moritz.playlist: Angels & Airwaves

moritz.playlist: Angels & Airwaves

Musik – Töne mit Zusammenhang, oder gerne auch ohne. Im Prinzip systematischer Krach. Jede*r hat schon mal Musik gehört, aber was ist die Geschichte hinter den einzelnen Stücken, auch Lieder genannt, und womit verbinden wir sie? Was lösen sie in uns aus und wer hat sie erschaffen? webmoritz. lässt die Pantoffeln steppen, gibt vor, was angesagt ist, und buddelt die versteckten Schätze aus. Unsere Auswahl landet in eurer moritz.playlist.

Menschen, die Musik wie blink-182, Box Car Racer, Thirty Seconds To Mars, Lostprophets, the Offspring oder American Hi-Fi hören, dürfte die Band Angels & Airwaves (kurz: ΛVΛ) nicht vollkommen unbekannt sein. Die ΛVΛ-Bandmitglieder spielten unter anderem in genau diesen genannten Bands. Der Frontsänger, Tom DeLonge, ist Gitarrist und Sänger der Bands blink-182 und Box Car Racer.

Doch auch Menschen, die weniger mit Skate-Punk, Pop-Punk oder Alternative Rock in Berührung gekommen sind, könnte die Band etwas sagen. Die beiden Songs Lifeline und Everything‘s Magic waren Teil des Soundtracks von Keinohrhasen, einem Film von Til Schweiger aus dem Jahre 2007. Auch in Schweigers 2011 erschienenen Film Kokowääh war mit Epic Holiday ein Song der amerikansichen Band zu hören. Damit wurden Angels & Airwaves in Deutschland ein wenig bekannter.

Spread Love Like Violence

ΛVΛ gründeten sich 2005 – kurz nach der Trennung DeLonges von blink-182. Bereits ein Jahr später erschien das erste Album We Don‘t Need To Whisper. Doch ΛVΛ machen nicht nur Musik, sondern auch Film- und Grafikprojekte. So erschien 2011 der von ΛVΛ produzierte Film Love, welcher Songs des gleichnamigen Albums enthält. Okay, eigentlich sind es zwei Alben: Love (2010) und Love: Part Two (2011). 2015 wurde dann das Projekt Poet Anderson veröffentlicht: Ein animierter Kurzfilm, ein Comic-Buch und – natürlich – das fünfte Studioalbum. 2021 hat die Band mit Lifeforms ihr bereits sechstes Studioalbum veröffentlicht. Zusätzlich erschienen drei EPs, darunter eine Acoustic EP mit Songs des ersten Albums.

Von dieser Acoustic EP – We Don’t Need To Whisper (Acoustic) – möchte ich den ersten Song für die moritz.playlist auswählen. Dieser Song ist The Adventure. Mit seinen positiven Lyrics ist das ein Song, den man immer wieder hören kann, wenn es einem gerade nicht so gut geht. Die Message des Songs ist auch unmissverständlich: Genieß das Leben mit den wunderbaren Menschen, die es begleiten und die dich unterstützen. Zusätzlich ist es eine Akustikversion, was dem Ganzen nochmal einen anderen Blickwinkel (oder Hörwinkel?) gibt.

Finding A Light In A World Of Ruin

Besonders faszinierend finde ich die Andersartigkeit der Musik. Wobei sie gar nicht so andersartig ist. Der Stil ist bekannt – aus den späten 60ern bis frühen 70er Jahren. Space Rock. Progressive Rock mit ein wenig mehr 21. Jahrhundert – Neo-Progressive Rock. Eine angenehme Abwechslung.

Für mich persönlich beschreibt der Song Spellbound vom 2021 veröffentlichten Album Lifeforms den Stil am besten. Schwerelos, synthetisch, ein ruhiger Beat, aber äußerst stark. Es wird das Gefühl vermittelt, man höre Musik aus einer anderen Zeit.

Ein weiterer Faktor, der definitiv hineinspielt: Ich mag Tom DeLonges Stimme wirklich sehr. Während er sich bei blink-182 den Gesang mit Mark Hoppus teilt, ist bei ΛVΛ ausschließlich seine Stimme zu hören. Großer Pluspunkt für Angels & Airwaves.

Doch auch die Lyrics treffen den (meinen) Ton. Meist handeln die Songs von Liebe oder Krieg oder beidem. Weswegen die Alben Love und Love: Part Two vermutlich lange Zeit meine favorisierten Alben zwischen all den Bands, die ich so höre, waren. Man kann mitsingen oder einfach nur zuhören und nachdenken. Es funktioniert einfach. Die beiden Alben waren jedoch auch melodisch ein kleines Meisterwerk und haben mich doch ein wenig an Pink Floyd erinnert. Abgelöst wurden die Love-Alben in meiner Favoritenliste übrigens von Lifeforms.

„The music of Love. It’s like blending Radiohead and U2 together with these kind of Pink Floyd movements. Things happen unpredictably and take you to these epic soundscapes. It’s very much in the spirit of Angels & Airwaves, but it sounds way, way more thought-out and way more ambitious.“

Tom DeLonge über das Album Love

Hope When Things Get Dark

Einen Song, den ich ganz dringend noch in diesem Artikel einbauen möchte, ist All That’s Left Is Love. Veröffentlicht wurde der Song im April 2020, direkt zu Beginn der COVID-19-Pandemie. Das Video folgte im Juni 2020. Die Einnahmen der Single gingen an Feeding America, speziell an deren COVID-19 Relief Fund.

Abgesehen davon, dass der Song aufgrund der Spendenthematik einen sehr netten Hintergrund hat, ist er auch wieder einmal lyrisch und melodisch ein Fest. Die Band hat es sich schon sehr früh zur Aufgabe gemacht, Liebe und Hoffnung auszudrücken und auszusenden. Mit dem Fortschreiten der Pandemie ist das ein noch wichtigerer Faktor geworden. Mit All That’s Left Is Love haben ΛVΛ genau für diesen Zweck eine hervorragende Hymne erschaffen.

Den letzten Song für die moritz.playlist stellt Shove dar. Mit einer ähnlichen Botschaft wie schon The Adventure trifft auch dieser Song meinen Nerv. Außerdem kann man bei Shove hervorragend mitsingen. Hört gern aber auch in weitere Songs der Band hinein, denn die hier ausgewählten vier Lieder sind wirklich nur eine kleine Auswahl.

She said show me the world that’s inside your head.
Show me the world that you see yourself, you could use some help.
‚Cause sometimes it comes with a shove, when you fall in love.

Shove (2010)

Beitragsbild: Tanner Vonnahme auf Unsplash

Spiel-Rezension: Legenden von Andor – Die Ewige Kälte

Spiel-Rezension: Legenden von Andor – Die Ewige Kälte

Der Winter kann etwas Schönes sein – gemütlich am Kamin sitzen, durch den Schnee stapfen, Schlitten fahren… Noch schöner ist es allerdings, wenn er endlich vorbei ist und es wieder warm und grün wird. Aber was, wenn das nicht passiert? Was, wenn der Winter einfach zu keinem Ende kommen will? Dann macht der Winter irgendwann nicht nur keinen Spaß mehr, nein, es gibt echte Versorgungsprobleme. Das ist die Situation, in der sich das Land Andor in Michael Menzels neuem Spiel befindet – werden die Held*innen es schaffen, die Kälte zu besiegen?

Das hängt im vierten großen Andorspiel nicht nur von Würfelglück, sondern auch von Teamfähigkeit und guter Planung ab. Denn es gibt wieder einmal einiges zu tun: Die Spielenden müssen nicht nur herausfinden, was es mit dem geheimnisvollen Winterstein auf sich hat, sondern auch einen Weg finden, die Kälte zu beenden und nebenbei die Burg beziehungsweise die Zeltstadt vor den Angriffen der Kreaturen schützen. Und dann sind da noch die Schneestürme, die einem leicht einen Strich durch die Rechnung machen können…

So funktioniert das Spiel

Doch erst einmal ganz von vorn: was ist überhaupt dieses Andor?
Andor ist eine Spielreihe, bei der kooperativ Fantasy-Abenteuer an unterschiedlichen Orten bestanden werden müssen. Der erste Teil spielt im Land Andor, das auch die Heimat der Held*innen ist, in deren Rollen man schlüpfen kann. Die Figuren unterscheiden sich in ihrer Kampfstärke und ihren Fähigkeiten. In „Die Ewige Kälte“ stehen zum Beispiel eine Wächterin des Feuers, ein Zwerg, eine Zauberin und ein Krieger zur Auswahl. Das Spiel geht über mehrere Runden, die Legenden, die jeweils eine andere Geschichte erzählen und in denen unterschiedliche Aufgaben gemeistert werden müssen.

Eine Mission haben jedoch alle Legenden gemeinsam: Die Kreaturen müssen in Schach gehalten werden. Nachts bewegen sie sich über das Spielfeld, in Richtung von Orten, an denen Menschen Schutz suchen, in Andor etwa der Burg. Wenn dort zu viele Kreaturen einfallen, ist das Spiel verloren. Daher müssen die Held*innen, wenn sie tagsüber am Zug sind, über Würfelwürfe gegen diese Bedrohung kämpfen. Für erfolgreiche Kämpfe gibt es Belohnungen, allerdings kostet das Kämpfen auch wertvolle Zeit – Zeit, die auch gebraucht wird, um auf anderen Missionen durch die Lande zu ziehen, es gilt also immer abzuwägen, was wer am Besten tun sollte. Das mag so alles erstmal ein bisschen kompliziert klingen, wird aber auch in „Die Ewige Kälte“ im Laufe der ersten Legende einsteiger*innenfreundlich erklärt.

Der neue Teil spielt zeitlich zwischen der zweiten und dritten Legende des Grundspiels. Startpunkt ist daher auch das verschneite Land Andor, von wo aus es auf der Suche nach einem Weg, die Kälte zu beenden, weiter nach Osten geht. Auch die bislang unbekannte Gegend, die dort liegt, hat der Winter fest im Griff. Und er macht es den Held*innen nicht leicht:

Neben den Kämpfen und Missionen noch der Kälte trotzen zu müssen, ist nicht unanstrengend. Dadurch geschwächt halten die Andori jeden Tag eine Stunde weniger durch, bevor sie sich ausruhen müssen. Doch selbst im Schlaf sind sie nicht vor Einwirkungen sicher: Unter den großzügig verteilten Schnee- und Eisplättchen, die aufgedeckt werden, sobald jemand seinen Zug auf einem entsprechenden Feld beendet, verbergen sich oftmals Schneestürme. Der aufkommende Wind weht alle Figuren der Gruppe entlang der Pfeile, in deren Richtung sich normalerweise die Kreaturen bewegen, ein Feld weiter. Befindet sich dort ein neues Plättchen, kann eine Kettenreaktion ausgelöst werden. Das kann unglaublich ärgerlich sein, oft spielt einem der Wind aber auch in die Karten. Die langen Wege, die die Spielenden zurücklegen müssen, wären in der kurzen Zeit nicht machbar, wenn es nicht den ein oder anderen Luftstoß gäbe.

Wer dennoch nicht verweht werden will, muss in die Zeltstadt oder über den großen, gefrorenen See in der Mitte des Spielplans laufen. Dort gibt es keine Pfeile. Doch Vorsicht: Jedes Feld des Sees kann nur einmal betreten werden, danach bricht das Eis. Daher heißt es: gut überlegen, zu welchem Zeitpunkt man über das Wasser abkürzen will. Beliebig oft können dafür Feuer entzündet werden. Das braucht zwar den nötigen Willen, aber danach spendet die Wärme den Spielenden Kraft für Kämpfe und einen stärkeren Willen für den nächsten Tag, wenn die nächsten Herausforderungen warten.

Auf dem winterlichen Spielplan müssen verschieden Orte erkundet und Kreaturen (rote Figuren) besiegt werden.

Und so schneidet es ab

Insgesamt ist „Die Ewige Kälte“ ein Spiel, das sich lohnt, ganz gleich, ob man die vorherigen Andor-Teile bereits kennt oder nicht. Es wurde wirklich gut darauf geachtet, alles noch einmal Stück für Stück zu erklären. Wie bei den anderen Spielen steht auch hier wenig in der Anleitung, dafür mehr auf den Legendenkarten, sobald etwas relevant wird. So gelingt ein Einstieg besonders leicht, nur hat es für bereits erfahrene Personen den Nachteil, dass man praktisch alles noch einmal lesen muss. Hier wäre es vielleicht gut gewesen zu kennzeichnen, welche Regeln neu und welche alt sind. Das spielt aber höchstens in der ersten Legende eine Rolle, danach sind ohnehin alle auf dem gleichen Stand. Im Vergleich zu anderen Spielen sind die Legenden hier eher einfacher, es gibt aber zusätzliche Karten, um den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen, so dass alle auf ihre Kosten kommen.

Gegenüber den anderen Spielen wurde etwas abgespeckt. Es wird mit vier Legenden weniger erzählt, allerdings gehört „Die Ewige Kälte“ ja auch nicht zur Andor-Trilogie, sondern ist eine Art Bonus-Teil (Der aber genauso viel kostet wie längere Teile). Das Spielmaterial ist auch deutlich weniger umfangreich, was es leichter macht, den Überblick zu behalten. Statt in kleine Plastiktüten wird es jetzt in einen Pappaufsteller sortiert. Das ist nachhaltiger und übersichtlicher, funktioniert aber natürlich nur, wenn man das Spiel nur ins Regal stellt und nirgends hintransportiert. Eine Kleinigkeit zum Material, die positiv auffällt, sind die Held*innentafeln. Jede Rolle lässt sich als männliche oder weibliche Figur spielen. Auf den Tafeln im ersten Teil waren noch alle männlichen Rollen auf der Vorderseite und die weiblichen auf der Rückseite. Hier ist das Verhältnis hingegen ausgeglichen.

Die neuen Elemente, die durch den Wintereinbruch dazu kommen, machen das Spiel abwechslungsreicher. Gerade die Schneestürme sind dadurch interessant, dass sie unvorhersehbar sind und es sich im Spielverlauf jederzeit ändern kann, ob sie wünschenswert sind oder nicht. Gleichzeitig sorgt die Kälte aber auch für weniger Abwechslung – nämlich auf dem Spielplan. Der ist immer noch schön gestaltet, aber dadurch, dass alles so trist ist, gibt es natürlich weniger zu entdecken als auf anderen Plänen. Vielleicht aber auch eine zusätzliche Motivation, den Winter zu beenden, er soll ja nicht als etwas Schönes empfunden werden.

Die Beendigung des Winters als gesamtes Ziel für das Spiel ist als Idee erst einmal schön, so stehen die Legenden nicht so getrennt voneinander, sondern man kann wirklich eine Geschichte erleben. An der Geschichte hätte man aber noch etwas feilen können, die Missionen der ersten Legenden fühlen sich eher nach Fehlversuchen an als nach einem wichtigen Schritt auf dem Weg ans Ziel. Es würde sich befriedigender anfühlen, wenn geradliniger auf ein Ziel hingearbeitet würde, statt Wege auszuschließen, die Kälte zu besiegen. Denn, so viel kann über die Geschichte verraten werden, das klappt natürlich erst nach der vierten und damit letzten Legende. Bei den vorherigen Versuchen ist also von vornherein klar, dass sie zum Scheitern verurteilt sind.

Nichtsdestotrotz macht es Spaß, zusammen zu scheitern – sei es an den Legenden als solche oder beim Kampf gegen den Winter. Es ist einfach schön, für ein paar Stunden in die Welt von Andor einzutauchen und dort Abenteuer zu bestehen. Da kann es ruhig ein bisschen dauern, bis die Kälte besiegt ist und in der echten Welt „Die Ewige Hitze“ auf uns wartet…

Bilder: Nora Stoll

Das Theater nach draußen verlagert: Der Diener zweier Herren

Das Theater nach draußen verlagert: Der Diener zweier Herren

Das Theater Vorpommern in Greifswald befindet sich momentan im Umbau. Das hindert das Theater jedoch nicht daran, Ausweichmöglichkeiten zu finden, um uns in Greifswald Stücke zu präsentieren. Die Premiere der Komödie Der Diener zweier Herren war etwas ganz Besonderes. Am 10. Juni fand die Premiere nämlich im Innenhof des alten Universitätscampus statt. Theater unter freiem Himmel hatte ein ganz besonderes Flair. Ob das Stück mit der Location mithalten konnte?

Ein Beitrag von Maret Becker und Adrian Siegler

Am Freitagabend wurde die Premiere des Theaterstücks Der Diener zweier Herren von Carlo Goldoni aufgeführt. Mittendrin zwei Redakteur*innen des webmoritz. Wir – Maret und Adrian – haben es uns nicht nehmen lassen uns die Neufassung von Roberto Ciulli und Jürgen Fabritius zu Gemüte zu führen. Begrüßt wurden wir mit einer Pressemappe und einem ersten Blick auf die stattliche Tribüne im Innenhof der Universität. Diese war bereits gut gefüllt mit Golden Agern, aber auch einige Kommiliton*innen konnten wir in den Menschenmengen ausfindig machen. Platz genommen, kurz gewartet, um die Spannung aufzubauen, und schon ging es los.

Worum es geht

Truffaldino ist ein unglaublich hungriger Mann. Um an genug Essen zu kommen, wird er gleich der Diener zweier Herren, was unter Strafe steht. Zuerst trat er in den Dienst der als Mann verkleideten Beatrice, die auf der Suche nach ihrem Verlobten ist. Kurz darauf nimmt er durch einen Zufall auch noch den Dienst bei dem unter Mordverdacht stehenden Florindo an – der eigentlich der Verlobte von Beatrice ist. Truffaldino arbeitet gleichzeitig für ein Paar, das einander sucht und nicht findet, obwohl sie in der gleichen Unterkunft residieren. Truffaldino, immer auf der Suche nach Essen, weiß nichts von den einander Liebenden und versucht stattdessen beiden gleichzeitig zu dienen – was sich als schwieriger herausstellt als erwartet.

Die als Mann verkeidete Beatrice hält den leidenschaftlichen Silvio in Schach

Lob und Kritik

Es hat wundervoll viel Spaß gemacht, sich das Stück anzuschauen. Darüber sind wir uns beide einig. So ganz wussten wir nicht, was wir von dem Theaterbesuch erwarten konnten – Adrian zumindest war das letzte Mal vor über zehn Jahren im Theater und auch für Maret war es das erste Mal Theater im Freien.

Beginnen tut das Stück mit einem Gondolier, der durch die Kanäle von Venedig steuert. Da sich jedoch im Innenhof der Uni kein Kanal befindet und kosteneffizient keiner auf die schnelle ausgehoben werden konnten, wurden wir von einem ulkigen Anblick eines Mannes in rot-weiß-gestreiftem Hemd, eingespannt in ein gondelförmiges Konstrukt, welcher vor der Tribüne entlangpaddelt, begrüßt. Damit war die humoristische Stimmung für den Rest des Stückes gesetzt. Auf der Bühne selbst wurden unterschiedliche Bereiche suggeriert, welche unterschiedliche Räume und Orte darstellen. Mitunter die besten Szenen waren die, welche das Bühnenbild voll ausgenutzt haben und mehrere Situationen gleichzeitig gezeigt haben. Beispielsweise die Szene des Abendessens, wo Truffaldino seine beide Herren gleichzeitig bedienen muss. Dazu kommt der Kampf mit dem eigenen Hunger und der Versuchung sich beim Essen seiner Herren zu bedienen. Die Zwiegespräche der Figuren und die musikalischen Einheiten auf Italienisch waren unglaublich amüsant und unterhaltsam. Wir haben unglaublich viel gelacht.

Selbstverständlich fangen die Figuren typische Stereotypen und Prämissen klassischer Dramaturgie ein – der reiche, geizige alte Mann; seine verwöhnte Tochter; die Liebenden, welche sich aufgrund dilemmatischer Umstände nicht lieben können usw. Das tut dem Stück jedoch keinen Abriss. Im Gegenteil. Solche Charaktere machen in einem komödiantischen Stück wie diesem einen Großteil des Humors und der Stimmung aus. Besonders wenn sie gut und überzeugend gespielt werden. Das wortwörtliche Schauspiel im Theater zu beobachten hat großen Spaß gemacht. Es ist ein anderes Gefühl die Schauspieler quasi während ihrer Arbeit beobachten zu können, anstatt, wie bei einem Film, ein „Best-of“ aller gedrehten Szenen.

Über das Bühnenbild selbst können wir nur gute Wort verlieren, dabei können wir uns vorstellen, dass hier eine der größten Herausforderungen für die Aufführung besteht. Das Theater musste hier wirklich mit dem arbeiten, was da war. Trotz eines, den Umständen geschuldeten, vergleichsweise rudimentären Bühnenbild wurde dieses trotzdem sehr stimmig umgesetzt. Dazu kam die Einbeziehung des Universitätsgebäudes. Die Schauspielenden gingen hinaus aus der Szene in das Audimax-Gebäude und kamen im nächsten Akt wieder aus ihm heraus. Die Vorstellungen laufen immer abends und trotz der langen Tage im Sommer konnten die Lichtinstallationen gerade gegen Ende des Stücks ihre Wirkung entfalten. In einer lauen Sommernacht, mit vereinzelten, bunten Lichtern und samtigen Klängen romantischer Zupfinstrumente kam für knapp zwei Stunden ein bisschen Italien in das nördliche Greifswald.

Truffaldino wrid abgelenkt durch Smeraldina, in die er unsterblich verliebt ist

Da wir beide anscheinend nicht die richtigen Worte finden, um unsere Erfahrungen und Eindrücke zu beschreiben, haben wir das Ganze ausgelagert:


Im Innenhof des Unigebäudes, unter freiem Himmel,
Erlebten wir gemeinsam dieses Theatergewimmel.
Die Atmosphäre fesselte uns, zog uns in ihren Bann,
Als ob die Zeit stillstand, für einen Moment nur dann.

Der Applaus erklang am Ende der Aufführung laut,
Ein Dankeschön für das Ensemble, stolz und vertraut.
Unser Besuch im Theater Vorpommern war ein Geschenk,
Eine Reise in eine Welt, die uns alle verrenkt.

– ChatGPT

Wann kann ich mir das Stück im Innenhof der Universität ansehen?

  • 23.06., 20 Uhr
  • 30.06., 20 Uhr
  • 01.07., 20 Uhr
  • 02.07., 18 Uhr
  • 07.07., 20 Uhr
  • 08.07., 20 Uhr
  • 15.07., 20 Uhr
  • 16.07., 18 Uhr

Karten sind auf der Seite des Theater Vorpommern erhältlich. Außerdem in diversen Läden und Geschäften in ganz Vorpommern. Hier lohnt sich ein Blick in die Liste mit Vorverkaufsstellen.

An dieser Stelle sei noch einmal angemerkt, dass das Theater Vorpommern uns zwei Karten zur Verfügung gestellt hat.

Beitragsbilder: Theater Vorpommern

Fête de la Musique 2023 – Der längste Tag des Jahres steht an

Fête de la Musique 2023 – Der längste Tag des Jahres steht an

Der Sommer hat Greifswald erreicht und die Tage werden auch so langsam immer länger. Am 21. Juni 2023 findet wie jedes Jahr wieder weltweit die Fête de la Musique statt. Zahlreiche Amateur- und Berufsmusiker*innen, Performer*innen im Bereich Musik sowie DJs werden honorarfrei den kalendarischen Beginn des Sommers einläuten. Was euch für ein Programm in Greifswald erwartet, erfahrt ihr in diesem Artikel.

Musik für alle – umsonst & draußen“

Die erste offizielle Fête de la Musique fand am 21. Juni 1982 in Paris statt und wurde vom damaligen französischen Kulturminister Jack Lang ins Leben gerufen. Mittlerweile sind es mehr als 500 Städte überall auf der Welt, die den Beginn des Sommers feiern. Der 21. Juni kennzeichnet den kalendarischen Sommerbeginn und den längsten Tag des Jahres. Die Sommersonnenwende sorgt dafür, dass sich die Nordhalbkugel wieder stärker von der Sonne abwendet und in Richtung Äquator wandert, wodurch letztendlich die Tage wieder länger werden. Um den Beginn der Sommerzeit zu feiern, performen unzählige Musiker*innen an allerlei Orten. Auch in Greifswald wird der Sommer wieder musikalisch begrüßt auf einer Vielzahl an Bühnen in der ganzen Stadt. Der GrIStuF e.V. organisiert dabei in Zusammenarbeit mit zahlreichen Partner*innen ein buntes und breit aufgestelltes Programm. Neben der Hauptbühne bei der STRAZE werdet ihr noch 10 andere Bühnen in der Stadt finden. Dazu gehören unter anderem die klex-Bühne, die fLANK-Bühne oder die radio 98eins-Bühne. Zudem ist ab 22 Uhr eine Aftershow-Party geplant mit diversen Acts im Geologenkeller, im Club9 und in der ROSA.

Der Eintritt auf alle Bühnen ist traditionsgemäß kostenfrei. Im Folgenden habt ihr nochmal einen detaillierteren Überblick über das komplette Programm am 21. Juni:

GrIStuF-Hauptbühne

  • 15:00 The Broken Rats Collective
  • 16:00 Timo Pankau
  • 17:30 Sebastian der Saubere
  • 19:00 Internet Baby
  • 20:30 MINK

(STRAZE: Stralsunder Str. 10/11)

GrIStuF-Teppichbühne

  • 14:00 Sane’s Medicine
  • 15:00 Kara.Bina
  • 16:00 Drawis
  • 17:00 Samuel Breuer & Tomas Rimeika
  • 18:00 Solala

(In der Knopfstraße vor der Stadtbibliothek)

klex-Bühne

  • 16:00 MEVEN
  • 17:00 Propheten des Wahnsinns
  • 18:00 Vodka Revolte
  • 19:00 Torfheads

(Jugendzentrum klex, Lange Straße 14)

Bühne auf der Domwiese

  • 18:30 – 20:00 Blasorchester Greifswald

Das Greifswalder Blasorchester spielt moderne sinfonische Blasmusik von James Last, Herb Alpert, Santana, Elton John, Michael Jackson, Robbie Williams und vielen mehr.

(Domstraße)

fLANK-Bühne

  • 15:00 Heyam El-hassoun (Singer/Songwriter)
  • 16:00 JAEEM (Cover + Jam)
  • 17:00 fLANK (Rock)
  • 18:00 DJ Bongo Karl (Arabic Downtempo)

(Imbiss Bagdad Döner Ecke Wall/Fleischerstraße)

radio 98eins-Bühne im St. Spiritus

  • 16:00 Opernale Hafenduo
  • 17:30 Bob Beeman im Stormbird Trio
  • 18:45 muuske
  • 20:00 New Way To Escape
  • 21:15 Tomorrow´s Gone

(Kulturzentrum St. Spiritus, Lange Straße 49/51)

Musikfabrik-Bühne

  • 14:00 – 18:00 DJ Anja Tomschitz & Bands der Musikfabrik

(An der Mensa am Schießwall 1-4)

Lumaris-Bühne

  • 14:00 Magpie
  • 15:30 Solévida
  • 17:00 Anja Tomschitz
  • 18:30 Moon In My Pocket
  • 20:00 Adept

(Vor dem Landesmuseum in der Rakower Straße 9)

Greifmusic-Bühne

  • 16:30 NoLimHits der Greifswalder Pop Chor
  • 17:30 Heavy Rotation
  • 18:30 Yorick Martins
  • 19:15 Sons of Griffin
  • 20:15 Silver Dice

(Musikschule Greifmusic in der Hans-Fallada-Straße 20)

Kinky Mush x Obstinsel

  • 12:00 Tussi (Kinky Mush)
  • 13:00 Málumà (Kinky Mush Friends)
  • 14:00 Esa (Kinky Mush)
  • 15:00 Obstinsel
  • 16:00 Nick J. Heim

(Am Ausbildungscafé des Berufsbildungswerks Greifswald in der Pappelallee 2)

Kinder-Fête in der SchwalBe

  • 14:00 – 17:00 DJ Stephan von Acoustic Lights

Mit Hüpfburg & Sportgeräte, Bubble Tea, Kuchen, Eis uns jede Menge Spaß

(SchwalBe – Schönwalder Stadtteil- und Begegnungszentrum in der Maxim-Gorki-Straße 1)

Aftershow-Party ab 22 Uhr:

Geologenkeller- In der Friedrich-Ludwig-Jahn-Str. 17

  • Ab 22:00 DJ Arcos (80er uns 90er)

C9 – „Electrical Lyrification“ in der Rubenowstr. 4

  • 22:00 Kinky Mush (Tech House x Melodic Techno)
  • 00:00 Obstinsel (Sing Along Techno)
  • 02:00 Noco (Hard Techno x Schranz)

ROSA in der Bahnhofstr. 44

  • Frau Mü & nnyngi
  • Odysseas Khalifa & Leon Ziener

Das Wichtigste auf einen Blick:
Was? Fête de la Musique in Greifswald
Wann? Mittwoch, den 21. Juni, ab 12 Uhr
Wo? In ganz Greifswald
Programm? Das gesamte Programm und weitere Infos findet ihr nochmal auf der Internetseite zur Fête beim GrIStuF e.V.

Beitragsbild: GrIStuF e.V

Eindrücke vom Nordischen Klang: ein Hörerlebnis sondergleichen

Eindrücke vom Nordischen Klang: ein Hörerlebnis sondergleichen

Der 32. Nordische Klang ist am 14. Mai zu Ende gegangen. Künstler*innen aus ganz Skandinavien machten das Festival zu einem großartigen Erlebnis. Der Fokus des Festivals lag unter anderem dieses Jahr auf der indigenen Gemeinschaft der Sámi und ihrer Kultur. Ob Ausstellungen, Vorträge, Filme oder musikalische Darbietungen, es war für jede*n etwas dabei. Wir haben uns letztere zu Gemüte geführt und wollen nun einige der Eindrücke mit euch teilen.

Ein Beitrag von Marthe Pelz und Hannah van Gerpen

Sámi Sessions: Electro Beats, gepaart mit Joiks

Am 9. Mai trat das Duo Tundra Electro auf. Bestehend aus der sámischen Sängerin Ingá-Máret Gaup-Juuso und dem norwegischen Musiker und Komponisten Patrick Shaw Iversen, sorgten sie mit ihrer Mischung aus Electro Beats und eingespielten Flötentönen, Klängen klassischer indischer Musik, sowie eindrucksvollem Gesang für Gänsehautmomente. Wir hatten zeitweise das Gefühl nachts unter freiem Himmel in der Tundra in die Weiten zu wandern oder um ein Feuer herumsitzend den wundersamen Klängen zu lauschen.

Dieser Gesang wird als ‚Joik‘ bezeichnet und ist eine uralte Tradition der Sámi, welche seit Generationen weitergegeben wird. Er erinnert ein wenig an das bayerische Jodeln – nur in cool. Ingá-Máret sang ihn mit einer Inbrunst und Kraft, durch die ihre Vorfahren durch sie mitzusingen schienen. Sie erzählte uns mit ihrem Joik Geschichten aus ihrer Heimat, über die Kultur und die Lebensweise der Sámi, um so die sámische Sprache und Traditionen am Leben zu erhalten. 

Patrick Shaw Iversen, der die Musik komponierte, tobte sich dazu an der Flöte aus. Sein eigener Stil, zusammen mit seinem Interesse an Elektronik und Live-Sampling, gaben den Flöten – denn er spielte bestimmt ein halbes Dutzend verschiedener – einen modernen Klang, der sich nahtlos in die Electro Beats einfügte. Zusammen begeisterten sie das Publikum und werden hoffentlich nicht das letzte Mal nach Greifswald gekommen sein. Ein großes Bravo von unserer Seite!

Hinter diesen Links könnt ihr Tiefer in die Klangwelten von Ingá-Máret und Patrick Shaw Iverson eintauchen.

Sámi Sessions: Sámischer Hiphop mit Message

Es folgte der anschließende Act des Abends: Áilu Valle & Boogiemen. Áilu Valle ist ein sámischer Rapper und einer der ersten seiner Kunst überhaupt. Zusammen mit dem Trio Boogiemen rockten sie in traditionellen sámischen Outfits die Bühne und machten ordentlich Stimmung. Der Platz vor der Bühne wurde bald offiziell zum Dancefloor erkoren.

Áilu stammt aus Anár, auf der finnischen Seite von Sápmi, und rappt auf Nordsaamisch, Finnisch und Englisch. Seine Texte handeln von Dingen wie Klimawandel, Kolonialismus oder Umweltbedrohungen. Er zögert nicht davor schwierige Themen anzusprechen und seine Meinung kundzutun. Ein bisschen schade war, dass wir die Texte nicht verstehen konnten. So wirkten manche Songs sehr repetitiv, besonders da Rhythmus und Rapflow bei den meisten Songs gleichblieben. Untermalt wurde sein Rap allerdings mit Samples von Geräuschen aus der Natur wie Wasser, Wolfsgeheul oder Vogelgesang – eine akustische Darstellung der Beziehung der Sámi zu ihrer Umwelt. Ziemlich cool!

“The natural is the devil, the shoes shield from reconnecting / And that furthers the chronic fobias and fallacies”

Àilu Valle in Ancestors

Wer mehr von Áilu Valle hören möchte, da geht’s lang.

Schwedische Jazznacht: Pianoklänge vom Feinsten

Das St. Spiritus öffnete am 11. Mai seine Pforten für das Landæus Trio. Im ausverkauften Saal spielte der schwedische Pianist und Komponist Mathias Landæus, zusammen mit Johnny Åman am Kontrabass und (vertretend) dem renommierten deutschen Schlagzeuger Heinrich Köpperling. Der Weltklasse-Jazzpianist und -Improvisator ist eine wichtige Figur im Stockholmer Jazzmilieu. Er trug mit seinen Gründungen verschiedener neuer Spielstätten in Schweden massiv zur Verbreitung der Jazzszene bei. 

Auf eine originelle und verspielte Weise entführten die drei die Zuschauenden für kurze Zeit in die Welt des Pianojazz. Mal sehr ruhig und klangvoll, mit ungemein zarten Pianotönen, und mal unruhig und gewollt disharmonisch wie ein Bienenschwarm, kreierten Piano, Bass und Schlagzeug ein brillantes Zusammenspiel. Besonders toll waren die Improvisationseinlagen anzuhören und anzuschauen, denn die drei spielten so gut und mit einer so offensichtlichen Freude, dass man nicht anders konnte als begeistert zu lauschen. Ich empfehle sehr das einmal bei der nächsten Gelegenheit live selbst zu erleben. Ein musikalischer Festschmaus!

Das Landæus Trio sind übrigens die musikalischen Botschafter von Greifswalds schwedischer Partnerstadt Lund beim Nordischen Klang 2023!

Wer mehr von der Jazzluft schnuppern möchte, dem empfehlen wir hier reinzuschauen. 

Schwedische Jazznacht: Swing and Sing!

Es folgte das Stella Gustin Quartett, bestehend aus Milos Lindegren am Klavier, Hilda Nordkvist am Kontrabass, Mattias Nyman am Schlagzeug und natürlich Stella Gustin, eine durchstartende 22-jährige Jazzsängerin mit einer Begeisterung für Swing und Storytelling aus Schweden. Zusammen gaben sie an diesem Abend ihr Deutschland-Debut in Greifswald. In funkelnder Abendgarderobe spielten Stella und ihre Band swingende Standards aus dem Great American Songbook in andersartigen, eigenen Arrangements.

Stella beindruckte nicht nur mit ihrer Ausstrahlung an diesem Abend, sie gab auch einen äußerst starken Gesang zum Besten. Mit einlullender, melancholischer Stimme sang sie über verlorene Liebe, Schmerz und Sehnsucht, in Songs wie „You can have him“ oder „Everybody’s song, but not my own“. Dann wiederum nahm das Tempo an Fahrt auf und weiter ging es mit rhythmischen, schnellen Liedern, die von der Lust am Leben und dem Rausch der Liebe erzählten. Dabei war Stellas ‚scat‘ besonders schön anzuhören. ‚Scat‘ ist eine spezielle improvisierte Form des Singens ohne Wortbedeutungen, mit rhythmischer und melodischer Aneinanderreihung von Silbenfolgen (also so etwas wie du-da-dub-di-du-schu-bi-du-da). 

Ihr wollt mehr von Stella Gustin? Auf gehts.

Stay tuned for Part 2!

Das war´s noch nicht. Es folgt noch ein zweiter Artikel, mit weiteren musikalischen Impressionen des Nordischen Klangs. Bis dahin könnt ihr mal bei allen erwähnten Künstler*innen reinschnuppern oder euch hier über alle informieren, die beim Festival dabei waren.

Beitragsbild: Marthe Pelz


Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit

Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit

Die deutsche Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg ist in der Öffentlichkeit vergleichsweise stark präsent. Die deutsche Kolonialzeit dagegen steht kaum im Diskurs, obwohl sie eigentlich nicht weniger bedeutsam und problematisch war.

Spät entstandenes und sehr kleines Kolonialreich

Im Vergleich zu vielen anderen europäischen Staaten begann Deutschland seine Kolonialpolitik sehr spät. Erst in den 1880er Jahren wurden einige Kolonien erworben. Hintergrund war die äußerst späte Entstehung eines deutschen Nationalstaats im Vergleich zu vielen anderen Staaten Europas, die 1871 mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs erfolgte. Daher wollte vor allem Reichskanzler Otto von Bismarck die etablierten Staaten nicht durch ein Kolonialreich weiter verunsichern. Durch das Drängen der Koloniallobby und vor allem des dritten deutschen Kaisers, Kaiser Friedrich Wilhelm II., König von Preußen, war er jedoch gezwungen, diese Haltung zu ändern und deutsche Kolonien zuzulassen. So erhielt das Deutsche Kaiserreich Kolonien in Afrika, Ostasien, dem südlichen Pazifik und der Karibik. Dennoch war das deutsche Kolonialreich sehr viel kleiner als die meisten anderen. Die vorhandenen Kolonien waren dem Deutschen Kaiserreich daher besonders wichtig, auch wenn sie wie bei allen Kolonialmächten zwar Prestige brachten, aber wirtschaftlich ein Verlust waren.

Verbrecherische Kolonialherrschaft

Die Kolonialisierung vor Ort verlief bei den Deutschen wie bei den anderen europäischen Kolonialmächten äußerst brutal. Die Kolonisator*innen betrogen oder erpressten die indigene Bevölkerung und konnten so Grundbesitz in den Kolonien erlangen. Die Europäer*innen sahen sich selbst als „Herrenmenschen“, die der „Rasse“ der Afrikaner*innen überlegen seien und die Ureinwohner*innen zu einem zivilisierten Leben erziehen müssten. So wurden die koloniale Herrschaft und das gewaltsame Niederschlagen von Protesten der Afrikaner*innnen moralisch legitimiert. Die deutschen beuteten die Ureinwohner*innen aus und zerstörten ihre Kultur. Ein versuchter Aufstand der Herero und Nama, zwei indigener Volksgruppen in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, endete mit einem Genozid der Deutschen an den beiden Stämmen. Die deutschen trieben die aufständischen Volksstämme in eine Wüste, vergifteten deren Brunnen und erschossen diejenigen, die zu fliehen versuchten. Kaum jemand überlebte. Dieser Massenmord war einer der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts. Die Deutschen errichteten in Deutschsüdwestafrika zudem Konzentrationslager, in denen die einheimische Bevölkerung zu Zwangsarbeit gezwungen wurde. Sie dienten als Vorbild für die Konzentrationslager des Nationalsozialismus.

Erste Aufarbeitungsversuche

Heute ist das Thema Kolonialismus in Deutschland, ebenso wie in den übrigen ehemaligen Kolonialmächten, kaum präsent. In den letzten Jahren sind jedoch erstmals Forderungen nach Aufklärung und nationaler Erinnerung in größerem Maße aufgekommen und publik geworden. Unter der letzten Bundesregierung wurde 2017 eine Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit erstmals in einem Koaltionsvertrag festgehalten.

Verhandlungen mit Namibia

Ein Jahr später waren die Verhandlungen der Bundesregierung mit Namibia über eine Entschädigung für den Genozid an den Herero und Nama die einzigen derartigen Verhandlungen zwischen ehemaligen europäischen Kolonialmächten und ehemaligen Kolonien überhaupt. Mittlerweile liegt hierzu ein Vertragsentwurf vor, der jedoch äußerst strittig ist. Er sieht eine offizielle Entschuldigung Deutschlands und 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe als Entschädigung vor. Die namibische Regierung verlangt jedoch deutlich höhere Zahlungen, während die Bundesregierung nicht bereit ist, den Vertragsentwurf neu zu verhandeln. Lediglich eine Überarbeitung ist für sie diskutabel. Zudem klagen der namibische Oppositionspolitiker Bernadus Swartbooi und Vertretendenverbände der Herero und Nama in Namibia gegen den Vertragsentwurf, der dem namibischen Parlament nicht zur Abstimmung gegeben wurde. Im Entwurf ist nämlich außerdem verzeichnet, dass zusätzlich zu den 1,1 Millionen Euro Entwicklungshilfe keine weiteren Entschädigungen gefordert werden dürfen, sodass die Herero und Nama keine Zahlungen erhalten würden. Der Anwalt der Klagenden argumentiert, dass diese Entscheidung aufgrund ihrer weitreichenden Konsequenzen nicht ohne Zustimmung des Parlaments hätte getroffen werden dürfen.

Geraubte Kultur

Ein weiteres Diskussionsthema ist die Rückgabe in der Kolonialzeit geraubter afrikanischer Kulturgüter, die bis heute in deutschen Museen ausgestellt werden. Nach mehrjährigen Verhandlungen wurden 2022 20 Benin-Bronzen an Nigeria zurückgegeben, die von britischen Kolonisator*innen aus dem Königreich Benin im heutigen Nigeria geraubt und von Deutschen gekauft und bis vor kurzem in deutschen Museen ausgestellt worden waren. Forderungen nach Rückgabe solcher Gegenstände existieren in etlichen weiteren Fällen. Deutsche Museen stehen dem oft kritisch gegenüber und argumentieren, sie würden die Objekte seit Jahrzehnten sicher verwahren und hätten so dafür gesorgt, dass sie noch existieren würden. Der deutsche Historiker Jürgen Zimmerer entgegnet dem, dass ethnologische Museen von Anfang an politisch gewesen seien und ihre Entstehung mit dem Kolonialismus eng in Verbindung stünde. Der Kameruner Historiker und Philosoph Achille Mbembe kritisiert zudem im Hinblick auf die europäische Migrationspolitik, dass europäische Museen den Afrikaner*innen ihre Kulturgüter vorenthalten würden, wenn sie diese, wie momentan, in ihren Museen für die meisten Afrikaner*innen unerreichbar verwahren würden. Er erklärt jedoch auch, dass keine Rückgabe sämtlicher Raubgüter gefordert werde. Stattdessen plädiert er für eine Präsentation der Gegenstände an verschiedenen Orten in Europa und Afrika. Gerade für junge Afrikaner*innen sind ohnehin oft Zukunftsfragen wichtiger als die Rückgabe von Gegenständen aus der Vergangenheit. Auch virtuelle Rückgabe in Form von Digitalisierungen können sich viele vorstellen. Allerdings ist vielen auch wichtig, dass Deutschland und Europa anfangen, sich mit afrikanischen Kulturen zu beschäftigen und nicht nur mit der Rückgabe von Gegenständen. Hierbei sehen Expert*innen große Rückschritte seitens Europa.

Mangelnde Präsenz in Deutschland

In Deutschland ist das Thema Kolonialismus heute dennoch in vielerlei Hinsicht nur von marginaler Bedeutung. Es gibt keinen zentralen Gedenkort für die Opfer und Straßennamen und Gedenkstätten ehren weit häufiger die Täter*innen als sie. Auch in der schulischen Bildung wird das Thema nur kurz angerissen, während die Verbrechen des Nationalsozialismus und der SED-Diktatur deutlich intensiver behandelt werden. So ist das Thema auch in der Gesellschaft kaum relevanter Diskussionsgegenstand.

Fazit

In den letzten Jahren ist das Thema Kolonialismus und koloniale Aufarbeitung in Deutschland etwas präsenter geworden und es gibt erste Bemühungen für Wiedergutmachungen. Dennoch sehen Expert*innen und Opfer weiterhin großen Handlungsbedarf und Entschädigungen werden in Deutschland auch kritisch betrachtet.

Beitragsbild: Kevin Olson auf Unsplash