Eine Rezension von Stephanie Napp

„Naked people have little or no influence on society.“ Dieses Twain’sche Zitat ist in Imperium an den Anfang des Buches gestellt und, am Ende angekommen, wird uns klar, wie viel Ironie und Wahrheit zugleich in diesem Satz steckt.
Der Nackte, das ist die historisch verbürgte Person von August Engelhardt, der sich 1902 in die Kolonie Deutsch-Neuguinea, genauer bei Herbertshöhe im Bismarck-Archipel einschiffte. Vegetarier (Kokovore), Nudist und Weltverbesserer, der er war, hatte er nicht weniger vor, als ein fruktivorisches Weltreich zu errichten, im Roman stigmatisiert als Vorläufer des Versuchs eines späteren Vegetariers, der auch nach einem Imperium strebte. Nun ja, hat nicht ganz geklappt. Weder bei dem einen, noch bei dem anderen.

Dieser August Engelhardt nun gründete auf dem kleinen, von einigen Kannibalen bewohnten Eiland Kabakon einen Sonnenorden, der sich zum Ziel gesetzt hatte, durch eine reine Sonnenstrahlen- und Kokosnuss-Diät einen gottähnlichen Zustand zu erreichen. Denn: natürlich kann der Mensch die göttliche Kraft der Sonnenstrahlen nur vollständig ausschöpfen, wenn er nackt ist. Und: die Kokosnuss stellt mit ihrem Saft, der Milch, dem Fruchtfleisch, der weit nutzbaren Schale und dem aus ihr zu gewinnenden Kokosöl die universale Frucht des Lebens – den Stein der Weisen – dar. Ausgestattet mit diesen Selbstverständlichkeiten folgen wir dem mageren Auswanderer auf seinen Abenteuern in der deutschen Südsee.

August Engelhardt, 1911

Dichtung und Wahrheit

Natürlich gibt es einen August Engelhardt im Roman und es gab August Engelhardt als historische Person. Diese Trennung darf nicht übersehen werden, balanciert Kracht hier doch auf einem interessant schmalen Grad zwischen Fiktion und Historie. Ein Großteil des Personeninventars in der Südsee war tatsächlich geografisch und zeitlich am Schauplatz verankert. Doch der Schweizer Autor, der seinen Dialekt schon vor Jahren abgelegt hat, konstruiert – und so soll es auch sein – seine eigenes Zerrbild der Geschichte und borgt sich zudem Charaktere aus der Comicreihe von „Corto Maltese“. Schon das Hardcover von Imperium ist in einem Comicstil Hergés gehalten. Was uns hier vorliegt, ist eine Zeichnung – eine Karikatur der Wirklichkeit, keine authentische Abbildung. Eine Trennung, die ein gewisser Literaturkritiker bei seiner Buchbesprechung nicht beachtet hat. Aber dazu kommen wir gleich.

Schrei nach „Nazi-Mordio“

Die deutsche Presse sprach Imperium ihr Wohlgefallen aus, mit Ausnahme einer erwartbar skandalschwangeren Besprechung, die der Spiegel-Autor Georg Diez beisteuerte. Daraufhin tat das Feuilleton das, was es am liebsten macht: es beschäftigte sich mit sich selbst. Nachdem Diez seinen Kiepenheuer & Witsch-Kollegen Kracht recht plump mit der Nazi-Keule bewarf – ihn einen „Türsteher der rechten Gedanken“ nannte – wurde groß „Nazi-Mordio“ geschrien und das Feuilleton verhandelte die Frage, was die Literaturkritik eigentlich sagen darf und was nicht. Alle sprangen sie auf die abstruse Rezension Diez´ an, die ironische Zitate aus ihrem Zusammenhang riss und das tat, was kein Literaturstudent jemals wagen würde: Erzähler, Autor & dessen Image gleich zu setzen. Diez verweigerte sich strikt der ironischen Lesart und sah in dem fiktiven Roman ein politisches Pamphlet Krachts. Und was tat der Autor? Der antwortete mit Schweigen. Kracht, ehemals Indienkorrespondent des Spiegels, sagte seine erste Lesung in Deutschland ab, gab sich nach außen hin gekränkt von den Anschuldigungen und – schwieg. Eine Äußerung seinerseits war nicht einmal nötig, denn die gesamtdeutsche Presse stellte sich, wenn auch nicht immer auf Krachts Seite, zumindest stierköpfig gegen Diez‘ Methoden.

Von der Südseeinsel Neu-Lauenburg aus sollte ein Weltreich errichtet werden.

Warten auf Godot

Eine Widerlegung von Diez‘ Vorwürfen zum wiederholten Male zu bringen, wäre weder nötig noch angebracht. Denn jedes große deutsche Blatt hat sich dessen bereits angenommen. Ein Versuch, die subtile Ironie in Imperium mit heraus gepflückten Zitaten zu belegen, wäre – angelehnt an Diez‘ Methodik – zudem recht inkonsequent. Da muss der Leser selbst zum teuren Papierwerk greifen oder sich durchs Feuilleton kämpfen.

Das Spiel mit Extremen, mit aus der Mode gekommenen Ideologien führt der Kosmopolit Kracht seit jeher in seinen Schriften. Die souveräne Selbstverständlichkeit, die er dabei aufbringt, zeigt sich auch in der Erzählinstanz des neuen Romans. So verfügt die Erzählerfigur über die nötige ironische Distanz zum nudistischen Kokovoren und suggeriert doch eine scheinbare Nähe. Aber eben nur eine scheinbare. Wer hier mit der Lupe nach Eindeutigkeit und Authentizität Ausschau hält, ist schon falsch abgebogen. Journalisten, die Kracht die Gesinnung seiner literarischen Figuren anhängen wollen oder ihn nach seiner persönlichen politischen Einstellung fragen, haben schon verloren. Denn der Autor weiß sich geschickt zu mystifizieren. Stichwort: Selbstinszenierung. Wer bei Kracht also auf eine eindeutige Aussage zu seiner Person oder seinem Werk wartet, der wartet auch auf Godot.

Der mystifizierte Autor

Schweigen und provozieren heißt hier die Devise. Viele Gegenwartsautoren wie Stuckrad-Barre oder Kracht wissen um ihre mediale Präsenz. Genauso wie in Imperium jedes Wort präzise und geplant eingesetzt wird, so sind auch die Auftritte des Autors (der nicht als Pop-Literat verstanden werden möchte!) in der Öffentlichkeit viel zu reserviert und durchdacht, als dass sie authentisch sein sollten. Nichts passiert zufällig, vielleicht nicht einmal die PR-verdächtige Diez’sche Anschuldigung.

Der Autor, Christian Kracht.

Stattdessen fördert der Sohn des ehemaligen Generalbevollmächtigten Axel Springers die „stetige Dekonstruktion der Wahrheit um seine Person“, indem er auf kontroverse Fragen gar nicht oder ebenso kontrovers antwortet. Es wird Zeit, endlich die richtigen Fragen zu stellen. Also Herr Kracht, mit welcher Chamagnersorte haben Sie heute Ihre Schuhe geputzt? Mehr Oberflächlichkeit in der Interviewrunde ist angebracht! Würde eine Frage nach der Marke seiner Schuhpflegeprodukte doch wahrscheinlich viel mehr über Krachts Person offenbaren, als die Frage nach seiner politischen Einstellung.

Des Lesens wert

Die Präzision in der Wortgewalt von Imperium ist als Ergebnis der Entwicklung des Autors zu sehen. Während in seinem Erstlingswerk Faserland noch eine jugendhafte Leichtigkeit mitschwingt, baut Kracht in den folgenden Romanen seinen Wortschatz immer mehr aus. Jedes Wort ist genauestens ausgewählt und nicht austauschbar, Belanglosigkeiten bleiben fern. Imperium  ist ein Sprachgenuss, der des Lesens lohnt. Besonders jetzt, nachdem die reizüberflutende Debatte im Feuilleton versackt und verdaut ist, wo keine Lesungen des Autors anstehen, sollte man sich den Roman (vielleicht zum zweiten Mal) vornehmen. Warten wir nicht auf Godot, lesen wir einfach.

Fotos: Insel Kabakon – golf-dornseif.de; Kracht – Frauke Finsterwalder via Kiepenhauer & Witsch (ohne CC); August Engelhardt – wikimedia(gemeinfrei)

Cover: Verlag Kiepenheuer & Witsch