Die Aula der Universität Greifswald ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Zahlreiche Bürger, Mitglieder der Stadtverwaltung und Studenten haben sich am Abend des 21. Oktober 2009 in dem barocken Festsaal versammelt, um 18.00 Uhr der Begrüßungsrede des Universitätsrektors Prof. Dr. Rainer Westermann zu lauschen. Doch bei dem heute hier stattfindenden Ereignis handelt es sich nicht um eine universitäre Veranstaltung: An diesem Abend wird die Aula für die „Auftaktveranstaltung zur Fortschreibung des Leitbildes“ unserer Stadt zur Verfügung gestellt.

Wer das Leitbild von Greifswald nicht kennt, gehört diesbezüglich zur Mehrheit der Einwohner. Selbst der Rektor der Universität gesteht in seiner Begrüßungsrede, besagtes Leitbild am Tage dieser Auftaktveranstaltung zum ersten Mal gelesen zu haben.

Ein „Leitbild“ beschreibt die strategische Zielvorstellung einer Institution, die deren langfristige Gesamtziele und Handlungsgrundsätze beinhaltet. Genau solch eine Richtlinie wurde vor zehn Jahren von der Bürgerschaft auch für die Stadt Greifswald beschlossen. Oberbürgermeister Dr. Arthur König erklärt dazu: „Das Leitbild muss das beinhalten, was Greifswald anziehend und attraktiv macht, das Besondere herausstellt und die Stadtentwicklung befördert. Es soll zeigen, wo unsere Stärken liegen und wo wir als Stadt künftig unsere Schwerpunkte setzen.“

Nun will die Stadt erstmals ihr Leitbild aktualisieren und fortschreiben. Zu diesem Zweck wurde die Schweizer Prognos AG mit Büro in Berlin damit beauftragt, gemeinsam mit Partnern vor Ort bis März 2010 einen neuen Vorschlag zu erarbeiten. Das Beratungsunternehmen mit Hauptsitz in der Schweiz ist auch bei besagter Auftaktveranstaltung in der Aula präsent und stellt den weiteren Projektablauf vor: Die Prognos AG wird bei der Leitbildfortschreibung mit allen Institutionen und Einrichtungen der Stadt zusammenarbeiten. Im Rahmen von zahlreichen Veranstaltungen können sowohl Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur und Tourismus als auch engagierte Bürger ihre Ideen über die Zukunftsziele der Stadt einbringen.

Bis November finden zunächst Expertengespräche statt, während in den darauffolgenden Monaten drei Fachworkshops zu folgenden Themen durchgeführt werden sollen: Greifswald als Wirtschafts- und Bildungsstandort, Greifswald als Gesundheits-, Wohn-, Kultur- und Freizeitzentrum sowie Greifswald als regionales Zentrum. Die Ergebnisse aus den Expertengesprächen und aus der Arbeit in den Workshops sollen anschließend zusammengetragen werden und zu einem präzisierten und aktualisierten Leitbildentwurf führen, der voraussichtlich im März 2010 vorgestellt wird.

Während in der Aula den Interessierten diese Marketing-Ideen präsentiert werden, gibt es unterdessen auch Gegenstimmen. So zeigte sich die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Greifswalder Bürgerschaft verwundert darüber, dass in Zeiten knapper Kassen und drastischer Sparkurse eine derart hohe Summe für dieses Projekt an eine auswärtige Firma gezahlt wird; zumal das aktuelle Leitbild nach zahlreichem Dafürhalten durchaus noch als tragfähig gilt. 60.000 Euro sollen in die Fortschreibung des Leitbildes fließen – eine Summe, die im Haushaltsentwurf 2009 unter der Stelle Stadtmarketing „versteckt“ war, sodass die Fraktion nicht wissen konnte, wofür dieses Geld jetzt verwendet wird.

Deshalb stellten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im September dieses Jahres eine Anfrage an den Oberbürgermeister, um ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Projektes kundzutun:

Ist es zu diesem Zeitpunkt und bei dieser Haushaltslage tatsächlich nötig, ein neues Leitbild erstellen zu lassen?

Was qualifiziert gerade die Prognos AG, ein auswärtiges Unternehmen, für diesen Auftrag?

Tatsächlich drängt sich die Frage auf, warum die Stadtverwaltung, die Universität und die Bürger diese Aufgabe nicht allein bewältigen können. Schließlich haben genau diese Akteure vor zehn Jahren schon einmal das Leitbild erfolgreich selbst ausgearbeitet.

Doch für eine Rücknahme des Auftrages ist es zu spät: Eine entsprechende Anfrage der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Fraktion wurde vom Rathaus zurückgewiesen. Zu umfangreich sind die Leistungen, die man der Prognos AG bereits entgegengebracht hat.

Dr. Arthur König ist sich der Kritik bewusst und begründet bei der Auftaktveranstaltung den Schritt folgendermaßen: Als man vor einem Jahr die Investition in die Leitbildfortschreibung beschloss, seien die finanziellen Rahmenbedingungen noch anders gewesen. Nun haben sich die Erwartungen bezüglich des Finanzhaushaltes nicht erfüllt, sodass Einsparungen nötig werden.

Auch der Vertreter von Prognos AG bemüht sich, den Fortschreibungsprozess zu rechtfertigen: Die Frage, ob Greifswald tatsächlich ein neues Leitbild braucht, will er selber nur mit „Jein“ beantworten. Doch in den letzten zehn Jahren haben sich schließlich neue Fragen und Themen entwickelt – beispielsweise der Klimaschutz, der technische Fortschritt und die Vernetzung, sodass Anpassungen an Zukunftstrends nötig seien.

Dennoch bleibt fraglich, welche Rolle das Grundsatzpapier für die zukünftige Entwicklung von Greifswald in der Praxis tatsächlich haben wird. Die ihm zugeschriebene zukunftsleitende Funktion könnte es vermutlich nur ausfüllen, wenn es zur Grundlage für Entscheidungen in den Arbeitskreisen und Gremien der Stadtverwaltung werden würde, sodass man sich hier tatsächlich an den Aussagen des Leitbildes orientiert.

Dr. Philip Steden von der Prognos AG erklärt zur Relevanz eines Leitbildes, dass dieses zum Image einer Stadt beitrage, welches wiederum über den Zuzug und Weggang von Arbeitskräften und Studenten entscheide. Doch damit das Leitbild diese Funktion tatsächlich erfüllt, wäre es wohl zunächst einmal nötig, das Leitbild bekannter zu machen und die „Binnenwahrnehmung“ zu ändern. Ohne Akzeptanz unter den Einwohnern ist das entstandene Schriftstück kein Leitbild für die Stadt. Wirkung kann es nur entfalten, wenn man Kommunikationsstrategien findet, den Greifswaldern die Eigenschaften nahezubringen, die ihre Stadt unverwechselbar machen. Denn auch, wenn dies in allen Zusammenhängen die ersten Attribute sind, die genannt werden – letztendlich umfasst das Profil von Greifswald doch weit mehr als nur die klassischen Schlagwörter „Universitäts- und Hansestadt“.

Ein Artikel von Christiane Müller