Digitales Theater: Bist du fake oder T.R.U.E.?

Digitales Theater: Bist du fake oder T.R.U.E.?

Am 20.05. feierte der zweite Teil der digitalen Theaterreihe “Customerzombiefication” seine Premiere. Wie schon der erste Teil beschäftigt sich auch “DATA-Land” mit den großen Fragen unserer Zeit. Im Fokus stehen besonders die Selbstoptimierung und die Rolle der Menschen im Ökosystem unserer Erde. Dennoch hat sich gegenüber dem Vorgängerstück “Mein fremder Wille” einiges geändert.

T.R.U.E. ist für uns alle Neuland

Das Wichtigste zuerst: Der zweite Teil der Trilogie knüpft in der Geschichte nicht an den ersten an. Alle interessierten Nachzügler*innen können also problemlos mit einsteigen. In der futuristischen Welt des Stückes hat sich das Startup “T.R.U.E.” aus Berlin-Kreuzberg als Anbieter für körperloses Leben in der digitalen Welt bereits einen Namen gemacht. Nun sollen auf einer Kennenlern-Veranstaltung neue Kund*innen für das wunderbare, vollkommen virtuelle Leben akquiriert werden. Für dieses exklusive Produkt kommen allerdings selbstverständlich auch nur die erlesensten Personen infrage. Daher müssen alle Interessierten zunächst ein Coaching absolvieren und in einer Reihe von Prüfungen ihre “Human Essence Units” (H.E.U.) verbessern, bevor sie einen Blick auf T.R.U.E. werfen und vielleicht sogar die Erfinderin der scheinbar perfekten Welt selbst treffen können.

Vorsprung für Technik

Zeile 1 der Anweisungen auf dem (natürlich) digitalen Theaterticket lautet: “Bitte bereiten Sie sich circa 15 Minuten vor Beginn des Streamings vor”. Das gilt auch für alle Veteran*innen des digitalen Theaters, die in “Customerzombiefication Teil 1/Mein fremder Wille” die ersten Schritte dieses Projektes mitgegangen sind und wie ich die TotoGo-App aus Platzgründen danach wieder deinstalliert haben. Außerdem gab es da ja auch noch ein Passwort… das man aber zum Glück auch zurücksetzen kann. Die Zeit zur Vorbereitung sollte also in jedem Fall eingeplant werden, da neben der App auch der Stream gestartet werden muss. Der ist übrigens nach Teil 1 von YouTube auf Twitch umgezogen. Der Countdown im Stream tickt herunter, während auf anderen Channels Fortnite gespielt oder gechattet wird. Aber keine Zeit, um bis zum Vorstellungsbeginn nochmal kurz umzuschalten, denn die T.R.U.E.-Gründerin hat eine Videobotschaft in die App hochgeladen. Sie möchte, dass ich meinen H.E.U.-Basiswert bestimme. 51,3% – alles klar.

20:01 Uhr – die Frisur sitzt, das Mikro noch nicht ganz

Als der Countdown auf 00:00 springt, passiert… nichts. Technische Probleme? Haaaallloooo?? Geht die App zu, wenn ich nochmal kurz auf Insta gucke? Spoiler: Nein, tut sie nicht. Aber kaum habe ich das Sofa verlassen, um mir noch etwas zu trinken zu holen, erscheinen die beiden Coaches auf meinem Bildschirm. Erwischt! Auch wenn sie mich nicht sehen können, will ich trotzdem einen guten ersten Eindruck hinterlassen, um mir optimale Chancen auf einen Platz in T.R.U.E. zu sichern. Stimmungsvoll ist es also schon mal. In einem längeren Dialog stellen die Coaches Ella und Inga nun das Abendprogramm vor. Gemeinsam möchten Sie mit uns an der Verbesserung unserer H.E.U.-Werte arbeiten, denn ein guter Wert ist Voraussetzung für den Upload. Schon jetzt ist klar, dass der Abend arbeitsintensiv wird und tatsächlich sind es am Ende des Stücks etwa 30 Eingaben, die wir geleistet haben werden. Inklusive Photoshooting und Gesangseinlage. Und auch so manche (zum Beispiel meine) Internetverbindung wird bei der schnellen Abfolge an Videos wohl zwischendurch mal etwas in die Knie gehen (danke, Vodafone). Aber was tut man nicht alles für einen Platz im digitalen Paradies…

Fragen über Fragen

Anders als noch im ersten Teil der Trilogie geht es in “DATA-Land” nicht darum, Entscheidungen zur Fortsetzung einer Geschichte demokratisch zu treffen, sondern durch die individuelle Beantwortung von Fragen einen möglichst guten Platz in der Rangliste für den Upload zu erkämpfen. Dabei geht es um alles, was uns als Menschen ausmacht, die besten Eigenschaften, die schlechtesten, geheime Wünsche und vieles mehr. Den eigenen H.E.U.-Score können die Zuschauer*innen/Kontrahent*innen jederzeit in der App nachlesen, die Werte der anderen werden immer wieder in Zwischensequenzen eingeblendet. So intensiviert sich nach und nach ein Konkurrenzkampf um die besten Plätze. Recht schnell wird zwar deutlich, dass gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten mehr Punkte einbringt. Aber bin das wirklich ich? Und ist das tatsächlich besser, um sich die besten Chancen für den Upload zu sichern? Schließlich gilt ja immer noch: “Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommst du ohne ihr…”

Ein Abend wie ein Horoskop

“DATA-Land” ist sehr anders als ich es nach dem ersten Teil der Trilogie erwartet hatte. Durch die große Anzahl an, auch durchaus intimen, Fragen und Informationen, fühlt es sich an manchen Stellen eher wie eine Therapiesitzung als wie ein Theaterbesuch an. Fans des klassischen Geschichten-Erzählens werden daher vermutlich eher enttäuscht sein, denn das Stück ist durch den Fokus auf die Persönlichkeiten seiner Zuschauer*innen recht statisch. Auch wenn die Coaches nach und nach einige Hintergründe der Entwicklung des Uploads und ihrer eigenen Funktion im futuristischen Universum preisgeben, passiert auf dem Bildschirm nicht besonders viel. An manchen Stellen wirken außerdem Details noch ein wenig unausgereift, beispielsweise gibt es ein Credit-System, für das Zuschauer*innen Eigenschaften kaufen können, was aber auch bei negativem Credit-Score noch ohne Konsequenzen möglich ist. Trotz solcher Kleinigkeiten ist das Stück gerade durch das hohe Maß an Interaktion sehr kurzweilig und schöpft die Möglichkeiten der App gut aus. Wie schon im ersten Teil geht es um Fragen, die uns als Menschheit insgesamt, aber vor allem auch individuell immer mehr beschäftigen: Wie möchten wir leben und wie lässt sich das mit den Kapazitäten unserer Gesellschaft und unseres Planeten in Einklang bringen? Ist die Aufgabe des realen Lebens und der Transfer in eine digitale Parallelwelt die ultima ratio? Das Stück dürfte besonders interessant für die immer größer werdende Gruppe der selbstoptimierenden Yogis und Küchentischpsycholog*innen sein. Aber Vorsicht, ein bisschen fühlt sich der Ausblick wie ein Horoskop an: Egal zu welcher Gruppe ihr am Ende gehört, irgendwie sind die Vorhersagen doch immer die gleichen.

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Unterhaltungsfaktor

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Innovationsfaktor

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(Angst)Schweißfaktor

Das Wichtigste auf einen Blick:
Wann? (Fast) täglich bis zum 30.05.
Wo? Digital über Twitch und die TotoGo-App
Anmeldung? Über die Webseite des Borgtheaters

Titelbild: Igor Ovsyannykov auf Pixabay
Video: Borgtheater

“Customerzombiefication 1/Mein fremder Wille” – Erste Schritte auf den Motherboards, die die Welt bedeuten!

“Customerzombiefication 1/Mein fremder Wille” – Erste Schritte auf den Motherboards, die die Welt bedeuten!

Am 19.01. feierte mit “Customerzombiefication 1/Mein fremder Wille” das erste digitale Stück des Theater Vorpommern seine Premiere. Damit passt das Theater seinen Spielplan, in Zusammenarbeit mit dem “BORGTHEATER – cyborg performing theatre”, an den andauernden harten Lockdown an und ermöglicht Theaterbegeisterten die Teilnahme an Aufführungen von zu Hause aus. Und Teilnahme ist tatsächlich auch die richtige Formulierung, denn genau genommen handelt es sich nicht um ein klassisches Theaterstück, sondern um ein Programm, das die aktive Beteiligung der Zuschauer*innen erfordert. Die Verantwortlichen haben diesem Konzept den Titel “Digitales Game-Theater” gegeben. Also nichts wie hineingestürzt ins neue, digitale Theater-Erlebnis!

Worum geht es in dem Stück?

Im gar nicht mehr allzu fernen Jahr 2030 landen wir ohne Vorwarnung genau in der Welt der Influencerin Alice (Christiane Waak), die sich auf der Suche nach den Daten ihrer Zwillingsschwester in den Kern des offenbar allumfassenden “DATA-Systems” begeben hat. Alices Ziel ist es, die Daten ihrer Schwester, die durch einen Fehler im gesellschaftlichen Belohnungssystem auf den niedrigsten Rang eines “Customerzombie” eingestuft wurde, zu löschen, um diesen Irrtum rückgängig zu machen.

Screenshot aus “Customerzombiefication 1/Mein fremder Wille”

Wie kann ich an “Customerzombiefication1/Mein fremder Wille” teilnehmen?

Vor allem müsst ihr schnell sein, denn das Stück ist zum einen mit etwa 25 Plätzen pro Vorstellung streng limitiert und außerdem heiß begehrt. Bereits jetzt (Stand 26.01.) ist es bis zum 04.03. ausverkauft. Für die Veranstaltungen im März gibt es aber noch Restkarten! Bevor ihr euch Tickets besorgt, solltet ihr sichergehen, dass ihr über die technischen Voraussetzungen verfügt, um am Stück teilnehmen zu können, allerdings sind diese in Zeiten der digitalen Lehre inzwischen eigentlich Standard. Ihr braucht: so viele Smartphones (iOS oder Android) wie Personen, die (aktiv) teilnehmen wollen und zusätzlich noch ein Gerät mit großem Display (im besten Fall ein Fernseher oder sogar ein Beamer), auf dem ihr den Livestream verfolgen könnt. Und eine stabile Internetverbindung für alle Geräte! Mit dem Kauf der Tickets erhaltet ihr jeweils zwei Zugangscodes. Der eine ist der Link zum Livestream des Stückes auf YouTube. Mit dem anderen (ein QR-Code) erhaltet ihr über die App “TotoGo” die Möglichkeit, euch am Stück zu beteiligen. Aber Vorsicht: Wenn der QR-Code einmal eingelöst wurde, könnt ihr euch auch kein zweites Mal damit einloggen! Deshalb solltet ihr ihn wirklich erst kurz vor Beginn der Vorstellung aktivieren.

Theater vom Sofa aus, daran kann man sich durchaus gewöhnen!

Ganz ehrlich: Wer hat nicht heimlich immer schon davon geträumt, mit Jogginghose ins Theater zu gehen und während der Vorstellung hemmungslos Snacks in sich hineinzuschaufeln? Und das ganz ohne die verachtungsvollen Blicke der anderen Zuschauer*innen, für die wir “zu laut kauen” und “schlimmer als die Assis mit den Bluetooth-Boxen” sind.
Ich habe oft das Gefühl, dass Menschen eher für das “Sehen und Gesehenwerden” ins Theater gehen als für das Stück selbst. Und das ist schade, denn genau dafür gibt es doch die Bib, in der man sich über jede Ablenkung freut und die man ja ehrlicherweise auch und vor allem für die Gesellschaft der Freund*innen besucht und natürlich, um die süße Sitznachbarin wiederzusehen, die man irgendwann bestimmt mal ansprechen wird (garantiert!). Das ist im Theater anders, dort möchte man sich ja wirklich auf das Stück konzentrieren und nicht von banalem Smalltalk abgelenkt werden. Insofern ist das digitale Theater eine Chance für all diejenigen, die sich tatsächlich für die Aufführung selbst interessieren. Durch die neuen Instrumente der digitalen (Schau-)Spielwelt erleben wir quasi Theater in Reinform.

“Du solltest doch gerade noch gar nicht in den Chat schreiben!”

Leider aber noch nicht ganz so rein, wie erhofft. Die interaktive Steuerung, die dem Stück eigentlich den besonderen Reiz geben soll, wirkt über weite Strecken noch ein wenig unbeholfen, vergleichbar mit den ersten Adventure-Computerspielen auf Textbasis. Dass man extra eine App herunterladen muss, ist aus organisatorischer Sicht zwar verständlich, aber dennoch eigentlich eine unnötige technische Hürde, denn alle Funktionen hätten sich auch über eine klassische Internetseite im Browser implementieren lassen. Zudem ist es anfangs gar nicht so einfach, in die Steuerung hineinzufinden. Tücken birgt insbesondere der Chat, der sich nach einer Nachricht automatisch bis zur nächsten Szene sperrt (also Obacht, wann und was ihr schreiben wollt!). Außerdem muss man im Verlauf des Stückes aufpassen, um nicht den Anschluss zu verlieren, weil sich die App nicht automatisch auf den neuesten Stand der Geschichte aktualisiert. “Digitales Game-Theater & Chill” ist also leider absolut keine Option, wenn man nichts verpassen möchte.

Schnell sein, sonst bringt es nichts mehr, auf den Knopf zu drücken! – via GIPHY

Was macht einen Menschen in einer digitalisierten Gesellschaft aus?

Das wäre allerdings sehr schade, denn “Customerzombiefication1/Mein fremder Wille” erzählt eine spannende Geschichte mit hoher gesellschaftlicher und aktueller Relevanz. Aufgrund der Entscheidungsmöglichkeiten ist die Erzählung modular aufgebaut, dadurch fehlt ihr aber leider ein wenig der rote Faden. Das merkt man umso mehr, weil eben die Ablenkung fehlt, die zum Beispiel furchtbare Outfits anderer Zuschauer*innen in Präsenz erzeugen könnten. Gemeinsam müssen wir während unserer “Mission Datenlöschung” immer wieder reflektieren, was unsere persönlichen Daten für uns und die Gesellschaft eigentlich bedeuten. Wollen wir die Daten wirklich löschen? Und was passiert überhaupt, wenn sie plötzlich nicht mehr da sind? Das Spiel wird so auch zum demokratischen Spiegelbild des Umgangs mit unseren eigenen Daten und der Rolle einer einzelnen Person in der digitalen Gesellschaft. Und wer weiß, vielleicht führt es am Ende, je nachdem wie wir uns gemeinsam entscheiden, sogar zu Erkenntnissen, die einen Einfluss auf unser echtes Leben haben könnten. Wir haben es selbst in der Hand.

Basisdemokratie im kleinen Rahmen

Der interaktive und demokratische Aspekt der Vorführung ist ausgesprochen spannend und das Stück lässt ab und an mal aufblitzen, was in so einer digitalen und interaktiven Vorführung alles möglich sein könnte, wenn sowohl das Theater als auch das Publikum mit dem Konzept schon besser vertraut wären und den Mut entwickeln würden, auch mal verrückte Entscheidungen zu treffen, um dem Stück noch mehr Würze und Individualität zu verleihen. Schön wäre es, wenn das Publikum zusätzliche kreative Entscheidungsfreiheit erhalten und die Charaktere und die Spielumgebung im Stück so auch stärker miteinander interagieren würden, als es bisher der Fall war. Das Stück leidet aktuell trotz der Interaktivität noch ein wenig an Eindimensionalität. Das wird sich vermutlich aber mit den Erfahrungen aus dieser Spielzeit in der Zukunft weiter entwickeln und man kann sehr gespannt darauf sein, wohin die Reise geht!

Noch etwas mehr kreative Optionen im Spiel wären wünschenswert! – via GIPHY

Etwas Neues wagen und Innovationen unterstützen! Auf jeden Fall angucken!

Trotz der Anlaufschwierigkeiten ist das Grundkonzept der Aufführung jedoch auch jetzt schon ausgesprochen liebevoll gestaltet und garantiert einen schönen Theaterabend mit Potential für anschließende couchpsychologische Diskussionen! Das ist gerade in Anbetracht der geringen Vorlaufzeit wirklich bewundernswert und weckt große Erwartungen für künftige Stücke im “digitalen Game-Theater”. Spannend ist sicher auch, dass Theater auf diesem digitalen Wege leichter “konsumierbar” wird, was Liebhaber*innen der alten Schule vielleicht mit einem weinenden Auge sehen werden, aber natürlich auch viele Möglichkeiten bietet, gerade wenn es darum geht, neue und insbesondere jüngere Zielgruppen zu erschließen. Dazu tragen auch die mit etwa einer Stunde relativ kurze Spieldauer und der mit 3 Euro wirklich ausgesprochen günstige Preis bei, sowie die Tatsache, dass man keine Angst davor haben muss, im maroden Theater von der einstürzenden Decke erschlagen zu werden.

Mein Premieren-Fazit lässt sich also wohl am elegantesten mit den Worten einer sehr liebevollen, aber etwas überforderten 23-jährigen Mutter in einem Satz zusammenfassen:

“Was für ein Theater mit den Kinderkrankheiten!”
Und das meine ich sehr positiv und bin gespannt auf die Stücke, die noch kommen werden!

Weitere Informationen zum Stück, sowie die Möglichkeit Tickets zu kaufen, findet ihr auf der Internetseite des Theaters Vorpommern. Eine Teilnahme an der Aufführung ist quasi von überall aus möglich (mit Ausnahme von Ländern, in denen YouTube gesperrt ist).

Titelbild: Capri23auto und WikimediaImages auf pixabay.com

Optisch ein Hochgenuss

Optisch ein Hochgenuss

Antigone eine Theaterrezension, geschrieben von einer Amateurzuschauerin, zur Information von Interessierten und Entrüstung von Theaterliebhaber*innen.

„Wär’ ich doch nie auf Eure Schulen gegangen“ – das Resümee von Haimon, Sohn des Tyrannen und Verlobter Antigones in der Inszenierung von Sophokles Klassiker am Vorpommern Theater, wirkt eher wie eine Feststellung. Zuvor ist er mit seinen goldenen Schuhen über das Bühnenbild gefegt und hat verzweifelt versucht, das Schicksal seiner Verlobten abzuwenden. Symptomatisch für alle Männer des Stücks. Empörung, Wut, Verzweiflung und Resignation.

Das Stück „Antigone“ selbst ist über 2000 Jahre alt und vermutlich den meisten Menschen mit einer humanistischen Bildung mindestens vom Hörensagen bekannt. Der Plot, für alle anderen, ist folgender: Antigone, Tochter des berüchtigten mutteraffinen Ödipus, widersetzt sich der Anweisung von Kreon, Herrscher über die Stadt, ihren Bruder zu beerdigen. Der hat im Vorfeld Krieg gegen Kreon geführt und verloren. Als Strafe für ihren Ungehorsam erwartet Antigone nun das Todesurteil. Das Stück ist eine griechische Tragödie, die Hauptfiguren alle miteinander verbandelt – eigentlich braucht man keine Spoiler, um zu wissen, was passieren wird. Es ist also möglich, die Inszenierung unter ganz anderen Gesichtspunkten zu sehen. Sprache, Darstellung, Ausstattung.

Die Sprache, zur Einordnung, ist mehrheitlich aus einer Übersetzung Sophokles aus dem Altgriechischen von 1917 durch Walter Hasenclever. Leichte Unterhaltung wird durch die Sprache von vorneherein ausgeschlossen. Kann man mögen. Muss man aber nicht. In ihrer Inszenierung erweitert Annett Kruschke das Thema des zivilen Ungehorsams um die Genderdimension. „Du bist ein Weib. Gehorche!“ – mit diesem charmanten Einwand wird den Frauen der Stadt nahegelegt, sich der Herrschaft Kreons und der der Männer im Allgemeinen zu unterwerfen. In dem Szenario wird Antigones öffentlicher Gesetzesbruch zu Aktivismus gegen den patriarchalen Status quo. Auch den Männerchor des Stücks hat Kruschke überwiegend mit Frauen besetzt. Bühnenbild und Ausstattung sind aufwendig symbolisch und vereinen stilistisch gleich mehrere Jahrzehnte. Im Camouflage-Anzug Kreons spiegelt sich sein militaristisch-autoritäres Wesen, dessen Prunksucht durch die Accessoires goldener Borten, Schuhe und Krone kombiniert wird. Die Schwestern Ismene und Antigone wirken durch ihre Kostüme wie die symbolische Emanzipation von den 1960er Jahren in die 70er Jahre. Während Ismene zwar äußerlich das Minikleid rockt und empört über die Demütigung ihres gefallenen Bruders ist, sich aber lieber in die Gesellschaft einfügt, wirkt Antigones (Schlag-)Hosenanzug deutlich abgeklärter und kampfbereiter. Überhaupt überstrahlt Feline Zimmermann als Antigone die meisten ihrer Mitspielenden mühelos. Die Antigone Kruschkes und Zimmermanns ist mehr als nur eine Symbolfigur. Diese Antigone hadert mit ihrem selbstgewählten Schicksal und mit dem Bild, dass das Patriarchat von ihr hat.

Ismene bei ihren Geschwistern Antigone und Polyneikes in der Gruft.

Die Inszenierung ist keine leichte Kost, keine wirkliche neue Geschichte, aber wer einen optischen Hochgenuss mit vorsichtiger Neuinterpretation und großartiger Leistung der Hauptdarstellerin sehen will, sollte sich „Antigone“ noch am 12. und am 21. Mai in Greifswald und am 16. Mai in Stralsund ansehen.

Fotos: Vincent Leifer, Theater Vorpommern