lebe wolle, müsse seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Ahmed Omar Ali, Parastoo, Parsa und viele andere würden gerne arbeiten und Deutsch lernen. Platz für ihre Rechte war im politischen Tagesgeschäft bisher nur selten. Das allerdings wären wir den Menschen und unseren eigenen moralischen Ansprüchen schuldig.

Ein Reportage von Ole Schwabe mit Fotos von Gjorgi Bedzovski & Ole Schwabe.

* Name von der Redaktion geändert