Adventskalender Fensterchen No. 1: L’Avent en vogue

Adventskalender Fensterchen No. 1: L’Avent en vogue

Weihnachtszeit ist Vorfreude und Geheimnistuerei, Nächstenliebe und Besinnung. Sie duftet nach heißem Glühwein, frisch gebackenen Keksen und mühsam gepellten Mandarinen. Der Dezember lebt von kleinen Aufmerksamkeiten und Traditionen, wie den Adventssonntagen mit der Familie, dem mit Süßigkeiten gefüllten Schuh am Nikolausmorgen und dem täglichen Öffnen des Adventskalenders. Weißt du noch, wie du jeden Tag vor Weihnachten aufgeregt aufgestanden bist, um vorfreudig zu deinem Schokoadventskalender zu tappen? Die moritz.medien verstecken das Weihnachtsgefühl hinter 24 Fenstern. Im heutigen Fenster: L’Avent en vogue.

Was ist der größte Nachteil fehlender Präsenzveranstaltungen?
Schlechtere Verständlichkeit der Lehrinhalte durch digitale Formate? Okay, Boomer…
Keine Mensagespräche mehr nach den Vorlesungen? Jap, das ist etwas, das uns allen fehlt.
Aber die wirklich größte Herausforderung in der aktuellen Situation, der bekanntermaßen härtesten Vorweihnachtszeit, die Nachkriegsgenerationen in Deutschland je erlebt haben, besteht darin, dass es viel schwerer als jemals zuvor werden wird, eure sweeten Weihnachtsoutfits auf dem Campus zu präsentieren! Zum Beginn des diesjährigen Adventskalenders möchten wir euch deshalb dabei unterstützen, trotzdem stilsicher in die Weihnachtszeit des digitalen Semesters zu starten. Es folgt dein perfekter Weihnachts-Look in 4 einfachen Schritten:

Das könntest du sein.

Schritt 1: Wer hat hier die Hosen an!?
Das Erfolgsrezept für dein perfektes Weihnachtsoutfit auf dem digitalen Campus ist identisch mit dem für einen guten Hintergrund für Videokonferenzen. Alles, was nicht im Bild ist, ist vollkommen irrelevant. Deine Wohnung kann noch so unordentlich sein, solange du den Aufnahmebereich deiner Kamera in Ordnung hältst, wird niemand erfahren, was für ein Messie du bist. Alles, was kleidungstechnisch unterhalb deines Schreibtisches passiert, kannst du also frei nach Gemütlichkeit auswählen. Weihnachtssocken sind cool, aber leider dieses Jahr nicht en vogue/Jitsi/BBB/Zoom, also tun es im Zweifel auch normale Socken oder barfuß mit ungeschnittenen Zehennägeln. Eine Hose ist auch mehr so ein “Kann” und kein wirkliches “Must-Have” im Winter 2020. Ein ganz heißer Geheimtipp ist dennoch diese Unterhose, weil sie “Jingle Bells” spielt, wenn man auf den roten Knopf drückt. Damit kann man jedes Seminar bereichern!

Jingle all the way.

Schritt 2: Bunt, bunter, dein Outfit!
In einem Online-Seminar sind die Bildausschnitte der einzelnen Teilnehmer*innen bekanntermaßen nicht besonders groß. Deshalb solltest du die Blicke mit grellen Farben auf dich ziehen, um im Vollbild betrachtungswürdig zu werden. Dein Lieblings-Weihnachtspulli ist grau mit einem kunstvoll gestickten Rentier darauf? Dieses Jahr bleibt dieser Pulli im Schrank! Die Trendfarben des digitalen Weihnachten 2020 sind: Knallrot, Pink, Orange und alle Farben, die das Wort “Neon” im Namen tragen! Mein persönlicher Favorit: Hawaiinachtshemden. Ja, du hast richtig gelesen, Hawaiihemden mit Weihnachtsmotiven. Auf meinem surft Santa mit mir gemeinsam durch die digitalen Lehrveranstaltungen!

Schritt 3: Gut behütet durch die Adventszeit!
Du hast ein Allerweltsgesicht? Dann ist eine weihnachtliche Kopfbedeckung genau das Richtige für dich! Zur Auswahl stehen: Weihnachtsmann- und Elfmützen, sowie Rentiergeweihe. Nach Belieben können diese Kopfbedeckungen um Haarspangen im Zuckerstangen-Look oder um rote Rudolph-Nasen ergänzt werden. So wird nie jemand erfahren, ob sich in deiner Tasse Tee oder Glühwein befindet (außer du fängst an zu lallen).

Schritt 4: Rücke dein Outfit ins richtige Licht!
Im Halbdunkel um halb 9 im lila Licht deines Displays vor der Webcam zu hängen ist viel zu Mainstream! Steh zu deinem Outfit und gönne ihm die volle Aufmerksamkeit, am besten mithilfe einer Lichterkette über deinen Schultern! Hat den positiven Nebeneffekt, dass man während der Lehrveranstaltungen auch endlich mal was Sinnvolles zu tun hat, die Dinger verheddern sich wirklich verdammt schnell…

Wenn ihr diese 4 einfachen Tipps beherzigt, kommt ihr garantiert gut durch die vorweihnachtliche digitale Uni-Zeit!
Schickt gerne auch ein Bild von euch im Weihnachtsoutfit vor der Webcam an unseren Instagram-Account @moritz.medien!

Don’t wait for the christmas spirit, be the christmas spirit!

Titelbild: Julia Schlichtkrull
Beitragsbilder:
„Distracted Boyfriend Meme“ – Template von Antonio Guillem auf Shutterstock
Weihnachtsmannmütze und Tannenbaum im Meme von Pezibear, bzw. Alexandra Koch auf Pixabay
Weitere Beitragsbilder: Philipp Schweikhard

Montagsdemo: Transatlanticism Teil 2

Montagsdemo: Transatlanticism Teil 2

Keine Sorge, das hier ist keine Politik-Reihe, im Gegenteil. Aber in der aktuellen Situation, in der das Demonstrationsrecht leider vielerorts missbraucht wird, um Unwahrheiten und Hass zu verbreiten, ist es an der Zeit, dem Wort „Demo“ wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Und zwar mit guter Musik.

Demos sind so viel mehr als Infektionshotspots oder Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker*innen. Eigentlich sind sie ursprünglich eine Möglichkeit zur Präsentation und zur Teilhabe am Entwicklungsprozess neuer Ideen. Und genau deshalb ist es so passend, dass der Begriff „Demo“ im Englischen auch einen zentralen Platz in der Musikproduktion gefunden hat. „Demo Tapes“ waren die Tonbandaufnahmen, auf denen Künstler*innen ihre Ideen für neue Songs festhielten, um sie an Plattenfirmen zu schicken. Die Labels mussten dann entscheiden, ob sie den Song im Studio produzieren lassen wollten oder nicht. Das klingt erstmal trivial, bedeutet aber, dass von diesen Tapes abhing, ob ein Song den Weg vom Konzept zur fertigen Aufnahme im Laden beschreiten konnte. Ganze Karrieren hingen so statt am seidenen Faden am schwarzen Tonband und wer weiß, wie Popmusik heute klingen würde, wenn sich einflussreiche Labels damals anders entschieden hätten. Die Tonbänder sind inzwischen natürlich längst von der Bildfläche verschwunden, aber das Grundprinzip hat sich gehalten: Demoaufnahmen sind weiterhin ein wesentlicher Bestandteil im Entstehungsprozess vieler Songs und es lohnt sich, sie genauer unter die Lupe zu nehmen! Oft ermöglichen sie einen tieferen Einblick in die Ideen und Emotionen, die die Künstler*innen beim Schreiben eines Songs ursprünglich vermitteln wollten und sie bieten eine schöne Gelegenheit, Lieblingslieder und -alben noch einmal intensiver und mit erfahreneren Ohren kennenzulernen und so vielleicht eine alte Liebe neu zu entfachen.

Hier könnt ihr euch das komplette Album inklusive der Demos direkt über Spotify anhören.

Nachdem wir vor 14 Tagen mit Teil 1 des Reviews der „Transatlanticism“-Demos der amerikanischen Indie-Band Death Cab for Cutie unsere neue Musik-Reihe eingeläutet haben, folgt heute Teil 2. Viel Spaß beim Lesen und Hören!

Nach dem in „Tiny Vessels“ besungenen Ende einer Beziehung nehmen wir uns in „Transatlanticism“, dem Titelsong des Albums, Zeit zum Nachdenken. Mit gut 6 Minuten in der Demoversion und fast 8 Minuten in der Studioversion bietet der Song, zu dem Sänger Ben Gibbard am Flughafen inspiriert wurde, eine angemessene Bühne für das klassische Drama eines Studiums in Greifswald: Fernbeziehungen. So schön die Lage an der Ostsee auch sein mag, für Beziehungen kann sie fatal werden, wenn sich, wie in der aktuellen Situation, die Distanz zum wichtigsten Menschen wie der Weg über den Atlantik anfühlt – unüberwindbar. Der Text ist kurz gehalten, hat es aber sprachlich umso mehr in sich, besonders der Abschnitt: „The rhythm of my footsteps, crossing flatlands to your door, have been silenced forevermore and the distance is quite simply much too far for me to row. It seems farther than ever before.“ Unterstützt wird dieses Gefühl der Machtlosigkeit musikalisch durch eine sehr schlichte Begleitung. In der Demo bildet ein simpler, elektronischer Drumbeat die Grundlage, über der ein Synthesizer und eine Klavierspur laufen. Der Synthesizer-Sound schwirrt in den Kopfhörern hin und her und bildet so den Eindruck eines unüberwindbaren akustischen Schleiers und erinnert gleichzeitig an das Tuten eines besetzten Telefons. Der Song baut sich musikalisch nach und nach immer weiter auf, mehr und mehr Instrumente stoßen wie tröstende Freund*innen hinzu. Nichtsdestotrotz überwiegt die sprachliche und emotionale Quintessenz des Liedes, die unter den aktuellen Umständen inzwischen wohl auch alle von euch, die das Glück hatten, nie eine Fernbeziehung zu führen, schmerzlich nachempfinden können und die wie ein Mantra wiederholt wird – „I need you so much closer.“ In der Demo endet der Song hier nach 6 düsteren Minuten. Nicht so die Studioversion, hier wurde eine alles entscheidende, hoffnungsvolle Zeile ergänzt „So come on, come on!“, quasi das Gegenmantra und ein Hoffnungsschimmer, den wir vermutlich alle gerade gut gebrauchen können.

Den achten Song des Albums, „Passenger Seat“, habe ich ehrlich gesagt früher immer übersprungen, bevor ich mich näher und im Kontext mit ihm beschäftigt habe. Meine erste Notiz für dieses Review dazu war „Passt nicht so richtig ins Album hinein.“ Ich vermute das liegt auch daran, dass dieses Lied instrumental von meinen sonstigen Hörgewohnheiten ziemlich abweicht, es passt aber auch nach längerem Überlegen tatsächlich nicht so richtig ins Album. Ein nacktes Klavier und Gesang, das war’s. In der Demo ebenso wie in der Studioversion. Dafür passt die Vertonung des Textes aber umso besser zum Inhalt, denn es geht um eine ruhige, intime Situation, die in eleganter Weise auch wieder schön an das Ende der finalen Version von „Transatlanticism“ anschließt: Eine zweisame Autofahrt nach Hause. Vielleicht das versöhnliche Ende der Fernbeziehung, eine Wiedervereinigung? Beim Anblick der Sternschnuppen und Satelliten am Himmel stellt der Protagonist die Frage „‚Do they collide?‘, I ask and you smile.“ Fliegt man aufeinander zu oder aneinander vorbei?
Jeder Feelgood-Hollywood-Film würde an dieser Stelle einfach mit einem leidenschaftlichen Kuss enden, das Album hat aber noch 3 weitere Stücke, so versöhnlich kann es also leider nicht ausgehen.

„Death of an Interior Designer“ ist trotzdem ein Song für alle Cineast*innen, er ist nämlich eine Anspielung oder besser gesagt eine Rekapitulation des Woody-Allen-Films „Interiors“. Wie, das wusstest du nicht? Du kanntest den Film gar nicht? Unglaublich… Dann geht es dir ja wie mir, bevor ich es gegoogelt habe! Ich fand den Song ohne das Hintergrundwissen immer sehr kryptisch, aber lyrisch und musikalisch trotzdem so ansprechend, dass es mich nicht gestört hat, nicht so genau zu verstehen, um wen es in der Geschichte eigentlich geht.


** Achtung, Spoiler zum Film im folgenden Block:

In Film und Lied geht es um die Geschichte einer Innenausstatterin, die mit ihrem Mann eine scheinbar glückliche Familie mit drei Töchtern gründet. Der Mann verliebt sich jedoch irgendwann neu und heiratet seine Freundin schließlich auch – gegen den Willen der jüngsten Tochter. Bei der Hochzeit stolpert die frisch Getraute und zerstört dabei versehentlich eine Vase der Exfrau. Diese Vase stand sinnbildlich für deren Karriere als Innenausstatterin, die nach dem Zerfall der Familie ihr ganzes Leben gewesen war. Als die Exfrau später zur Hochzeit dazustößt und sieht, dass sie neben der Familie jetzt auch noch das Symbol ihrer Berufung verloren hat, ertränkt sie sich vor Verzweiflung im Meer. Es ist der Klassiker: Frau + Mann + Frau – Mann – Vase + Meer = Drama. Musikalisch fühlt sich die Geschichte auch nicht ganz so ernst genommen an, irgendwie ist die Stimmung ein bisschen zu fröhlich. Aber das passt ja durchaus zu Woody-Allen-Filmen, eine gewisse Dissoziation von Inhalt und Stimmung kombiniert mit einer großen Prise an Neurosen.


Spoiler Ende. **


Der zehnte und vorletzte Song des Albums, „We Looked Like Giants“, war für mich der Auslöser, intensiver in Demo-Aufnahmen verschiedener Künstler*innen reinzuhören. In diesem Fall finde ich die Demo nämlich viel schöner als die Studioversion (die nichtsdestotrotz auch ein wundervoller Song ist, das ist Jammern auf höchstem Niveau!). Obwohl, oder vielleicht besser „weil“, auch dieser Song in der Story anschließt und melancholisch Erinnerungen einer vergangenen Beziehung verarbeitet, schwingt in der Demoversion viel Energie mit und auch ein Hauch von Wut. Das geschieht vor allem durch die Verbindung aus dem intensiven elektronischen Drumbeat und der elektrischen Gitarre, bei der der Drive passiv-aggressiv leicht in den verzerrten Bereich gezogen wurde, aber so subtil, dass man rufen möchte, die Gitarre möge sich doch endlich entscheiden, ob sie denn clean oder verzerrt klingen möchte. Im Hintergrund jault leise eine elektronische Orgel. In der Kombination entsteht so eine verrückte Mischung aus Wehmut und Aufbruchstimmung. Dieses Gefühl ist in der Studioversion zwar auch noch vorhanden, aber abgeschwächt. Leider ist im Entwicklungsprozess auch der Text deutlich verändert worden und meine Lieblingsstelle des Liedes verloren gegangen: „And from this floor I can see through your window next door. He’s strumming a tune on the toy guitar I gave to you. You throw your head back, so overcome with laughter.“ Dieser Ausschnitt beschreibt das bittere, aber unvermeidliche Gefühl schmerzhaft anschaulich, wenn gemeinsame Erinnerungen und Gewohnheiten von einer vorherigen Beziehung auf eine neue übertragen werden. „Ich bin nicht mehr derjenige, der ihr Lieder auf der Gitarre vorspielt.“ Ganz trivial und selbstverständlich, aber dennoch ein sehr trauriger Gedanke nach einer Trennung. Passenderweise endet die Demoversion des Songs auch auf dieser Zeile.

Den Abschluss des Albums wiederum bildet der ebenfalls wenig farbenfrohe Titel „A Lack of Color“. Dieser endet zwar, wie bereits angekündigt, auch nicht wirklich versöhnlich, muss mich als Medizinstudenten und Physikersohn aber stilistisch trotzdem glücklich machen. Hier werden nämlich physiologisch-physikalische Phänomene spielerisch genutzt, um nach dem Ende der Beziehung die andere Person ein wenig aufzumuntern und zu einem emotionalen Perspektivwechsel zu ermutigen. Musikalisch endet das Album mit „A Lack of Color“ schlicht und nachdenklich, eine einfache gezupfte Gitarrenbegleitung zum Gesang, die im Laufe des Songs durch einen simplen Beat ergänzt wird. Das ist in der Demo genau so wie in der Studioaufnahme, wobei die Demo zum Abschluss nochmal das gemütliche Gefühl einer zu Hause angefertigten Aufnahme vermittelt. Letztlich geht es zum Finale des Albums darum, sich das unveränderliche Ende der gescheiterten, aber trotzdem intensiven, verzehrenden und doch lohnenswerten Beziehung vor Augen zu führen und damit endgültig abzuschließen. Das gelingt jedoch nicht wirklich überzeugend, auch wenn der letzte Vers mit den Worten „This is fact, not fiction, for the first time in years“ endet.

Wer ganz genau hinhört oder das Album in Dauerschleife laufen lässt, wird bald erkennen, dass „A Lack of Color“ mit den selben Hintergrundgeräuschen endet, die auch am Anfang von „The New Year“ zu hören sind. Die Geschichte ist also zyklisch angelegt. Das passt, denn das im Album Erlebte ist alles nicht wirklich neu, aber trotzdem individuell immer wieder besonders. Im Gesamtkonzept arbeitet die Band schmerzvoll intensiv eine Beziehung auf, in der es nicht gut genug passt, um für immer zusammen zu bleiben, in der man sich aber emotional trotzdem zu nah ist, um wirklich über einander hinweg kommen zu können. Im Verlauf der Erzählung werden vom Kennenlernen über das Verlieben, Trennen, On-Off-Beziehungen, Heiraten, Affären, Fernbeziehungen, wunschlos-glückliche Phasen, bis hin zu Todesfällen, Erinnerungen und dem vermeintlich-endgültigen Abschließen mit der Beziehung so viele Facetten des Liebeslebens abgedeckt, dass sie sich auf praktisch jede (romantische) Lebenslage beziehen lässt. Dabei kann das Album je nach Situation als Verarbeitungshilfe, Beziehungsratgeber oder einfach als Seifenoper betrachtet werden und erfüllt jede dieser Rollen durch das herausragend schöne Songwriting und die sprachliche Eleganz der Texte mit Bravour. Gerade deshalb ist es umso erfreulicher, dass Death Cab for Cutie zum zehnjährigen Jubiläum des Albums die Demoaufnahmen veröffentlicht haben, die uns einen Einblick ermöglichen, wie die Stücke zu dem Gesamtkunstwerk wurden, das sie sind.

Beitragsbilder: (alle Künstler*innen auf pixabay.com)
OpenClipart-Vectors
Clker-Free-Vector-Images
mohamed_hassan

Montagsdemo: Transatlanticism Teil 2

Montagsdemo: Transatlanticism Teil 1

Keine Sorge, das hier ist keine neue Politik-Reihe, im Gegenteil. Aber in der aktuellen Situation, in der das Demonstrationsrecht leider vielerorts missbraucht wird, um Unwahrheiten und Hass zu verbreiten, ist es an der Zeit, dem Wort „Demo“ wieder zu neuem Glanz zu verhelfen. Und zwar mit guter Musik.

Demos sind so viel mehr als Infektionshotspots oder Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker*innen. Eigentlich sind sie ursprünglich eine Möglichkeit zur Präsentation und zur Teilhabe am Entwicklungsprozess neuer Ideen. Und genau deshalb ist es so passend, dass der Begriff „Demo“ im Englischen auch einen zentralen Platz in der Musikproduktion gefunden hat. „Demo Tapes“ waren die Tonbandaufnahmen, auf denen Künstler*innen ihre Ideen für neue Songs festhielten, um sie an Plattenfirmen zu schicken. Die Labels mussten dann entscheiden, ob sie den Song im Studio produzieren lassen wollten oder nicht. Das klingt erstmal trivial, bedeutet aber, dass von diesen Tapes abhing, ob ein Song den Weg vom Konzept zur fertigen Aufnahme im Laden beschreiten konnte. Ganze Karrieren hingen so statt am seidenen Faden am schwarzen Tonband und wer weiß, wie Popmusik heute klingen würde, wenn sich einflussreiche Labels damals anders entschieden hätten. Die Tonbänder sind inzwischen natürlich längst von der Bildfläche verschwunden, aber das Grundprinzip hat sich gehalten: Demoaufnahmen sind weiterhin ein wesentlicher Bestandteil im Entstehungsprozess vieler Songs und es lohnt sich, sie genauer unter die Lupe zu nehmen! Oft ermöglichen sie einen tieferen Einblick in die Ideen und Emotionen, die die Künstler*innen beim Schreiben eines Songs ursprünglich vermitteln wollten und sie bieten eine schöne Gelegenheit, Lieblingslieder und -alben noch einmal intensiver und mit erfahreneren Ohren kennenzulernen und so vielleicht eine alte Liebe neu zu entfachen.

Ein Relikt vergangener Zeiten.

So ist es mir zum Beispiel ist es vor einiger Zeit mit dem Album „Transatlanticism“ von „Death Cab for Cutie“ ergangen. Den meisten von euch dürfte die Indie-Band aus Washington aus der Fernsehserie „How I met your mother“ bekannt sein, für die sie den Song „Soul Meets Body“ beigesteuert haben. „Fernsehtauglich“ ist daher wohl auch eine recht passende Beschreibung für den Klang der Band und das ist gar nicht negativ gemeint, auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht so wirken mag. Die Melodien der Stücke sind sehr eingängig und schlicht, aber gleichzeitig intensiv und mitreißend, weshalb sich die Lieder gut eignen, um Filme oder Fernsehserien damit zu untermalen. Die passende Szene schwingt in den Songs oftmals musikalisch sowieso schon mit und die eleganten Texte geben den Liedern zusätzlich die inhaltliche Tiefe. Wer Angst vor harten Gitarrenriffs und Schlagzeugsoli haben sollte, kann sich also beruhigt fühlen, das Album einschalten, entspannen und genießen. „Transatlanticism“ habe ich für den Start der Review-Reihe aus gegebenem Anlass ausgewählt, denn im Kontext der US-Präsidentschaftswahl, während der wir von Europa aus wieder einmal gebannt und sorgenvoll über den großen Teich blicken, erscheint der Titel des 2003 erschienenen Albums aktueller denn je. Das war eine Erkenntnis, die mir erst beim Schreiben dieser Liebeserklärung gekommen ist, sich aber wie ein roter Faden durch das gesamte Album zieht: Obwohl die Lieder melancholisch und größtenteils rückblickend geschrieben sind, präsentieren sie Themen und Texte, die so zeitlos und umfassend sind, dass sie sich auf quasi jede Situation beziehen lassen. Die Schönheit im Songwriting von „Transatlanticism“ besteht jedoch darin, dass die Lieder dabei trotzdem gleichzeitig persönlich und nahbar sind. Das Album besteht zwar (anders als beispielsweise ein Pink-Floyd-Album) aus für sich stehenden Einzelstücken, bildet in seiner Gesamtheit aber dennoch einen größeren Kontext, auf den ich zum Abschluss noch kurz eingehen möchte.

Hier könnt ihr euch während des Lesens das komplette Album inklusive der Demos direkt über Spotify anhören.

Der emotionale Grundton des Albums wird bereits im ersten Lied “The New Year” gesetzt. Inhaltlich geht es um ein Gefühl, das vermutlich die meisten von uns in irgendeiner Weise an Neujahr oder anderen Festtagen schon einmal erlebt haben. Ein Gefühl, das man aber eher nicht kommuniziert, um den anderen nicht die Stimmung zu verderben. Aus vielfältigen Gründen wird ein Tag künstlich zu etwas ganz Besonderem aufgespielt, wodurch die hohen Erwartungen an diesen letztlich doch ganz normalen Tag nicht erfüllt werden können. Und so kann es passieren, dass man schließlich bei einem feierlichen Anlass nachdenklich wird, während um einen herum auf der Party der Hedonismus Vodka-Früchte in der Bowle trägt. Am besten vergleichen lässt sich diese emotionale Leere und Sehnsucht wohl mit Fernweh, was Death Cab for Cutie sehr schön aufgreifen im Vers “I wish the world was flat like the old days, then I could travel just by folding a map” – wiederum ein Gefühl, das wir momentan vermutlich alle auch ohne große Feiern sehr gut nachvollziehen können. Musikalisch spannend ist an diesem Song, dass die Demo noch einen Halbtonschritt tiefer eingespielt wurde als die finale Version und außerdem, dass sich bei ungefähr 02:26 Minuten ein falscher Ton (C statt H, für alle Musiktheoretiker*innen unter euch) in die Aufnahme geschlichen hat. Zwar bloß ein Verspieler, aber irgendwie doch sinnbildlich dafür, dass auch ein nicht-perfekter Anfang (z.B. eines Albums oder Jahres) trotzdem der Beginn von etwas sehr Schönem sein kann.

Das nachdenklich-schwermütige Gefühl setzt sich auch im zweiten Lied mit dem ironischen Titel “Lightness” fort, einem Song, der mit wenigen Worten – aber sehr anschaulich – beschreibt, wie scheinbar unscheinbare Emotionen und Geschehnisse nach dem Kennenlernen eines außergewöhnlichen Menschen den gesamten Denkprozess einnehmen können. Man kann sich endlos in Details verlieren und Stunden in Tagträumen und Gedanken über die andere Person verbringen, gerade, wenn ein Gefühl einmal nicht direkt erwidert wird. Die Demoaufnahme ist besonders schön, weil sie einen Einblick in die Experimentierfreudigkeit der Band bietet. Hier arbeitet sie mit einem monotonen und untypischen Beatbox-Rhythmus, der zunächst nur durch ein Keyboard und später zusätzlich durch zwei Gitarren, einmal mit Reverb- und einmal mit Delay-Effekt, ergänzt wird. Im Zusammenspiel bildet das eine fast schon greifbar nahe akustische Grundlage für den ruhigen Gesang, wodurch der Song ein hypnotisierendes, ASMR-artiges Gefühl erzeugt.

Im dritten Lied „Title and Registration“ setzt sich dieses Gefühl nahtlos fort. Der Titel ist eine Anspielung auf die bei Verkehrskontrollen im englischsprachigen Raum übliche Frage nach „license and registration“ (Führerschein und Zulassung) und nimmt damit vermutlich sogar Bezug auf die tatsächliche Entstehung des Stücks. Beim Durchsuchen des Handschuhfachs (engl. „glove compartment“) kommt die Überlegung auf, warum das Fach eigentlich so heißt, wo doch nur die wenigsten von uns darin Handschuhe aufbewahren, stattdessen aber diverse andere Dinge, wie zum Beispiel die Fahrzeugzulassung. Und manchmal auch Bilder aus vergangenen Beziehungen, auf die man dann eventuell in den ungünstigsten Situationen wieder stößt. Beispielsweise während einer Polizeikontrolle, dabei könnte man in diesem Moment doch wirklich auf all die unterdrückten Emotionen verzichten, die nun wieder hochkochen. Bei diesem Song lohnt sich der Blick auf die Demoaufnahme aus mehreren Gründen: Die Demo ist ausgesprochen schön und klingt so, als sei sie tatsächlich in einem Fahrzeug aufgenommen worden. Der Beat ist eine Autophonie aus dem Klopfen von unbehandschuhten Händen auf dem Armaturenbrett über einem frisch-geleerten Handschuhfach und dem rhythmischen Ticken des Blinkers. Hinten auf der Rückbank sitzen Gitarrist, Banjo- und Xylophon-Spieler und fertig ist das Studio auf 4 Rädern. Gerade durch das Südstaaten-Feeling im Banjo-Teil entsteht klanglich ein bemerkenswert schöner Kontrast zum klassischen Northwestern/Washington-Indie-Sound, den Death Cab for Cutie in Perfektion beherrschen. Auffällig ist auch, dass der Text der Demoaufnahme noch sehr anders ist als in der finalen Studioversion. Der Song fühlt sich so im positiven Sinne spontan und improvisiert und auch ein wenig fremd an, vermittelt aber gleichzeitig ein Gefühl, das sich wohl am besten als die Vorfreude beim Heimweg nach einer langen Reise beschreiben lässt.

Das momentan so ungewohnte Reisefeeling wird durch den im Raum wandernden Klang von Drumbeat und Gitarre auch im nächsten Song „Expo ’86“ übernommen, wobei dieser Song für mich persönlich einen Schwachpunkt, sowohl der Demoaufnahmen als auch des Albums darstellt (also „nur“ irgendwas im Bereich von 80%, das Album ist wirklich einfach verdammt gut). Die Aufnahme vermittelt, gerade mit Kopfhörern, das Gefühl eines chaotischen Proberaums, in dem irgendjemand am Drum-Computer herumgespielt und entdeckt hat, dass man den Ton von links nach rechts laufen lassen kann. Der Gitarrist bemerkt daraufhin, dass er die Gitarre konträr dazu von rechts nach links wandern lassen kann. Wow, das ist ja fast schon philosophisch, aufeinander zu- und wieder voneinander weggehen, On-Off-Beziehung. Vielleicht akustisch schon etwas too much, aber auch das passt ja durchaus zu einer On-Off-Beziehung. Dazu noch einen kryptischen, traurigen Text, einen kurzen, schlichten Refrain (der aber nicht wirklich zur Strophe passt), eine etwas lieblose Instrumental-Bridge und fertig ist der Baukasten-Song. Immerhin wurde das Lied bis zur finalen Aufnahme noch ein wenig überarbeitet, sie ist jetzt unter anderem statischer, was Menschen mit Reiseübelkeit zugute kommt, und die Bridge hat nun einen Text erhalten, den ich aber leider nicht wirklich verstehe.

Also fix weiter zum fünften Song: „The Sound of Settling“. Bei diesem Lied unterscheiden sich Demo (135 bpm) und finale Aufnahme (175 bpm) so deutlich wie bei keinem anderen Song des Albums. In der Studioaufnahme fühlt sich der Titel absolut ironisch an, der Song macht Lust, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Ab ins Auto und immer der Nase nach! The Sound of Settling der „Generation beziehungsunfähig“ irgendwie. Die Demoaufnahme hingegen klingt wie das Ende der durchzechten Nacht eines Junggesellenabschieds. Einfach bloß 1 Sänger, 2 Akustikgitarren, 3 Leute, die auf dem Sofa daneben herumhängen und im Chor „Bop-Baaaah“ grölen, während vor ihnen auf dem Sofatisch 4 Flaschen Whiskey, 5 Flaschen Rotwein und 6 (schlaf)trunkene Zuhörer*innen langsam eintrocknen. The Sound of Settling.

Nach einem Junggesellenabschied kommt was? Richtig, eine Hochzeit (zumindest fast immer, außer sie muss coronabedingt abgesagt werden). Und nach einer Hochzeit kommt in Deutschland aktuell in knapp 36% der Fälle irgendwann auch wieder eine Scheidung. Den inhaltlichen Höhepunkt und das Bergfest des Albums bildet daher konsequenterweise mit „Tiny Vessels“ das wohl schönste Trennungslied überhaupt. Auch wenn der Song wohl eher das Ende einer Affäre behandelt. Alleine die Eröffnungszeile „This is the moment, that you know, that you told her, that you loved her, but you don’t.“ ist pure Gänsehaut in Textform. Den Gipfel der Traurigkeit erreicht der Song dann allerdings im mittleren Abschnitt mit „So when you ask, ‚Is something wrong‘, I’d think ‚You’re damn right there is, but we can’t talk about it now. No, we can’t talk about it now.'“, einer Textstelle, die uns Hörer*innen mit einem Knoten im Magen zurücklässt, weil sie so intensiv nachfühlbar ist. Musikalisch ist das Lied relativ schlicht gehalten, um den Fokus noch stärker auf den Text zu richten, der so eher wie ein gelesenes Gedicht anmutet. Hier gibt es kaum Unterschiede zwischen Demoaufnahme und Studioversion. Die Demo ist etwas ruhiger, in der finalen Version wurden Gitarrenverzerrung, Schlagzeug, Bass und eine Klavierspur ergänzt. Aber der Song ist bereits in der Demoversion erstaunlich vollkommen und wirkt so, als habe er zu diesem Zeitpunkt bereits einige Jahre an Entwicklungsarbeit hinter sich. Eine wunderschöne Hommage an das Ende einer Beziehung. Wenn ihr euch nur eines der Lieder von diesem Album anhören wollt, dann sollte es dieses sein.

Das war Teil 1 des „Transatlanticism“-Reviews. Weiter geht es auf der nächsten Montagsdemo in 14 Tagen.

Beitragsbilder: (alle Künstler*innen auf pixabay.com)
OpenClipart-Vectors
Clker-Free-Vector-Images
mohamed_hassan

Mimimi-Mittwoch: Die Erdbeereis-Verschwörung

Mimimi-Mittwoch: Die Erdbeereis-Verschwörung

Wut, Hass, Zorn: All diese Gefühle verbindet man so manches Mal mit seinen Mitmenschen. Genau für solche Momente ist diese Kolumne da. Wann immer wir uns mal gepflegt über Leute auslassen, lest ihr das hier.

Urlaub ist gerade leider mal wieder nicht möglich, dumm gelaufen. Aber wer dieser Tage zwei Haushalte für einen romantischen Spaziergang entlang der endlosen Supermarkt-Tiefkühl-Korridore vereint, kann trotzdem so einiges erleben: Wie auf einem arktischen Tauchgang, bei dem man übrigens seine Maske auch so tragen sollte, dass sie die Nase bedeckt, weil sie sonst nämlich verdammt nochmal nutzlos ist, ziehen die Doraden und Lachse, Garnelen und Fischstäbchen, die Tiefkühlpizzen und sogar die Spinatschwärme an uns vorbei (Wie macht der Spinat unter Wasser? Blubb.) Wer zitternd glücklich gestopfte Gänsehaut und die versammelte, schockgefrostete vorpommersche Fauna passiert, sich auch von den Elefantentorten (törööö) der Groß(wild)konditoreien losreißen kann und so schließlich bis hin zur Speiseeistheke gelangt, wird sich direkt mit der nächsten Reizüberflutung konfrontiert sehen.

Beim Anblick der 100 verschiedenen Sorten des gekühlten Glücksspenders wirkt es, als müsse das Lieblingseis der Deutschen folgende Zutaten unbedingt enthalten: Sahne, Zucker, Milchpulver, Schokolade, Cookie Dough, Erdnussbutter, Metformin, Fudge, Walnüsse, Glibenclamid, gesalzenes Karamell, Strawberry Cheesecake, Dapagliflozin, Mandelsplitter, Kaugummi, die Liste könnte beliebig fortgeführt werden. Wir haben uns also fernab der leeren Klopapier-Regale in eine scheinbar heile Welt des Überflusses verirrt. Das Narnia des Supermarkts hinter der Tür eines Eisschrankes quasi. Doch es ist nicht alles so idyllisch, wie es wirkt. Als wir klein waren, durften mein Bruder und ich unserer Großmutter zum Abendbrot mal einen Teller mit den Vorräten aus der Küche zusammenstellen. Weil wir ziemliche Lausbuben waren (also eigentlich ich, mein Bruder war tatsächlich immer sehr lieb), war das Endresultat ähnlich bunt gemischt wie die eben genannte Eistheke. Und schon damals haben wir am wenig genussvollen Gesichtsausdruck unserer Omi eine wichtige Lektion, zwar nicht an der eigenen, aber doch immerhin an engverwandter Haut, gelernt: Weniger ist (gerade in der Küche) oft mehr. Und das gilt selbstverständlich auch beim Eis. Was dem ungeübten, diabetisch-retinopathischen Auge auf der Suche nach Zucker nämlich entgangen sein mag, erspäht der genussgeschulte Blick sofort: Etwas ganz Simples fehlt in diesem Kühlregal! Müssen wir die Liste der heißen Corona-Ware jetzt etwa wieder aufwärmen, nur um sie um ein Tiefkühlprodukt des Grundbedarfs zu ergänzen? Nudeln, Klopapier und jetzt auch noch Erdbeereis?! „Wer bunkert denn bitte Erdbeereis?“, frage ich erst mich und dann die nette Dame, die gerade das Regal einräumt. Die Antwort überrascht mich, denn der Laden ist nicht etwa Opfer einer Hamsterherde geworden, sondern führt aktuell gar kein Erdbeereis. In den anderen Supermärkten, in denen ich mein Glück versuche, erhalte ich das gleiche unbefriedigende Resultat.

Wie solche Entscheidungen im Management zustandekommen, werde ich wohl nie verstehen. Wieso abgefahrene Spezial-Eissorten verticken, gleichzeitig aber die Basics vernachlässigen? Das ergibt für mich in etwa so viel Sinn, als würde ein Universitätsklinikum als Maximalversorger zwar Brustvergrößerungen anbieten, dafür aber die Kinderchirurgie schließen. „Meiner Hühnerbrust geht es bestens, danke der Nachfrage, aber könnte meinem Kind jetzt bitte endlich mal jemand den Blinddarm (die Appendix vermiformis, um anatomisch korrekt zu bleiben) rausnehmen, bevor es stirbt? Danke!“
Also so rein hypothetisch.

Eine Welt ohne Erdbeereis ist grau.

Ich sitze nun während des Lockdowns alleine und ohne Erdbeereis zu Hause, meine Kühltruhen-Begleitung hat angeblich andere Pläne. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn wer will schon Zeit mit jemandem verbringen, dessen Gedanken sich ausschließlich um das eigene Verlangen nach Erdbeereis drehen?

Was macht man nun also in so einer aussichtslosen Situation? Das Internet muss Abhilfe schaffen, ich brauche ein Rezept, muss das Eis jetzt selber machen! Doch als ich versuche, den Namen des Objektes meiner Begierde in die Suchmaschine einzugeben, korrigiert mein Handy die Suchanfrage automatisch zu „Erdkreis“ (Kreis? Ich dachte die Erde sei eine Kugel?). Das kann doch nicht wahr sein! Ich beginne misstrauisch zu werden. Erst die Supermärkte, jetzt mein Handy, dem ich eh nie so wirklich vertraut habe mit seiner Gesichtserkennung und seinem Fingerabdruckscanner. Wer möchte verhindern, dass ich Erdbeereis zu mir nehme? War es vielleicht genau das, wovor uns John Lennon in „Strawberry Fields Forever“ warnen wollte, bevor er (angeblich von einem psychisch verwirrten Täter, aber wer weiß das schon so genau?) ermordet wurde? „Nothing is real“, exakt so fühle ich mich gerade auf meiner Suche nach der eiskalten Köstlichkeit. Gibt es Erdbeereis überhaupt oder bin ich inzwischen schon so lange abgeschottet, dass ich es mir nur eingebildet habe? Ich weiß nicht mehr, wem ich vertrauen kann.

Und dann endlich doch noch ein Silberstreifen am Horizont, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte: In einem Forum bin ich auf ein Rezept für Erdbeereis gestoßen! Und nicht nur das, über einen Link im Rezept habe ich eine Bio-Snackbar gefunden, die fast zu perfekt klingt, um wahr zu sein. Vegan und dann wird dort alles auch noch ökologisch hergestellt! Nach einer kurzen Recherche entdecke ich, dass der sympathische Besitzer (hieß so nicht auch mal ein bekannter Hunnenkönig?) außerdem eine Telegram-Gruppe betreibt, in der er mittlerweile über 114.000 Menschen, die heiß auf Eis und mehr sind, regelmäßig über die neuesten Rezepte und alles was außerhalb der Eistruhe passiert, auf dem Laufenden hält. Absoluter Wahnsinn, also nichts wie rein da! Und wie viel der zu erzählen hat, im Minutentakt kommen neue Infos, endlich schreibt mir mal jemand! Außerdem sind alle Leute, die Erdbeereis so schätzen wie ich, eine mehr als erwünschte Abwechslung von den Menschen vor meiner Haustür, deren Geschmacksknospen dank der Propaganda der Mainstream-Nahrungsindustrie immer noch wie die Schafe schlafen. Die fressen vermutlich immer noch die Süßigkeiten, die ihnen irgendein saccharistischer Candy-Ketzer letzte Woche schmackhaft gemacht hat. Bounty und Pinballs, das ist doch pures Gift und sowas bekommt da 6 von 10 Kokosnüssen bzw. Kürbissen? Nicht mit mir! Nieder mit der Lügenpresse in Magenta! Das ist die Farbe des Kühltheken-Kommunismus, den sie uns allen aufdrücken wollen. Die Farbe des Bösen, die Farbe des … die Farbe des Erdbeereises … Moment, aber das kann doch nicht sein. Erdbeereis ist gut, da bin ich mir ganz sicher! Das ist genau genommen das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann. Erdbeereis, ergo sum. Ich bin verwirrt und brauche Rat von ganz oben.

Gut oder böse?

Deshalb bin ich am Samstag nach Leipzig gefahren. So eine schöne Stadt, hier ist die Zeit irgendwie stehen geblieben. Hier kann man sogar noch in Ruhe spazieren gehen, während man im Plenum über Eis diskutiert. Und so nette Polizist*innen, die haben ganz nett gewunken und gelächelt, als wir an ihnen vorbeigekommen sind. Immer wieder schön, Leute zu treffen, die die gleichen Werte vertreten wie man selbst.

Was mich aber negativ überrascht hat, war, dass die Menschen da irgendwie gar nicht so viel über Erdbeereis reden wollten, wie ich gehofft hatte. Okay, es ist inzwischen relativ kalt geworden und viele Leute haben momentan nicht so viel Appetit auf Eis. Aber was die da erzählt haben, kam mir zum Teil doch ein bisschen komisch vor – Geschichten von der Corona-Lüge, von kinderfressenden Satanist*innen, von Reptiloiden, von Mikrochips und Bill Gates, der alle Sachsen kontrollieren will, um den Preis von Bautzner-Senf zu drücken, den er sich sonst nicht mehr leisten könne (aktuell 37 Cent für 200 Milliliter). Lauter Erzählungen also, die nun wirklich nur Menschen glauben können, die auf Oreo-Eiscreme stehen und Theorien, die außerdem, selbst wenn sie wahr wären (was sie nicht sind), neben meiner Erdbeereis-Verschwörung vollkommen verblassen würden. Trotzdem hatten viele der Menschen dort erschreckenderweise nicht viel zu Erdbeereis zu sagen. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die sich untereinander eigentlich auch gar nicht so gut leiden können. Warum die sich dann trotzdem alle da treffen, wissen sie wohl selbst nicht. Vermutlich passiert sowas halt, wenn man eine Party viel zu groß aufzieht. Ein paar Leute, die man eh nur aus Höflichkeit eingeladen hatte, bringen dann komische Freund*innen mit und plötzlich sind ganz viele Menschen vor Ort, die den Gastgeber überhaupt nicht kennen und nichts Positives zu Erdbeereis zu sagen haben. Also heißt es für mich nun „‚Hello Goodbye‘ Telegram-Gruppen!“, hat keinen Spaß gemacht mit euch, wir sind wohl einfach zu unterschiedlich. Und herausgefunden, was mit meinem Erdbeereis passiert ist, habe ich auch immer noch nicht …

Tja, damit schließt sich der Kreis. Ich bin zwischendurch vielleicht doch ein bisschen vom Thema abgekommen, deshalb zum Abschluss nochmal der klare Appell an alle Supermärkte in Greifswald, Deutschland und auf der ganzen Welt:

Verkauft Erdbeereis, denn es könnte Leben retten! Und es ist verdammt nochmal Erdbeereis, das ist einfach nur geil, wie kann man das nicht im Sortiment haben??

Um den Inhalt dieses Beitrags noch einmal klar einzuordnen, möchte ich, jetzt nachdem Trump abgewählt ist, Barack Obamas Rede beim White House Correspondence Dinner 2011 (vermutlich der Anlass für Trumps Präsidentschaftspläne) zitieren, in der er, nachdem er die Eröffnungsszene aus „König der Löwen“ als sein „Geburtsvideo“ präsentiert hatte, die Debatte um seine Geburtsurkunde humorvoll abschließt:
„I want to make clear to the Fox News table: That was a joke.“
Ich bin und war – trotz ihres unbestreitbaren Unterhaltungsfaktors – kein Mitglied in den einschlägigen Telegram-Gruppen und war am vergangenen Wochenende selbstverständlich auch nicht in Leipzig. Ich bin einfach nur ein besorgter Erdbeereis-Esser.

Titelbild: silviarita auf pixabay.com
Beitragsbilder: Philipp Schweikhard

Corona Candy Competition – Ein Überblick

Corona Candy Competition – Ein Überblick

Auch wenn Halloween dieses Jahr coronabedingt etwas reformiert werden musste (Thesen dazu bitte in die Kommentare oder auf Telegram, unnötige Reisen nach Wittenberg oder Berlin oder so sollten aktuell ja unterlassen werden), gibt es absolut keinen Grund, auf Süßigkeiten verzichten zu müssen! Im Gegenteil, in Maßen ist Zucker ja ein sehr gutes Antidepressivum und damit nicht das Schlechteste in der aktuellen Situation. Deshalb haben wir für euch in der Redaktion ein aufopferungsvolles Selbstexperiment durchgeführt und die beliebtesten Halloween-Süßigkeiten verkostet. Leider mussten wir den Zuckerschock erst einmal verdauen und sind daher etwas spät dran. Die folgenden Reviews, die auf der Zunge zergehen, wollen wir euch aber trotzdem nicht vorenthalten.
Bon appétit!

ZUCKERZUCKERZUCKERZUCKERZUCKERZUCKER

Haribo® Gummibären

Der Werbespruch ist Programm, die kleinen Bärchen schmecken lecker und sind niedlich anzuschauen. Wenn jetzt nicht die leidige Sache mit der tierischen Gelatine wäre, würden sie in unserer Redaktion aber noch deutlich mehr erwachsene Kinder froh machen. Im handlichen und ADHS-zuckerbedarfsangepassten Format verpackt gut zum Verschenken geeignet, aber dadurch leider auch mit keinem befriedigenden Bär-zu-Plastikmüll-Verhältnis.
8 von 10 Kürbissen.

Der Carebear unter den Süßigkeiten.

Maoam® Pinballs

Drei bunte Zuckerkugeln mit einer Brausefüllung in einem Plastikschlauch. Viel mehr gibt es zu dieser Süßigkeit nicht zu sagen. Als Kind sicher cool, aber irgendwie ist Brause mit Mitte 20 nicht mehr ganz so prickelnd wie früher (außer Kaktuseis!).
6 von 10 Kürbissen.

Knackig. Brizzlig. Bunt.

Maoam® Sour Stripes

*Business-presentation-music intensifies* „Warum die Zähne nur mit Zucker zerstören, wenn man sie doch vorher auch zusätzlich mit Säure schwächen und außerdem bis zur Kieferklemme verkleben kann? Maoam Sour Stripes!“
So oder so ähnlich dürfte der Pitch vor der Maoam®-Geschäftsführung ausgesehen haben, als diese lebensmitteltechnologische Revolution vorgestellt wurde. Saure Süßigkeiten liegen absolut im Trend und in klassischer Maoam®-Tradition verkleben diese Zucker-Säure-Gelatine-Streifen die Zähne minutenlang. Darüber kann auch der ordentliche Geschmack nicht hinwegtrösten.
5 von 10 Kürbissen.

5 von 5 Bugatti-fahrenden Zahnärzt*innen empfehlen Maoam Sour Stripes.

Maoam® JoyStixx

Das Gleiche wie die altbekannten Maoam®-Quader, bloß in grün. Oder rot. Und aneinandergeklebt. Süß und mit dem seit langer Zeit bewährten Geschmack. Hier kann man nicht viel falsch machen und durch das größere Format wird sogar ein wenig Verpackung eingespart.
8 von 10 Kürbissen.

Twix®

Keks, Karamell und Schokolade, das ist Twix. In der „Fun Size“ muss man sich selbst überlegen, ob man gerade ein linkes oder rechtes Twix isst. Hängt wohl von der persönlichen politischen Einstellung ab. Ansonsten gilt auch weiterhin:
„Raider heißt jetzt Twix, … sonst ändert sich nix.“
7 von 10 Kürbissen.

Links, rechts, oben, unten.

Bounty®

Bounty ist die „Lisa“ unter den Schoko-Snacks. In der Kokosfüllung steckt ein Hauch von Auslandssemester, der sich geschmacklich aber eher wie kulturelle Aneignung anfühlt. Süß und durchaus genießbar, aber leider ziemlich oberflächlich.
6 von 10 Kokosnüssen.

Galaxy®

Ein Schokoriegel, den ich mir außerhalb einer „Celebrations“-Packung niemals kaufen würde und den ich auch noch nie bewusst einzeln im Verkauf gesehen habe. Schmeckt irgendwie als wäre er seine eigene Discounter-Kopie. Und noch etwas, liebe Mars® Incorporated, warum sind in der Packung nicht gleich viele Riegel von jeder Sorte enthalten? So etwas kann Familien zerstören!
2 von 10 Kürbissen.

„Okay, wir teilen einfach alle Süßigkeiten durch zw… verdammt nochmal, jetzt rück sie schon heraus, Jeremy-Pascal! Mamaa!“

Milky Way®

Ein grundsolider Schokoriegel mit einem einfachen Erfolgskonzept: Candycreme und Schokolade. In leicht veränderter Rezeptur mittlerweile seit 97 Jahren auf dem Markt und zurecht immer noch erfolgreich.
7 von 10 Kürbissen.

Mars®

Eine echte Zuckerbombe, bei der die „Fun-Size“ durchaus Sinn ergibt. Aufgebaut wie ein „Milky Way®„-Riegel, aber mit einer zusätzlichen Karamellschicht. Dadurch wirklich verdammt süß und klebrig. Schmeckt gut, aber nicht für den Verzehr in größeren Mengen geeignet.
6 von 10 Kürbissen.

Snickers®

Snickers® sind die teuflischen Dreier aus Karamell, Erdnüssen und Nougat, ummantelt von Schokolade und fühlen sich in dieser Kombination erstaunlicherweise trotzdem etwas edler an als der Durchschnitt der Mars®-Incorporated-Schokoriegel. Und außerdem besticht die Analyse in den unsterblichen Worten der Hermine Granger aus den Coldmirror-Harry-Potter-Parodien:
„Snickers hat Nüsse.“
8 von 10 Kürbissen.

Malteser® teasers

Puffreis und Schokocreme klingt eigentlich nach einem sicheren Erfolgsrezept, aber irgendwie konnte sich dieser Schokoriegel trotzdem nie wirklich gegen die Konkurrenz durchsetzen. Vermutlich sind daher auch von diesen Riegeln standardmäßig immer weniger als von den anderen Sorten in den „Celebrations“-Packungen enthalten. Aber nochmal: Das kann Familien zerstören!
6 von 10 Kürbissen.

Center Shock®

Früher DAS Highlight des Schulkiosks, aber irgendwie nicht mehr so sauer wie früher. Ob das an einer Rezeptänderung oder unseren vernarbten Geschmacksknospen liegt und was Helikoptereltern, Bill Gates und die Illuminaten damit zu tun haben könnten, erklären wir euch ein andermal. Annica fasst es jedenfalls wie folgt zusammen:
Center Shock (Erdbeere)
Expectations:
😦😧🥴😬😰😐
Reality:
🤭😕🤔😐🙂😋😐
Das letzte Emoji soll übrigens symbolisieren, dass der Geschmack des Kaugummis nach der sauren Phase leider sehr schnell wieder verfliegt.
7 von 10 Kürbissen.

Gruselig verpackt, aber nicht mehr der Schocker vom Schulhof.

Fruchtkaramellen

Eigentlich keine typische Halloween-Süßigkeit, sondern für mich die klassische Karnevals-Kamelle, aber da liegen ja bloß 11 Tage dazwischen. Günstig, klebrig und sehr süß, ein Spaß für die ganze Familie. Und verfügbar in den Sorten Zitrone, Apfelsine, Kirsche und „Schmeckt wie Nivea riecht“ – Zitat Lilli – angeblich Himbeere.
Zitrone: 7 von 10 Kürbissen.
Apfelsine: 5 von 10 Kürbissen.
Kirsche: 7 von 10 Kürbissen.
Nivea: 1 von 10 Kürbissen, aber immerhin gut für die Haut.

Helau-Ween!

kinder-Riegel®

kinder-Riegel® und Maiswaffeln waren früher meine Grundnahrungsmittel in den Schulpausen, manchmal noch ergänzt durch einen Ayran und ein Käsebrötchen, wenn wir genug Zeit hatten, um zum Rewe zu rennen. Für mich weiterhin einer der leckersten Schokoriegel überhaupt, weil die Milchcreme so einen besonderen Geschmack besitzt und die Schokolade dank des Palmöls auf der Zunge zergeht. Verdammt, warum muss denn jetzt auch noch mein Lieblings-Schokoriegel so umweltschädlich sein??
10 von 10 Kürbissen.

„Das is gut für disch, das is gesund, Kindermilsch is da drin.“ – Nadine von Frauentausch

Fazit

Sweet Jesus! Das war härter als gedacht, nach all den Leckereien und beim Blick auf die ganze Verpackung, die sich durch dieses Experiment angesammelt hat, ist mir ein bisschen übel. Ich wollte gerade schreiben, dass man als Kind so viel Süßkram wohl besser weggesteckt hat, aber dann ist mir wieder eingefallen, dass ich am Abend nach einem Kinderarztbesuch mal kotzen musste, weil mir der Arzt so viele Süßigkeiten mitgegeben hatte, dass ich mir den Magen verdorben habe.
Bester Arzt aller Zeiten!
Wir hoffen euch hat es ebenso gemundet wie uns! Seid gerne auch nächste Woche wieder dabei, wenn wir die besten Medikamente zur Diabetestherapie testen!

Titelbild: pixelia auf Pixabay
Beitragsbilder: Philipp Schweikhard