Ein Reisebericht von Anton Walsch

Prolog:

„Beinfreiheit“– ob das der Zustand ist, in dem man seine Beine nicht mehr spürt? Meine Beine jedenfalls stören nicht mehr, sie schmerzen nicht mehr, scheinen nicht einmal mehr überflüssig zu sein, von Freiheit aber kann keinesfalls die Rede sein! Irgendwo in den letzten 15 Stunden Busfahrt müssen wohl auch Teile meines Verstands verloren gegangen sein, denke ich nun, und noch immer sind wir tief in Polen auf dem Weg von Riga nach Greifswald. Beinfrei, übernächtigt und verkatert – das sind wohl die besten Voraussetzungen, um einen Reisebericht für den webMoritz zu schreiben.

„Political Research Partnership“

Ein Seminar inklusive Reise nach Riga – so versprach es das Vorlesungsverzeichnis. Für Studierende der Politikwissenschaft gibt es dieses Angebot von Dr. Stefan Ewert seit nunmehr fünf Jahren. In Kooperation mit der Universität Lettlands in Riga wurden „Modernen politischen Theorien“ behandelt, sie nennen sich etwa „Post-Democracy“ oder „Muslim Democracy“. Den verschiedenen Ansätzen näherten wir uns im ersten Teil in Greifswald, der zweite ab Mitte November galt der Diskussion in Gruppen, die zusammen mit den Studierenden des parallel in Riga angebotenen Seminars gebildet wurden. Unsere lettischen Kommilitonen besuchten uns dann auch in Greifswald: drei Tage, die mit Gruppenarbeit, einem Besuch im Bundestag, einigen Kneipen und einem Abend in der Tschaika, zu dem traditionsbewusst Kartoffelsalat und Glühwein geboten wurden, sehr gut gefüllt waren.

Knapp zwei Wochen später stand endlich der Gegenbesuch an. Ganz demokratisch hatten wir uns entschieden mit dem Bus zu fahren. Das war nicht nur günstiger als fliegen, vielmehr war wohl das Zusammentreffen einiger Teilnehmer aus dem Vorjahr mit einem alkoholisierten „Air Baltic“-Piloten mit klangvollem schwedischem Namen ausschlaggebend. Gerüstet mit Kissen, Essen und zweckdienlichen Getränken hatten sich alle auf die angekündigten 22 Stunden Fahrtzeit vorbereitet – schon waren wir in Riga und konnten unsere Unterkunft, ein Studentenwohnheim, beziehen.

von Balsam bis Parlament

Zur Begrüßung hatten unsere lettischen Kommilitonen ein Lokal reserviert, in dem die Strapazen der langen Reise vergessen werden sollten: die Balsam-Bar. „Balsam“ ist ein traditioneller lettischer Likör mit süßlich-bitterem Geschmack. Nach einer geheimer Rezeptur aus 24 Kräutern und Blüten zubereitet, wie wir nun lernten, soll er schon Katharina die Große geheilt haben. Als dann auch die „Light“-Variante mit Blaubeeren probiert war, ging es hinaus in das Rigaer Nachtleben, das sich extra für uns mit frischem Schnee zu schmücken schien.

Am nächsten Morgen stand die Besichtigung der Saeima, dem lettischen Parlament, auf dem Programm. Zu sehen gab es in dem eklektizistischen Gebäude den, im Vergleich zum Bundestag gemütlich wirkenden, Plenarsaal, Lobby und Anhörungssaal sowie eine Präsentesammlung, in dem auch ein Füllfederhalter deutscher Herkunft zu finden war.

Altstadt am Tage: ein Jugendstilhaus in Riga

Zu hören gab es die Meinungen und Berichte zweier Abgeordneter. Einer von ihnen gehörte der Opposition an und der andere dem Regierungslager. Wir trafen sie allerdings nicht gleichzeitig und zwei verschiedenen Meinungen somit nicht direkt aufeinander. Anstatt den Ausführungen zu lauschen, nutzen einige deshalb bald lieber mittels Smartphone das freie W-Lan.

Der Nachmittag musste für die Vorbereitung der Gruppenarbeit herhalten, zu der wir uns im Institut für Sozialwissenschaften trafen. Erst am Abend ging es wieder in die Altstadt, die mit reich verzierten Fassaden, verwirrender Gassenstruktur und vielen Kirchen und Plätzen in den Tagen eindeutig zu kurz kam. Ziel war jetzt eine Kellerkneipe mit rustikalem Flair und Live-Musik. Weiter ging es zur „Kiwi-Bar“, in der fast mehr Englisch als Lettisch gesprochen wurde und schließlich „Cuba“ – mit lateinamerikanischen Klängen und sozialistischen Cocktailnamen. Nicht unerwähnt soll auch das Elvis-Helge-Cover bleiben, das einigen wenigen vorbehalten blieb, die im dortigen Lokal den Altersdurchschnitt der johlenden Zuhörer deutlich senken konnten.

Ein bisschen Cambridge

Samstag war endlich der große Tag gekommen, an dem die Gruppenarbeiten ihre Bestimmung gerecht werden sollten: nach dem Cambridge-Modell diskutierte jede Gruppe ihren Theorieansatz mit jeweils drei Für- und drei Gegensprechern. Reihenfolge und Redezeiten waren festgelegt, die meisten Reden abgelesen und kaum eine im feurigen Englisch vorgetragen (der Autor nimmt sich dabei nicht aus). Und dennoch: während der sechsstündigen Präsentation gab es auch belebte Momente, die knappen Redezeiten erforderten eine Beschränkung auf wesentliche Stärken und Schwächen der Theorien und nahezu jeder durfte einmal auf der Bühne sitzen. Nicht zuletzt die Auseinandersetzung in englischer Sprache und aus teilweise sehr unterschiedlichen Blickwinkeln gaben hier dem Lehre-Anteil seine Berechtigung im Programm.

Nachdem die Arbeitsergebnisse präsentiert wurden, fanden sich alle Teilnehmer brav zum Gruppenbild zusammen.

Nachdem die Arbeitsergebnisse präsentiert wurden, fanden sich alle Teilnehmer brav zum Gruppenbild zusammen.

Piloten und Pelmini

Zum letzten Abend sollten noch einmal alle Register des Nachtlebens gezogen werden: in der Kiwi-Bar gab es wie im Vorjahr gut gelaunte „Air-Baltic“-Piloten verschiedener Herkünfte und mit merkwürdigen Namen zu treffen. Andere tranken meterweise Kurze und Kleine zeigten großes Schluckvermögen („acht Liter Bier“). So wurde dann auch der freie Sonntagvormittag von manchen zum Ausschlafen genutzt, mache ließen es sich aber auch nicht nehmen, auf dem frisch eröffneten Weihnachtsmärkten Glühwein zu verkosten.

Weihnachtsmarkt vor einem Dom in der Innenstadt von Riga

Weihnachtsmarkt vor einem Dom in der Innenstadt von Riga

Genauso durfte ein letzter Besuch der „PelminiXL-Bar“ nicht fehlen, hier hatten wir noch immer leckere, traditionelle Pelmini für wenige „Lats“ (gern auch als „Letten“ bezeichnet) bekommen. Die kleinen gekochten Teigtaschen, die wohl nie so gut wie um 3 Uhr morgens schmecken, kennt man übrigens in Polen als „Pierogi“, die Ravioli sind ihre Verwandten. Gestärkt und mit genügend „Schlaf-Kredit“ hieß es dann schon wieder Abschied zu nehmen und sich im Bus einzurichten, schließlich sollte Montag das Uni-Leben weitergehen

Zum Schluss ist noch ein Wort des Dankes anzubringen: es gilt unseren lettischen Kommilitonen für die wunderbaren Tage und Nächte; weiter gilt es allen, die sich um finanzielle Unterstützung bemüht haben: „Gesellschaft von Freunden und Förderern der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald e. V.“, Sparkasse Vorpommern und der Deutsche Akademische Auslandsdienst haben uns eine Reise zu äußerst studentenfreundlichen Preisen ermöglicht. Und schließlich gilt es Herrn Dr. Ewert für die Gesamtorganisation zusammen mit Prof. Rozenvalds aus Riga, die uns nicht nur schöne Tage in Riga ermöglichte, sondern stets mit gut gelaunter Gelassenheit den Ostseeschwerpunkt der Uni Greifswald von seiner besten Seite zeigte.

Bei soviel Programm musste eine ganze Menge von Riga vernachlässigt werden – und das zu Unrecht, die Stadt ist nämlich auch ohne Seminar ein Traum. Der hanseatische Charme, die vielen Jungendstilbauten, die großen Kirchen und überhaupt – fühlt euch aufgefordert, hinzufahren!

Nachtrag (12. Dezember, 19.10 Uhr): Im vorletzten Absatz fand eine inhaltliche Korrektur statt.

Fotos: Isabel Meisner, Milos Rodatos, Anton Walsch