Viele Studenten sehen wöchentlich diverse Arztserien, wo sich meistens alles nur im Krankenhaus abspielt. Doch wie arbeiten Menschen, die als erstes am Einsatzort sind und Patienten ins Krankenhaus bringen? moritz war hautnah dabei.

Es ist noch dunkel draußen, als mein Tag beginnt. Langsam schiebe ich mein Fahrrad über den Hof und schalte den Dynamo ein, bevor ich auf die Straße fahre. Mein Wecker ging um fünf Uhr früh los und zwang mich mein warmes Bett zu verlassen. Mein erster Gedanke: Letzte Woche bin ich um diese Uhrzeit erst nach Hause gekommen! Aber es nützt nichts. Mein Weg führt mich die Wolgaster Straße entlang. Sie ist menschenleer. Nur wenige Autos fahren an mir vorbei. Greifswald schläft noch.

Nachdem ich endlich die Greifswalder Feuerwehr gefunden habe, entdecke ich dahinter das weiße, zweistöckige Haus, an dem groß „HKS – Greifswalder Rettungsdienst“ geschrieben steht. Aus den Anfangsbuchstaben der drei Begründer Hohmuth, Klüber und Schwinge setzt sich die Abkürzung HKS zusammen. Ich schließe mein Fahrrad an und gehe auf das Haus zu. Vor der Krankenwagenzufahrt stehen schon ein paar Rettungssanitäter, einige sind gerade erst zu ihrer Schicht erschienen, die anderen berichten von ihrer letzten Nacht. Ich fühle mich leicht beobachtet, Besuch bekommt man hier wohl nicht oft durch die Vordertür. „Hallo, ich bin Luise vom moritz und ich suche Ronny Brösemann.“ „Einfach den Gang lang, dann durch die große Stahltür und nach Brösi fragen.“ Das geht ja gut los, Stahltüren und Wegbeschreibungen sind nicht meine Spezialgebiete.

Die Stahltür führt in die Garage, in welcher die Krankenwagen stehen und dort renne ich auch gleich zufällig Ronny, 34, in die Arme. Er führt mich herum und zeigt mir die ganze Wache, die aus einem Verwaltungsbereich, mehreren Aufenthaltsräumen und Umkleidekabinen besteht. Dann geht es in die Kleiderkammer, denn auch ich bekomme eine Uniform. Der Pullover ist etwas zu kurz, die Jacke viel zu groß und die Hose zu eng, aber der zuständige Wachleiter ist zufrieden. Ein einheitliches Aussehen ist wichtig, um eventuelle Verwechslungen zu vermeiden.

Ronny Brösemann, 34, Rettungsassistent beim Greifswalder HKS

Der HKS-Rettungsdienst beschäftigt im Moment ungefähr 150 Mitarbeiter, erzählt mir Ronny. „Aber in einem Krankenwagen fahren normalerweise nur zwei Rettungsassistenten mit.“ Nur heute sind wir zu dritt. Nach ein paar Tassen Kaffee geht auch schon das erste Mal der Pieper los. Einen letzten Schluck Kaffee, dann eile ich Ronny und Larsi, dem Fahrer, schnell hinterher. Mein Sitzplatz ist hinten im Behandlungsraum neben der Patientenliege. Ich bin ziemlich aufgeregt und schaue mich um. Das Garagentor geht auf und wir schießen los. Schon nach den ersten paar Minuten wird mir klar, dass dieser Sitzplatz nichts für schwache Nerven ist: Man sieht kaum, wohin man fährt und bei holprigen Straßen fängt es an zu knacken, wackeln und zu krachen.

Meine erste Frage: „Ist das hier hinten auch alles fest oder sollte ich besser irgendetwas festhalten?“ Doch die Geräte und deren Halterungen sind allesamt crashgeprobt und „hängen bombenfest an der Wand“, meint Ronny. Ein bisschen mulmig ist mir schon und fortan habe ich ein Auge auf das Beatmungsgerät, dass direkt vor mir und halb über meinen Knien hängt. Unser erster Einsatz führt uns raus aus Greifswald, ein älterer Herr hat sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen. Erst einmal rein in das Haus und schauen, wie die Lage ist. Als abzusehen ist, dass der Patient ins Krankenhaus muss, hole ich mit Larsi die Trage aus dem Krankenwagen. Es ist ein tolles Gefühl helfen zu können und man fühlt sich integriert.

Trotzdem halte ich mich zurück und schaue nur von der Wohnzimmertür aus zu. In diesen zwölf Stunden habe ich gelernt, wie unangenehm das Gefühl sein kann im Weg zu stehen. Immer fühlt man sich fehl am Platz. Es ist auch sehr befremdlich auf einmal in einem fremden Wohnzimmer zu stehen und einem Patienten im Schlafanzug bei der Untersuchung zuzusehen. Wir bringen den Herren in den Krankenwagen und seine Familie verabschiedet sich. Ronny bittet mich in den Wagen zu kommen, da ich jedoch vermute, dass er dem Patienten gerade einen zentralen Zugang legt, verzichte ich dankend – Spritzen kann ich nicht sehen, denn davon wird mir schwindelig und mein erster Arbeitstag soll ja nicht schon zu Ende sein, bevor er überhaupt angefangen hat.

Für die kleinen Patienten bastelt Ronny einen Tabaluga-Handschuh

Auf dem Rückweg denke ich schon sehnsüchtig an den nächsten Kaffee – so ganz wach bin ich noch nicht. Aber erstmal geht es in die Notaufnahme des Krankenhauses in der Sauerbruchstraße. Etwas unbeholfen stehe ich draußen auf dem Gang und warte auf Ronny und Larsi. Interessanterweise grüßen mich die Ärzte, wenn sie vorbeigehen. So eine Rettungsassistentenuniform macht schon eine Menge aus, denn bekanntermaßen machen Kleider Leute. Zurück auf der Rettungswache, führt mich mein erster Weg in den Aufenthaltsraum, in dem auch der Kaffee steht. Dieser ist zwar gerade leer, doch dafür hat sich mittlerweile der Gemeinschaftsraum gefüllt und ich sehe auch den Rest der Truppe – sieben Männer und zwei Frauen, alle zwischen 30 und 60 Jahren. Viele der Rettungssanitäter sind Quereinsteiger, zwei bis drei Ausbildungen vor dem Beruf als Rettungsassistent sind normal. Ronny berichtet mir, dass er schon seit der dritten Klasse im Rettungsdienst bei der Freien Deutschen Jugend gearbeitet habe. Seitdem habe er eigentlich nur als Rettungsassistent gearbeitet. „Es ist einfach mein Traumberuf.“

Der nächste Einsatz ist so banal wie alltäglich: ein Krankentransport. Eine ältere Dame wird aus dem Krankenhaus entlassen und nach Hause gebracht. Auch das ist kein seltener Einsatz und wird vom HKS übernommen. Auf dem Rückweg werden wir gleich zu einem Folgeeinsatz gerufen. Ein junges Mädchen hat sich am Unterkiefer verletzt. Als wir zum Unfallort kommen, staune ich nicht schlecht, als mir eine Kommilitonin entgegen kommt, die jedoch unerkannt bleiben möchte. Viel Zeit zum Reden haben wir nicht, aber im Krankenhaus frage ich sie dann doch, ob sie seit ihrem Besuch im „Geo-Keller“ und schon zu Hause war. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schüttelt sie den Kopf.

Als wir auf die Rettungswache kommen, ist das Mittagessen bereits fertig und man isst gemeinsam. Dabei schaue ich mir den Aufenthaltsraum genauer an. Die Rettungssanitäter verbringen hier fünf bis sechs Tage die Woche, zwölf Stunden am Tag und trotzdem sind die Wände ziemlich karg und nur der Fernseher in der Ecke scheint im Dauerbetrieb zu sein. „Uns ist schon klar, dass das komisch aussehen muss, wenn wir hier sitzen und Fernsehen gucken. Aber was sollen wir sonst zwischen den Einsätzen machen?“, sagt Ronny, „Letztendlich müssen wir jederzeit abrufbar sein und sofort nach Alarmierung die Fahrzeuge besetzen.“ Und so gucke ich eine Dokumentation auf Arte über den 11. September in Amerika und am Nachmittag Formel 1.

Aber auch Diskussionen über die bevorstehende Stichwahl auf Rügen und die vergangene Kreistagswahl in und um Greifswald sind Gesprächsthemen. Heute liegt Uta-Maria Kuder (CDU) den Rettungsassistenten nach eindeutig vorne. Zwischendurch werden immer wieder die vergangenen Schichten oder Einsätze besprochen, doch dabei verstehe ich nur äußerst selten etwas, denn mit den ganzen medizinischen Abkürzungen kenne ich mich trotz regelmäßiger Frequentierung diverser Ärzteserien im Fernsehen nicht aus. Plötzlich hört man entfernt Feuerwehrsirenen. „Na dann werden wir da bestimmt auch gleich hingerufen“, meint Ronny und alle blicken für einen Moment auf ihre Pager. Und wirklich, es dauert keine zwei Minuten, da bekommen wir einen Brand in der Innenstadt gemeldet. Wir laufen sofort los. Wieder öffnet sich das Tor und wir brausen auf die Straße. Mit Blaulicht über den Marktplatz zu fahren hat schon seinen Reiz, auch wenn wir – wie sich herausstellt – völlig umsonst dorthin gefahren sind, da weder jemand verletzt ist noch hat es stark gebrannt.

Und so fahren wir unverrichteter Dinge wieder auf die Wache. Kurze Zeit später werden wir erneut zu einem Brand gerufen, diesmal in Schönwalde. Dort sieht es um Einiges schlimmer aus. Dicker schwarzer Rauch steigt aus dem Fenster. Man sieht die Feuerwehrmänner oben auf das Fensterbrett klettern, es gibt einen lauten Knall und Teile des Fensterglases stürzen die Häuserwand hinab – um in die Wohnung zu kommen, haben die Feuerwehrmänner das Fenster eingeschlagen. Überall aus den Nebenhäusern gaffen die Menschen heraus, unten auf der Straße hat sich bereits eine Gruppe Schaulustiger versammelt und auf einem Balkon sehe ich eine Familie, die sich schon ihre Kaffeetasse und Kekse mit auf den Balkon genommen hat. Wie sich herausstellt, ist der Besitzer nicht in der Wohnung, nur vier vormals weiße Katzen müssen aus der Wohnung gerettet werden. Obwohl es für uns nicht direkt etwas zu tun gibt, warten wir auf den Wohnungsbesitzer um einen möglichen Schockzustand zu behandeln. Nachdem der Eigentümer der Wohnung mit quietschenden Reifen hinter unserem Rettungswagen zum Stehen kommt, gilt seine erste Nachfrage den Katzen. Als diese wohlbehalten in seinem Auto verstaut sind, fahren wir zurück. Den Rest des Nachmittags verbringen wir auf der Wache. Gegen 19 Uhr trete ich erschöpft und müde den Heimweg an.

Eine Woche später setze ich mich wieder auf meinen Drahtesel, aber diesmal ist es schon wieder dunkel und nicht immer noch. Es geht zum Krankenhaus für eine Nachtschicht mit dem Notarzt. Heute Nacht sind wir nur zu dritt: der Notarzt, Ronny und ich. Ich bin wieder ziemlich aufgeregt, denn ich weiß, heute sind zwei Studentclubs geöffnet und ein Festival beginnt, bei denen es Stress oder Ärger geben könnte. Doch Ronny nimmt mir den Wind aus den Segeln: „In der vorletzten Nacht hatte ich neun Einsätze und in der Nacht darauf sechs. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass eine dritte anstrengende Nacht darauf folgt.“ Es ist Ronnys dritte Nachtschicht hintereinander und dementsprechend nutzt er jede Gelegenheit, um sich „aufs Oh zu hauen“. Doch erstmal gibt es Kaffee.

Nach einer Stunde werden wir zum ersten Notfall gerufen: angedrohter Suizid. Als wir in der Wohnung ankommen, ist der Rettungswagen schon da. Da ich nicht weiß, was mich dort in diesem Zimmer erwartet, bleibe ich erstmal unschlüssig auf dem Flur stehen. Aber es scheint noch zu keiner lebensgefährlichen Handlung gekommen zu sein, also wage ich einen Blick. Zum Glück sitzt die Frau nur auf ihrer Couch und berichtet dem Notarzt von ihren Depressionen. Er redet beruhigend auf sie ein und überredet sie mit ihm in die Johanna-Odebrecht-Stiftung, die ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie in Greifswald betreibt, zu fahren. Zurück in der Notaufnahme gucken wir „Das Supertalent“ und andere Serien.

Erst nach drei Stunden werden wir zu unserem nächsten Einsatz gerufen, Ronny hatte wohl Recht. Es heißt, ein älterer Mann in einem Pflegeheim habe sich seinen Katheter herausgerissen und dadurch massiven Blutverlust erlitten. Das klingt ziemlich ernst. Wir haben es glücklicherweise nicht weit und sind schnell am Einsatzort. Die Nachtaufsicht läuft ziemlich aufgeschreckt durch den Raum. Doch die Situation ist weder gefährlich noch brenzlig. Leider seien viele aus dem Pflegepersonal nur Altenpfleger oder Ähnliches und eben nicht dazu berechtigt beispielsweise einen zentralen Venenkatheter zu legen, berichtet der Notarzt. Es ist fast halb zwei, als wir zurück zum Krankenhaus kommen.

Das Krankenhaus ist wie ausgestorben und meine quietschenden Sohlen klingen seltsam auf dem Linoleum. Eine letzte Zigarette rauchen wir draußen vor der Tür. Mittlerweile ist es so kalt geworden, dass ich den Unterschied zwischen dem Zigarettenrauch und meinem Atem nicht mehr erkennen kann. Ob heute noch ein Einsatz reinkommt? Ronny vermutet es nicht und legt sich deshalb schlafen. Auch ich könnte eine Mütze voll Schlaf gebrauchen, doch habe ich Angst nicht wach zu werden. Es mir auf der Couch etwas bequemer zu machen und meine schweren Schuhe auszuziehen, kommt im Moment für mich auch noch nicht in Frage. Was ist, wenn ich nicht schnell genug die Schnürsenkel gebunden bekomme? Moment, war das nicht das Piepen von Ronnys Pager? Ein paar Mal schrecke ich hoch und habe schon fast beide Schuhe zugebunden, bis ich bemerke, dass nur jemand auf die Toilette gegangen ist.

Und so verbringe ich eine ziemlich unruhige Nacht auf dem Sofa und spitze ganz genau die Ohren, wenn sich auch nur ein Baum draußen bewegt. Wie Ronny vorhergesagt hat, bleibt es die restliche Nacht ruhig. „Es war eine gute Nacht“, sagt Ronny am nächsten Morgen, als wir draußen eine letzte gemeinsame Zigarette rauchen, bevor sich unsere Wege trennen. Ich bin da geteilter Meinung, weil ich etwas erleben wollte. Aber natürlich weiß ich, dass es immer besser ist, wenn es ruhig bleibt. Denn das bedeutet, dass es die ganze Nacht über keine Messerstechereien, Prügeleien oder andere Gewalttaten gab, die mittlerweile leider fast an der Tagesordnung sind. Ich hole mein Fahrrad, radle nach Hause und sehe langsam die Sonne über Greifswalds Dächern aufgehen.

Eine Reportage von Luise Röpke mit Fotos von Luise Röpke und Ronald Schmidt