Die Ukraine ist ein Land, das sich an der Gabelung des europäischen und russischen Weges befindet. Einerseits sind in den letzten Jahren grundlegende Schritte zur Herausbildung einer demokratischen Struktur unternommen worden, andererseits ist der russische Einfluß auf die Politik und Wirtschaft des Landes nach wie vor wesentlich.

Als Nachfolgestaat der Sowjetunion wurde die Ukraine 1991 unabhängig.
Es hatte bis dahin noch nie ein ukrainischer Staat in diesen Grenzen existiert.
Eine Nationalbewegung wurde in der Geschichte immer wieder durch diverse Fremdherrschaften unterdrückt.
Auch durch den Fakt, dass es erst 1996 gelang, eine Verfassung zu verabschieden die ein sehr präsidentielles System vorsah, gestaltete sich der Transformationsprozess durchaus länger und schwieriger, als in den meisten anderen post-kommunistischen Ländern. Die wirtschaftliche Rückständigkeit ist nach wie vor immens, da das Land 2004 nur etwa 60 Prozent des Bruttosozialproduktes von 1989 verzeichnen konnte. Das Bruttoinlandsprodukt der gesamten Ukraine ist etwa so groß wie das der Hansestadt Hamburg.  
 
Ländlicher Raum

Diese Unterschiede wurden deutlich, als wir die Grenze von Polen in die Ukraine mit unserem Kleinbus passierten. Der Mercedes Sprinter wurde durch die etlichen  Schlaglöcher in den Landstraßen durcheinander geschüttelt. Im Übrigen gibt es in der Ukraine keine Autobahnen. Die ständigen teilweise heftigen Erschütterungen und das dröhnende Geräusch des vibrierenden Busses machten die Fahrt zu einer anstrengenden Angelegenheit.
Die Dörfer, durch die uns unsere Reise bis Kiew führte, waren malerisch und archaisch.
Die Grundstücke an den Wegesrändern waren meistens von landwirtschaftlichen Elementen geprägt. Obstbäume, Gemüsebeete, Hühner oder Rinder – alles war in so unterschiedlichen Formen zu finden. Die Häuser hatten einen alten, aber nicht heruntergekommenden Charakter. An diesem warmen Juliabend erblickten wir ebenfalls viele ältere Menschen an diesen Straßenrändern, die sich mit ihren Nachbarn unterhielten oder ihre Kühe ausführten.
Den größten Teil der Busfahrt durchquerten wir jedoch die ewigen Weiten der Wolynischen Tiefebene. Die Abendsonne ließ die an sich unspektakuläre Landschaft trotzdem in einem anziehenden Licht erscheinen.
Die Ukraine ist aber nicht nur ein Land von Bauern. Wie in fast allen Ländern der Erde war der Unterschied zwischen Land und Stadt gewaltig.
 
Goldenes Antlitz
   
Die Haupstadt der Ukraine ist Kiew. Obwohl es keine Wolkenkratzer in der Stadt gibt, glänzt das 2,5 Mio. Einwohner Zentrum am Dnjepr durchaus mit einem einzigartigen Metropolcharakter. Das imposante Bahnhofsgebäude strahlte nachts mit einem runden grünen Schriftzug „вокзал“ („Bahnhof“) eine sommerliche Wärme aus. Das Gebäude ist über 200 Meter lang und beeindruckt durch seine Ockerfarben.
Die unzähligen Kirchen der Stadt sind weder von gotischen noch barocken Zügen geprägt. Die in Osteuropa weit verbreiteten Kirchen verfügen über ein spektakuläres Antlitz.
Die Grundmauern sind meistens in hellblauen Farben gehalten, wobei monumentale weiße Säulen mit eingearbeitet sind. Die Kuppeln erheben sich in metal-lischem Gold und sind einfach einzigartig und schön.
Im Osten was Neues ?

Der Maidan („Revolutionsplatz“) in Kiew war zu dieser Zeit besonders eindrucksvoll. Gegen Ende des Jahres 2004 hatten auf diesem Platz zehntausende für freie Präsidentschaftswahlen in der Ukraine demonstriert. Die EU und die OECD erkannten die Wahl am 22. November 2004 als nicht demokratisch an. Der russische Präsident Putin deckte und unterstützte den vermeintlichen Wahlsieger Wiktor Janukowitsch. Jedoch wurde durch das Oberste Gericht der Ukraine eine Wiederholung der Wahl für den 26. Dezember 2004 angesetzt. Aus dieser ging der pro-westliche Kandidat Wiktor Juschtschenko als Sieger hervor. Dieser fiel im Vorfeld der Wahlen einem Giftanschlag zum Opfer. Seinen Siegeszug konnte der Reformer nur mit einem vernarbten und sichtlich gezeichneten Gesicht feiern. Juschtschenko verkündete das Ziel einer NATO- und EU-Mitgliedschaft und steuerte, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Leonid Kutschma, einen radikaleren, westlichen außenpolitschen Kurs an.
Doch nicht mal ein Jahr nach dem Erfolg der „Orangenen Revolution“ zerbrach die Koalition im Spätsommer 2005 und die schöne Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, welche als Markenzeichen einen geflochtenen Rosenkranzzopf trug, schied wegen Differenzen mit dem Präsidenten aus der Exekutive aus.
Die Parlamentswahlen im März 2006 brachten keine Bestätigung mehr für das „Orangene Lager“. Die Partei des Präsidenten „Unsere Ukraine“ verzeichnete rapide Stimmenverluste und konnte mit aller Mühe nur noch etwa zwölf Prozent auf sich vereinen. Die stärkste Fraktion stellte nun der pro-russische Block der „Partei der Regionen“, welchem der alte  Widersacher  Juschtschenkos, Janukowitsch, als Parteivorsitzender vorstand. Dieser war somit zurück im politischen Geschäft.
Bis zu unserer Reise im Juli war immer noch keine Regierung gebildet worden. Eine mögliche Koalition des Blocks Julia Timoschenkos, „Unsere Ukraine“, und den Sozialisten war Mitte Juni schon vereinbart. Plötzlich sprengten die Sozialisten jedoch dieses Bündnis. Die letzten Alternativen waren eine Neuwahl oder eine Koaltion der alten Reformer und der Partei der Regionen, wobei Juschtschenko seinen alten Widersacher Janukowitsch hätte ins Amt des Ministerpräsidenten verhelfen müssen. Mitte Juli störte Julia Timoschenko eine Parlamentssitzung mit einem Megaphon und protestierte gegen eine „Große Koaliton“. 
In dieser unklaren Situation besuchten wir nun Kiew und den Platz, der eine freie und gleiche Wahl überhaupt erst möglich machte.  
Der „Maidan“ ist ein quadratförmiger, etwa zwei Hektar großer Platz. Unzählige Zelte und Informationsstände der unterschiedlichsten Parteien säumten diesen Platz. Europaflaggen und Russlandfahnen wehten im Schatten einer über 100 Meter hohen Säule. Die Spitze dieser Säule krönte eine große weibliche Statue, die einen goldenen Zweig über ihren Kopf hält, der die beiden nach oben ausgestreckte Arme verbindet. Der „Maidan“ ist ein historischer und symbolischer Ort. Die politische Polarisierung der Gesellschaft zwischen dem europäischen und dem russischen Weg trat hier einmal mehr offensiv zu Tage.
Trotzdem gibt es eine Region, in der die Spaltung der Gesellschaft zwischen Traditionalismus und Moderne noch deutlicher wird: Die Krim.

Bier, Islam, Gebirge

Die Schwarzmeerhalbinsel Krim hat etwa zwei Millionen Einwohner und ist größer als Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern zusammen. Im Norden breitet sich eine große Tiefebene aus, die eine unspektakuläre Steppenlandschaft beherbergt. An der südlichen Spitze zieht sich das Krimgebirge direkt an der Küste entlang. Als Teil der kaukasischen Gebirgsbildung erreichen die Berge über 1200 Meter Höhe und gönnten uns einen wunderschönen Blick vom höchsten Gipfel nahezu direkt hinab zum Meer, das sich in ewigen Weiten verliert.
Bis heute steht die Krim unter islamischem Einfluß. Die Krimtataren wurden 1944 durch Stalin nach Sibirien deportiert. Seit den 1980er Jahren pilgert diese muslimische Minderheit wieder zurück zu ihrer alten Wirkungsstätte.
Heute sind – mit steigender Tendenz – über zehn Prozent der Einwohner auf der Krim muslimisch. Das Zentrum für diese ist der sehr alte Ort Bachthisaraij.
Unsere Unterkunft war ebenfalls in dieser Stadt, die sehr provinziell wirkte. Die sengende Hitze und die flachen und spartanischen Gebäude erinnerten uns bei unserer Ankunft an ein mediterranes Dorf. Es gab keine Supermärkte, sondern nur immer kleinere „Tante-Emma-Läden“. Der osteuropäische Charakter zeigt sich am deutlichsten darin, dass das Straßenbild zur Hälfte von alten Ladas geprägt ist. Auch Taxis und Polizeiautos rekrutierten sich aus diesen, welche sicherlich noch aus Sowjetzeiten stammen.
In Bachthisaraij sollte der Hauptteil der Reise beginnen, auch weil wir zu diesem Zeitpunkt mit russischen Studenten aus St. Petersburg zusammentrafen. Sie wohnten größtenteils in unserem „Hotel“. Nahezu jeden Abend saßen wir im interkulturellen Austausch zusammen, tranken Bier oder spielten Gitarre. 
Gemeinsam unternahmen wir diverse Wanderungen und informierten uns über die wichtigsten Industrieprodukte der Krim, – Wein und Lavendel-  in Produktionsfabriken.
Mit dem Bus fuhren wir entlang der gebirgigen Südküste. Die steilen Straßen und Serpentinen hinauf und hinab der Berge führten uns durch eine wunderschöne Landschaft, die teilweise völlig unberührt wirkte. Nach mehreren Stops erreichten wir unser Tagesziel: Jalta.

Mediterranes Feeling

Im Livadija Palast, westlich des Stadtkerns, hatten die Allierten im Februar 1945 die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen beschlossen. Der Garten dieses Palastes war äußerst gepflegt. Unzählige Blumenbeete beherbergten eine Farbenvielfalt, die sehr exotisch wirkte. Der erhöhte Blick über das Schwarze Meer, die präzise angeordneten Palmen und die andauernde Hitze verursachten eine Assoziation mit der Karibik an diesem historischen Ort. Das Krimgebirge verhindert den Einfluss von kalten Luftmassen aus dem Norden, so dass in Jalta ein sehr mittelmeertypisches Klima herrscht.
Eine Leninstatue durfte auch in Jalta natürlich nicht fehlen, da es in jeder Kleinstadt eine Statue des alten Revolutionärs gibt. Mit der rechten Hand nach unten gerichtet, eine Papierolle haltend und mit dem linken Arm seinen Mantel fassend, posiert das eindrucksvolle Denkmal. Die sich erhebenden Berge im Hintergrund hinterließen einen denkwürdigen Eindruck. Unweit davon befindet sich eine McDonalds Filiale direkt in der Hafenbucht. Es war die erste, die wir seit Kiew ausmachen konnten. Irgendwie passte dieser Kontrast zwischen Moderne und Geschichte zusammen. Auch deswegen weil viele Touristen entlang der Hafenmole flanierten, um dem Ausblick auf das Meer zu fröhnen.

Gespaltene Gesellschaft

Der traditionelle Einfluß wurde am deutlichsten, als wir in der Hafenstadt Sewastopol die russische Militärparade beobachteten, die einmal im Jahr stattfindet. Die Stadt war überflutet von russischen Bürgern und Militärangehörigen, so dass wir dachten, wir wären in Russland und nicht in der Ukraine. Russland hat in Sewastopol nämlich immer noch einen wichtigen Flottenstützpunkt etabliert, der einer ukrainischen NATO-Mitgliedschaft im Weg stehen könnte. 
Wir standen inmitten von Menschen, die allesamt auf die Bucht der Stadt schauten. Im Hafen lagen vier große Panzerkreuzer direkt in einer Reihe hintereinander. Auf der anderen Seite des Ufers wurden regelmäßig Gewehrsalven abgefeuert. Eine beeindruckende Tribüne zog sich an der Küste über 200 Meter entlang und beherbergte unzählig viele Menschen. Ein U-Boot fuhr durch den Hafen und Flugzeuge warfen Fallschirmspringer in das Szenario. Diese zeigten ukrainische,  vor allem aber auch russische Fahnen, die an ihren Füßen angebracht waren. Unser Sichtpunkt war eine dichtgedrängte, abschüssige Grasebene. Eine alte füllige Babuschka mit Kopftuch brüllte unverständliche Parolen und verteilte ein Propagandablatt. Auf der Titelseite waren zwei Karikaturen, die eindeutig eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine demagogisierten. Die erste Karikatur verglich das westliche Militärbündnis mit einer Hitlerfigur. Die zweite zeigte einen NATO-Soldaten, der in sehr aggressiver Art und Weise mit einem Messer bewaffnet einen russischen Jüngling mit patriotischer Fahne in der Hand angriff. Diese Zeitschrift war natürlich eine radikale Stimmungsmache, jedoch spiegelte es die Ablehnung der meisten Ukrainer gegen eine westliche Einbindung des Landes wider. Sewastopol bildet hierbei die Schnittstelle für die Konfliktlinien zwischen russischen und westlichen Interessen. Daher bleibt die Situation angespannt.

Europa oder Russland?

In den Medien und auch zur Wahl 2004 wurde die allgemeine politische und wirtschaftliche Teilung der Ukraine in Ost und West propagiert. Es ist richtig, dass sich der östliche Teil traditionell zum russischen Nachbarn hingezogen fühlt. Ebenso richtig ist, dass sich der Westen tendenziell europäisch orientiert. Die Wahlergebnisse sprechen hier deutlich dafür. Jedoch ist die Situation wesentlich komplexer: zum einen ist das von manchen Geographen definierte Mitteleuropa (Deutschland, Österreich, Schweiz, die Benelux Länder und Dänemark) noch nicht einmal so groß wie die Ukraine. Folglich ist dieses weit zersiedelte 44 Millionen-Volk nicht so leicht kategorisierbar. Zum anderen ist die Krim eine Art ukrainischer Mikrokosmos. Über 70 Prozent der Einwohner sind Russen. Die sonst in den Werbetafeln und in den Menschen verwurzelte ukrainische Sprache und Kultur findet sich auf der Schwarzmeerhalbinsel kaum wieder.
Nur ein paar Tage nach unserer Abreise ereignete sich eine größere gewalttätige Auseinandersetzung zwischen muslimischen Tataren und russischen Händlern auf einem Markt in Bachthisaraij. Dies zeigt, dass die ethnischen Konflikte keineswegs gelöst sind.
Am Tag unserer Ankunft in Deutschland wurde der pro-russische Wiktor Janukowitsch zum Ministerpräsidenten gewählt. Der immer noch amtierende pro-westliche Präsident Juschtschenko war nach langen Auseinandersetzungen dazu gezwungen, dies zu akzeptieren. 
Damit befindet sich das Land in einem politschen Patt, das in den nächsten Jahren eine deutliche Festlegung auf einen Weg, Europa oder Russland, verhindern wird.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Kultur- und Wissensaustausch auf der Krim und vor allem auch mit den russischen Studenten für uns Deutsche eine große Bereicherung war.
Die Kultur dieses jungen Nationalstaates ist eine einzigartige Mischung aus muslimischen, europäischen und russischen Einflüssen.
Ob die Ukraine nun zu Europa gehört oder nicht lässt sich nicht präzise feststellen. Einerseits sind die historischen Gemeinsamkeiten nicht negierbar. Andererseits wacht Russland immer noch wie ein großer Bruder über das Land (siehe Militärstandort Sewastopol). Wenn man aber berücksichtigt, dass die Türkei in die EU aufgenommen werden soll, dann darf man der Ukraine mittelfristig nicht die Tür vor der Nase zuschlagen. 
Die Ukraine hat auf jeden Fall noch einen weiten Weg vor sich, bis man wirtschaftlich und politisch zu Europa gehört. Trotzdem gibt es seit 2004 endlich freie Wahlen, was eine große Errungenschaft darstellt. Die Ukraine ist unterwegs, aber der Zug hat Verspätung.

Geschrieben von Christian Willy Bülow