Die Kieferorthopädie nimmt eine immer größere Rolle in dem Leben junger Menschen und Erwachsenen ein. Mangelt es der Branche an Selbstkritik oder bewahrt man nur das, was die deutsche Zahnmedizin zu einer der respektiertesten der Welt gemacht hat?

Am Montag erschien im webmoritz. ein Artikel, in dem Doktor Alexander Spassovs Sichtweise auf das von ihm veröffentlichte Paper und den folgenden Rechtsstreit thematisiert wurden. Der deutsch-makedonische Zahnarzt erntete viel Kritik in den Medien – zu Recht, glauben Kollegen und der Nachwuchs aus Greifswald. Eine Gegendarstellung.

Auch wenn sich der Wind um die über ein Jahr andauernde Spassov-Affäre inzwischen gelegt hat – vom Tisch darf die Frage nach dem Sinn von kieferorthopädischen Eingriffen nicht sein. Doktor Isolde Patrunky, seit 1982 praktizierende Zahnärztin in Greifswald, vertritt einen Standpunkt, der von Spassovs Einschätzungen ziemlich weit weg ist: „Kieferorthopädische oder zahnmedizinische Behandlungen haben in jedem Fall einen therapeutischen Nutzen. Dazu gibt es weitreichende Forschungen.“ Die Ästhetik, von vielen Laien, aber auch Fachleuten zum eigentlichen Grund für die Existenz beider Bereiche der Medizin erklärt, sei dabei lediglich ein „schöner Nebeneffekt“.

Auffällig bleibt aber, dass in anderen Ländern der EU deutlich weniger Wirbel um Vorsorge- und Kontrolluntersuchungen beim Zahnarzt oder Kieferorthopäden gemacht wird als in Deutschland. So, wie die Zähne wachsen, stehen sie eben – ganz naturbelassen. „Vielleicht haben die Leute einfach ein geringeres Gesundheitsbewusstsein oder es herrscht weniger Aufklärung“, mutmaßt Doktor Patrunky. Hierzulande kann gar nicht früh genug mit Belehrungen zur medizinisch korrekten Zahnpflege begonnen werden. Eine Minute oben, eine Minute unten, innen und außen. Immer schön kreisen. Und ganz wichtig: die Kauflächen nicht vergessen. Ein Luxus sollten gerade, gesunde Zähne der Greifswalder Zahnärztin zufolge aber nicht sein: „Prävention und Prophylaxe spielen eine wichtige Rolle dabei, Krankheiten zu vermeiden.“

Teurer Spaß, der sich lohnt

So werden Jahr für Jahr immer mehr Kinder, Eltern und behandlungsbedürftige Erwachsene über den therapeutischen und kosmetischen Nutzen einer Zahnspange aufgeklärt. Wohl kaum jemand verlässt das Sprechzimmer, ohne sich für die Behandlung zu entscheiden, auch wenn sie unter Umständen kostenintensiv sein kann. Schließlich vertrauen die meisten Patienten ihrem Arzt, dem Fachmann. Die gesetzliche Krankenversicherung greift allerdings nur bis zum 18. Lebensjahr und wenn die Zähne „schief genug“ sind, sodass eine gesundheitliche Beeinträchtigung mithilfe der Spange ausgeschlossen werden kann. Wie viel die gesetzlichen Krankenkassen für solche Behandlungen zahlen, zeigt ein Artikel in der Zeitung Die Welt vom 26.12.13, in dem es heißt, dass laut kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung im Jahr 2011 insgesamt 740 Millionen Euro flossen. Hierbei wurden Material- und Laborkosten noch nicht einmal berücksichtigt. Häufig ist es mit einer Zahnspange allein außerdem nicht getan: in der Regel folgen durchsichtige, herausnehmbare Schienen für die Nacht oder sogenannte Retainer – dünne Drähte, die an den Zahninnenflächen befestigt werden, sodass sie praktisch unsichtbar sind. Klar, dass man bei solchem Zeit- und Kostenaufwand wiederholt die Frage „Muss das sein?“ stellt.

Für Frau Doktor Patrunky ist sie mit einem eindeutigen Ja zu beantworten. „Es ist absolut richtig und notwendig, dass diese Behandlungen von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Gerade die Retentionszeit (Anm. d. Redaktion: Zeit nach dem Zahnspangentragen) ist immens wichtig und es sollte auf keinen Fall vergessen werden, die Schiene, zu tragen. Sonst kommt es schnell zu einer Retention, das heißt die korrigierte Zahnstellung geht wieder verloren.“

Was genau ist denn nun aber der medizinische Nutzen einer Zahnspange? Sie macht die Zähne gerade und gesund – diese Antwort kennt wohl jeder, der als Jugendlicher eine Spange trug. „Im Prinzip können Zahnfehlstellungen eine sehr große Vielfalt an Erkrankungen und Beschwerden begünstigen. Zum einen sind schiefe Zähne schwerer zu putzen, wodurch leichter Karies entsteht“, erklärt Doktor Patrunky. Aber auch Parodontalerkrankungen (betreffen den Zahnhalteapparat) oder Kiefergelenkserkrankungen können auftreten. Ebenso gehören muskuläre Verspannungen, die zum Teil große Schmerzen verursachen, zu den Risiken, die Zahnfehlstellungen mit sich bringen.

Der Schlüssel heißt Vorbeugen

Doch nicht nur unter Kollegen bekommt Herr Spassov eine Menge Gegenwind. Robert H.* , Student der Zahnmedizin im vierten Semester, sieht in dem 2014 veröffentlichten Paper keinen Grund dazu, die gesamte Branche in Frage zu stellen: „Herr Spassov hat gemeinsam mit Kollegen lediglich festgestellt, dass es nicht ausreichend Studien gibt, um den gesundheitlichen Nutzen der Kieferorthopädie zu beweisen.“

Als Student der Vorklinik kann Robert diesen Beweis natürlich selbst auch nicht erbringen. Aber verteidigen möchte er seinen späteren Beruf lautstark: „Als Außenstehender ist es leicht, zu fragen „Was nützt mir die Behandlung denn?“ Doch er glaubt, dass das die falsche Frage ist. „Viel mehr sollte sie heißen: „Wie würde es heute um die Gesundheit meiner Zähne bestellt sein, wenn ich die Behandlung nicht bekommen hätte?“ Berechtigt findet Robert ebenso die Beteiligung gesetzlicher Krankenkassen an der Kostenübernahme. „Es werden ja nur die absoluten Basisleistungen für Minderjährige bezahlt. Für alle Zusätze wie zum Beispiel Kunststofffüllungen muss der Patient selbst aufkommen.“

Auf seine eigene Zeit als Spangenträger blickt der zukünftige Zahnmediziner heute dankbar zurück: „Ich bin sehr froh, dass ich behandelt wurde, wenn ich mir die Fotos von damals anschaue.“ – Die Ästhetik spielt dabei also auch eine Rolle? „Schon“, räumt er ein. „Aber zweitrangig.“ Gerade bei Kindern seien Zahnfehlstellungen in erster Linie entwicklungshinderlich, weil die Lage der Zunge darüber entscheidet, wie gut Laute und Buchstaben geformt werden können. „Enggestellte Zähne können unglaubliche Schmerzen verursachen. Zum Beispiel gibt es einen Zusammenhang zwischen Weisheitszähnen, die Platz im Kiefer rauben, und Dysbalancen der Nackenmuskulatur.“ Worin genau die Verbindung besteht, wird Robert in ein paar Jahren vielleicht wissen. „Noch wird viel geforscht auf dem Gebiet.“ Eins weiß er aber schon heute: Kieferorthopädie und Zahnmedizin sind mehr als teure Spielereien.

*Name von der Redaktion geändert

Beitragsbild: flickr – https://www.flickr.com/photos/nib/128539591/