Wolfang Koeppen ist nicht nur Autor der bedeutenden deutschen Nachkriegstrilogie, die „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“ und „Der Tod in Rom“ umfasst, auch machte er sich zeitlebens einen Namen mit Reiseessays, Reisereportagen und eigens für den Rundfunk verfasste Manuskripte, in welchen Koeppen die Eindrücke und Erlebnisse seiner Reisen „literarisierte“.
Prof. Dr. Erhart
Prof. Dr. Walter Erhart, seit 2007 Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld und ehemals Professor für Neuere Deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald, leitete von 2001 bis 2007 das Wolfgang-Koeppen-Archiv der Ernst-Moritz-Arndt-Universität. Er war maßgeblich beteiligt an der Neuedition einer Koeppen-Gesamtausgabe, die 2007 im Suhrkamp Verlag erschien. Herr Prof. Dr. Erhart beantwortet Fragen zur Neuedition der Werke Koeppens und zu Koeppen als Verfasser von Reiseliteratur.

Webmoritz: Mit Wolfgang Koeppen assoziiert man wohl zunächst seine bedeutende Rolle als Romancier innerhalb der deutschen – und internationalen Literaturgeschichte. Welchen Platz im schriftstellerischen Schaffen Koeppens nimmt die Reiseliteratur ein?
Erhart:
Koeppens reiseliterarische Texte – dies soll die dreibändige Edition der Reiseschriften auch zeigen – wurden bislang sowohl quantitativ als auch qualitativ unterschätzt. Koeppen hat zeit seines Lebens Reiseliteratur geschrieben: von frühen journalistischen Reportagen der 1930er Jahre (kurz nach seinem Weggang aus Greifswald) bis zu den letzten Texten, die sich auf eine Schiffsreise beziehen, die Koeppen im Auftrag des Suhrkamp Verlages mit einem Kreuzschiff im Jahr 1988 als Zweiundachtzigjähriger unternahm. Reiseliteratur bildete gewissermaßen das Zentrum seines Werkes – auch dahingehend, dass seine literarischen Werke stets auf reiseliterarische Motive – auf Reisen, Mobilität, Ortswechsel – bezogen waren und dass er in der eigenen, lebenslang ausgeübten Reisetätigkeit die erste Inspirationsquelle für sein Schreiben sah.

Webmoritz: Können Sie kurz die Idee und das Projekt der Neuedition erläutern? Warum entstand die Neuedition? Wie entstand die Neuedition?
Erhart:
Die Neuedition entstand aus Anlass des 100. Geburtstags von Koeppen und war eine Initiative des Suhrkamp Verlages, nicht zuletzt auf Drängen der Verlegerin und Leiterin des Verlags, Ulla Berkiewicz-Unseld, die mit Koeppen bis zu dessen Tod eng befreundet war. Die letzte Edition der gesammelten Schriften stammt aus dem Jahr 1986; bekannt ist, dass Koeppens Werk nur fragmentarisch überliefert ist, ein Großteil der Schriften – auch die Vorfassungen, Varianten etc. – befand sich im Nachlass, der heute im Greifswalder Koeppen-Archiv aufbewahrt wird. Aus diesem Grund war eine neue Ausgabe der Schriften fällig – zumal Koeppen zu den großen Autoren der Literatur des 20. Jahrhunderts und des Suhrkamp Verlages gehört.

Webmoritz: Koeppens neuedierte Reiseessays beruhen auf einer Grundlage für eine Hörfassung. Wieso ist die Hörfassung so in Vergessenheit geraten?
Erhart:
Gerade weil Koeppens Radioessays schnell gedruckt wurden und als Bücher überaus erfolgreich waren, gerieten die Radiofassungen schnell in Vergessenheit. Das ist bedauerlich: Die Hörfunkfassungen waren nicht nur anders: in der Regel gekürzt, allerdings auch mit Textanteilen, die später im Druck nicht wieder auftauchten. Zudem lässt sich an den Rundfunksendungen ermessen, wie stark gerade Koeppens Reiseessays zunächst für ein ‚mündliches’ Medium geschrieben waren: Koeppens gleichsam ‚atemlose’ Prosa lässt sich unter Umständen sehr viel besser ‚hören’ als lesen; Koeppen selbst dachte beim Schreiben wohl auch an das Radiopublikum. Um so mehr ist zu begrüßen, dass unlängst alle für den Süddeutschen Rundfunk gemachten Radioessays auf 15 CDs (im Verlag jpc) wieder veröffentlicht worden sind.

Webmoritz: FAZ-Kritiker Karl Korn wirft Koeppen vor, er habe sich, „was den politischen Anspruch des Intellektuellen angeht, zu den Entsagenden geschlagen“. Wie viel politischer Anspruch verbleibt Ihrer Meinung nach in Koeppens Reiseliteratur? Wie viel explizit in „Nach Rußland und anderswohin“?
Erhart:
Koeppens Ruf als ‚politischer Schriftsteller’ beruht einerseits auf einem Missverständnis. Koeppen wollte nicht (tages-)politisch tätig sein, er vertraute auch nicht der Politik und dem politischen Handeln, ebenso wenig der Funktion des Intellektuellen als eines politisch handelnden und schreibenden Autors. Statt dessen beschrieb Koeppen die Politik stets als Teil eines vergeblichen Handelns, das sich in eine von ihm eher geschichtspessimistisch interpretierte Welt einordnete – deshalb die von Mythen durchsetzten Werke Koeppens, das zyklische Geschichtsbild mit seinen immer gleichen Katastrophen, die düstere Weltsicht. Auf der anderen Seite beschrieb Koeppen die Gegenwart sehr genau, vorurteilslos und nüchtern. Gerade in den Reiseessays kommt das gesellschaftliche und politische Leben der bereisten Länder detailliert zur Sprache, und gerade der illusionslos ‚kalte’ Blick Koeppens entlarvt die Mechanismen und Zurschaustellungen der politischen Macht sowie die gesellschaftlich-politische Realität jenseits ihrer offiziellen Verlautbarungen, in der Sowjetunion ebenso wie in den USA und in Europa.

webmoritz: Wie reist ein Wolfgang Koeppen? Welche Momentaufnahmen machte seine „literarische Kamera“ in „Nach Rußland und anderswohin“? Welche Rolle spielen objektiv-historisches Erleben und literarische Überformung bei der Literarisierung der Rußlandreise?
Erhart:
Koeppen reist als Beobachter, der statt des Reisenden und statt der bereisten Welt die Details und die über ein Land kursierenden Bilder, Stereotypen und Mythen einigermaßen hart gegeneinander setzt. Er reist als Leser, der vor Antritt der Reise das angelesene Bild des jeweiligen Landes (re-)produziert und dann – je nachdem – wieder findet oder auch als Illusion entlarvt. Am Ende gehen diese Bilder und die vermeintliche Realität ineinander über und lassen sich gar nicht mehr voneinander trennen und unterscheiden. Statt die ‚wirklichen’ Länder zu beschreiben, macht Koeppen als Reiseschriftsteller den Prozess bewusst, mit dem wir unsere Vorstellungen von diesen Ländern – und von der Realität überhaupt – entwickeln und diese mit der scheinbaren ‚Wirklichkeit’ verwechseln. Die auffällige Literarisierung seiner Reiseberichte – Imaginationen, Metaphern, Mythen, Zitate, Übertreibungen – sind immer zugleich Teil dieser Bewusstmachung, und wie bei jeder Reiseliteratur schreibt Koeppen nicht ‚authentisch’ die Reise selbst nieder, sondern erfindet sich in seiner Erinnerung neu, erfindet sich als die Figur eines Reisenden, deren Reise er als Autor erzählt.

Webmoritz: Die Suhrkamp-Edition versammelt im Anhang „Original-Aufzeichnungen“, handschriftliche und typographischen Notizen. Zeigen sich hier Einblicke in die Entstehungsgeschichte von „Nach Rußland und anderswohin“?
Erhart:
Koeppen hat während der Reise nicht viel geschrieben; den Reisen folgte stets eine umfassende und komlizierte (auch langwierige) Schreibtätigkeit zu Hause, in der er das Reiseerlebnis noch einmal rekonstruierte, überformte und literarisierte. Die vermutlich auf einer Reisemaschine getippten „Aufzeichungen” seiner Russlandreise zeigen diesen Prozess der Überarbeitung: Koeppen notierte Momentaufnahmen, Stichworte, Daten zur Reiseroute – entscheidend ist die anschließend erfolgende literarische Verknüpfung und Ausgestaltung.

Webmoritz: Prof. Dr. Erhart, vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Helke Vangermain

Lest hier, was das Moritz Magazin zum Koeppen-Archiv schreibt:
http://www.moritz-medien.de/75+M5074a348ef9.html