Der Reaktor von Elisabeth FilholDrei Menschen haben sich umgebracht. Mit dieser schlichten Tatsache leitet  „Der Reaktor“ aus der Feder von Elisabeth Filhol zwar ein, doch um einen Kriminalroman handelt es sich mitnichten. Eher schon um eine Gesellschaftskritik, wenn auch aus ungewohntem Blickwinkel.

Yann, dessen Namen man erst recht spät erfahrt, ist Zeitarbeiter bei verschiedenen Kernkraftwerken in Frankreich. Während der technischen Überprüfungen reist er von einem KKW zum anderen und bleibt nur für einige Wochen am selben Ort. Wohnraum ist knapp, Privatsphäre rar, man beschränkt sich auf das Nötigste. Ständig sitzt ihm und seinen Kollegen die Gefahr im Nacken, die „Dosis“ zu überschreiten – die zulässige Höchstmenge an Stra. Bei deren Überschreiten muss ein Jahr lang ausgesetzt. „Wenn es passiert, dann trifft es dich wie ein Keulenschlag, du nimmst es hin wie alles andere, ohne zu murren.“ So auch Yann, als er jene Grenze passiert. Er spricht über das Verkaufen des eigenen Körpers, die Erleichterung darüber, dass es zumindest zwölf Monate lang vorbei ist. Doch gleichzeitig kommt das Allein- und das Anderssein, die Leere. Yann versucht diese Leere durch einen neuen Job zu überbrücken – auch in der Atomindustrie. Für die Ausbildung muss er selbst aufkommen. Zumindest ist „Zahlung in vier Raten ohne Zinsen, wie in den großen Supermärkten“ möglich. Aus dieser Arbeit, die die Menschen physisch und psychisch verzehrt, wollen viele ihren Worten nach aussteigen, doch kaum einer macht es wirklich. Yanns Freund hingegen redet nicht nur, sondern wählt einen endgültigen Weg. Wie man gegen Ende des Buches erfährt, ist er einer der drei, die den Freitod gewählt haben.

Unmittelbar, aber kompliziert

 

Der Reaktor verzehrt die Arbeiter.

Der Stil des Buches ist unmittelbar und nachdrücklich. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass aus der ersten Perspektive und fast durchgängig im Präsens erzählt wird. Jedoch sorgen immens lange Satzkonstruktionen ohne wirklichen inneren Zusammenhalt auch für baldigen Kopfschmerz. Zeitsprünge, in denen Yann ohne Überleitung erst von der Zeit mit seinem besten Freund und dann wieder von seiner gegenwärtigen Situation berichtet, stiften zusätzliche Verwirrung. Hier ist die Unmittelbarkeit der Erzählung so übertrieben worden, dass schließlich der inhaltliche Zusammenhang leidet.

Weitaus besser gelingt die Einflechtung etwa der physikalischen Prozesse der Kernspaltung und der Geschehnisse, die zur Katastrophe von Tschernobyl führten. Dies sind Seiteninformationen, die für das Voranschreiten der Handlung zwar nicht notwendig sind, aber dort, wo sie auftauchen, passen.

Das Buch kommt fast ohne wörtliche Rede aus. Dies erzeugt eine Distanz zum Leser, die vielleicht gewollt ist, jedoch nicht immer passend wirkt. Es fällt schwer, sich wirklich in Yann zu versetzen und mit ihm zu fühlen oder seine Situation emotional nachvollziehen zu können. Allerdings schafft dies den passenden Rahmen für eine Form von Gesellschaftskritk, die sich nicht mit drohendem Zeigefinger aufhält, sondern ständig unterschwellig vorhanden ist. Gerade dies macht die Kritik um so eindrücklicher.

„Der Reaktor“ ist kein Buch, dass man nebenbei zur Entspannung lesen kann. Dafür verlangt es zuviel an Aufmerksamkeit, hinterlässt einen zu bitteren Nachgeschmack, wirft zu viele Gedanken auf, die ihrerseits wieder Wellen schlagen. (Cover)

Fotos: Edition Nautilus – Verlag, keine C.C.-Lizenz (Cover), Dominik V. via jugendfotos.de (Reaktor)