Ähnlich wie am gestrigen Abend war es damals im November 2013 auch ungemütlich da draußen. In Radom (südlich von Warszawa)  nieselte es  schon den ganzen Tag vor sich hin, und die Kälte stieg langsam in die Knochen. Nachdem jeder Spieler seine Unlust, den Verein würdig zu repräsentieren, offen zeigte, verabschiedete sich der 500-köpfige Fanblock aus dem Stadion. Tristesse pur. Übrig blieben nur noch 200 Wetterresistente, ich und sieben Fans von Garbarnia Kraków, die plötzlich ein Lied mit einer sehr bekannten Melodie auspackten.

Ich würde sogar behaupten, es ist ein Ohrwurm par excellance. Wir kennen die Melodie alle als Teil der Ouvertüre aus Bizets Oper „Carmen“. Und wer sie nicht daher kennt, dann spätestens aber von den Klingeltönen eines Handys um 2000. Heiterkeit bei mir, weil du damit nicht rechnest, Galgenhumor beim Rest des Radomer Publikums, die den Gesang dann sogar beklatschten. Das verdeutlicht zum einen die große Popularität, zum anderen die hohe Wertschätzung des Werkes Bizets, das bei seiner Uraufführung anno 1875 beim Publikum einen kleinen Schock auslöste und auf viel Skepsis stieß, um es gelinde ausdrücken. Dem Publikum klatschte die kräftige Watsche des puren Realismus ins Gesicht, denn bei „Carmen“ geht es um Schattenwirtschaft, die Stände-Problematik und die Emanzipation des weiblichen Geschlechts, die einer männlichen Unterwürfigkeit gegenübergestellt wurde. Ob die Thematiken zeitgemäß oder gar zeitlos sind, darüber entscheidet jeder Betrachter des theatralischen Kunstwerks selbst für sich. Der Sieg der bloßen Emotionalität über das rationale Denken unterhält das Publikum, dem die Spielzeit von Stunden und vierzig Minuten wie ein Stündchen vorkommt,  im Stile einer Telenovela, sich aber auf einer sehr viel höheren Niveaustufe befindend.jr1a0492 Die Orte wechseln kaum, und dennoch zieht die Handlung die Leute in ihren Bann. Hier in Greifswald ist es nicht anders. Das Ensemble des „Theater Vorpommern“ besteht aus einer Gruppe von Leuten mit großer internationaler und nationaler Erfahrung, die das Stück der Gattung  „Opéra-comique“  (Musik-Darbietungen und gesprochene Dialoge wechseln sich ab) seit dem April 2016 in Greifswald dem Publikum offerieren. Die Hauptrollen wurden mit  AnneTheresa Møller (Carmen), Karo Khachatryan (Don José) und Thomas Rettensteiner (Escamillo) besetzt. Die Stimme des erkrankten Andrey Valiguras (Zuniga) ersetzte Ingo Wiltzke. Carmen zeigt sich im Stück in ihrer unverkennbaren bestimmenden und feurigen Art, ein Kopftuch tragend, wie man es von Hexendarstellungen aus russischen Märchen kennt. Mystisch, teuflisch, verführerisch – ohne jeglichen Sinn für Loyalität. Durch Carmen verleitet wird aus dem sanktionierten Offizier Don José erst ein einfacher Soldat, später gar ein Gesetzloser, der Carmen anfleht, zu ihm zurückzukehren. Sie aber will das unabhängige Vagabunden-Leben mit der Gier nach Erfolg in der Form des Betörens von Männern auf ihrer höchsten Stude ihrer Karriereleiter. Das Kartenlegen, das nun gar nicht mehr in ihrer Lebensweise überrascht, sagt ihr ihr unglückliches Schicksal voraus. Mit dem siegreichen Torero Escamillo, dem sich Carmen an den Hals wirft, ist auch die eingängige Ouvertüre verbunden, die das Publikum schon von Beginn an in eine Grundstimmung versetzt. Und auch am Ende war wieder einmal begeistert und dankte dem Ensemble der Spielzeit 16/17 noch viele Minuten nach dem Ende.

Ein Blick in das Programm des Theaters lohnt sich also, auch für Studenten. Die Karten gibt es für Studenten schon ab 17 € abwärts, um Stücke wie diese miterleben zu können.

Fotos: Vincent Leifer