Verstörend, unwirklich, poetisch – das alles und noch einiges mehr beschreibt das neue Buch „Der Junge, den es nicht gab“ des isländischen Autors Sjón.

 „Der Mann gibt ein leises Stöhnen von sich, er steht dicht vor dem knienden Jungen. Mit dem Rücken gegen die Felswand ist er wie mit seinem eigenen Schatten verschmolzen, wie am Berg festgewachsen. Der Mann stöhnt wieder, lauter und fordernder, stößt sein Becken vor und zurück, dringt mit seinem aufgerichteten Glied tief in den Mund des Jungen.“

Verstörender kann ein Buch nicht anfangen. Diese Zeilen stammen von der ersten Seite von Sjóns neuestem Roman „Der Junge, den es nicht gab“. Sjón, der eigentlich Sigurjón Birgir Sigurðsson heißt, schrieb früher Texte für die isländische Sängerin Björk, die auch auf dem Cover zitiert wird: „Niemand verbindet Herz und Verstand poetischer als Sjón.“ Wirklich poetisch beginnt das Buch nicht – und dennoch will man wissen: Wer ist dieser Junge, den man hier beim Liebesdienst beobachtet?

Er nennt sich Máni Steinn Karlsson und lebt im Jahre 1918. Der isländische Vulkan Katla ist ausgebrochen und ein dänisches Schiff hat die Spanische Grippe nach Island gebracht. Der erste Weltkrieg endet und Island wird unabhängig. Schon das Rundherum ist sehr wechselhaft. Und doch ist die Geschichte um Máni relativ ruhig und unaufgeregt.

Viele Isländer werden an der Spanischen Grippe sterben. Wegen der Ansteckungsgefahr werden die Kinos geschlossen – für Máni ein großer Schlag, ist er doch fast täglich im Kino und verpasst so keinen Film, der auf die Insel gelangt. Das Geld für die Kinobesuche verdient er sich, indem er es Männern besorgt – was ihm zum Verhängnis wird.

„Und in Erinnerung an diesen Bósi – den Fischer, Trinker, Sozialisten, Bücherwurm und Schwulen –, der im Mai neunzehnhundertdreiundneunzig an Aids verstirbt, sitzt Sigurður Ásgrímurs ältester Sohn Sigurjón nun hier und schreibt sie auf – die Geschichte von Máni Steinn, den es nicht gab.“

Völlig unerwartet wird am Ende des Buchs ein Bezug zu Sjón selbst und seiner Familie hergestellt. Einerseits passt es wunderbar in die Geschichte, andererseits wirkt es sehr unwirklich – surreal eben. Doch auch das ist eines von Sjóns Besonderheiten: Schon seine anderen Bücher und auch Gedichte haben etwas Surreales an sich. Man wartet förmlich während des gesamten Buches darauf, warum es den Titel „Der Junge, den es nicht gab“ trägt – und wird am Ende belohnt.

Sjón „Der Junge, den es nicht gab“
S. Fischer Verlag
160 Seiten
17,99 Euro
Seit April 2015

Foto: S. Fischer Verlag (kein cc)