Wut, Hass, Zorn: All diese Gefühle verbindet man so manches Mal mit seinen Mitmenschen. Genau für solche Momente ist diese Kolumne da. Wann immer wir uns mal gepflegt über Leute auslassen, lest ihr das hier.

Urlaub ist gerade leider mal wieder nicht möglich, dumm gelaufen. Aber wer dieser Tage zwei Haushalte für einen romantischen Spaziergang entlang der endlosen Supermarkt-Tiefkühl-Korridore vereint, kann trotzdem so einiges erleben: Wie auf einem arktischen Tauchgang, bei dem man übrigens seine Maske auch so tragen sollte, dass sie die Nase bedeckt, weil sie sonst nämlich verdammt nochmal nutzlos ist, ziehen die Doraden und Lachse, Garnelen und Fischstäbchen, die Tiefkühlpizzen und sogar die Spinatschwärme an uns vorbei (Wie macht der Spinat unter Wasser? Blubb.) Wer zitternd glücklich gestopfte Gänsehaut und die versammelte, schockgefrostete vorpommersche Fauna passiert, sich auch von den Elefantentorten (törööö) der Groß(wild)konditoreien losreißen kann und so schließlich bis hin zur Speiseeistheke gelangt, wird sich direkt mit der nächsten Reizüberflutung konfrontiert sehen.

Beim Anblick der 100 verschiedenen Sorten des gekühlten Glücksspenders wirkt es, als müsse das Lieblingseis der Deutschen folgende Zutaten unbedingt enthalten: Sahne, Zucker, Milchpulver, Schokolade, Cookie Dough, Erdnussbutter, Metformin, Fudge, Walnüsse, Glibenclamid, gesalzenes Karamell, Strawberry Cheesecake, Dapagliflozin, Mandelsplitter, Kaugummi, die Liste könnte beliebig fortgeführt werden. Wir haben uns also fernab der leeren Klopapier-Regale in eine scheinbar heile Welt des Überflusses verirrt. Das Narnia des Supermarkts hinter der Tür eines Eisschrankes quasi. Doch es ist nicht alles so idyllisch, wie es wirkt. Als wir klein waren, durften mein Bruder und ich unserer Großmutter zum Abendbrot mal einen Teller mit den Vorräten aus der Küche zusammenstellen. Weil wir ziemliche Lausbuben waren (also eigentlich ich, mein Bruder war tatsächlich immer sehr lieb), war das Endresultat ähnlich bunt gemischt wie die eben genannte Eistheke. Und schon damals haben wir am wenig genussvollen Gesichtsausdruck unserer Omi eine wichtige Lektion, zwar nicht an der eigenen, aber doch immerhin an engverwandter Haut, gelernt: Weniger ist (gerade in der Küche) oft mehr. Und das gilt selbstverständlich auch beim Eis. Was dem ungeübten, diabetisch-retinopathischen Auge auf der Suche nach Zucker nämlich entgangen sein mag, erspäht der genussgeschulte Blick sofort: Etwas ganz Simples fehlt in diesem Kühlregal! Müssen wir die Liste der heißen Corona-Ware jetzt etwa wieder aufwärmen, nur um sie um ein Tiefkühlprodukt des Grundbedarfs zu ergänzen? Nudeln, Klopapier und jetzt auch noch Erdbeereis?! “Wer bunkert denn bitte Erdbeereis?”, frage ich erst mich und dann die nette Dame, die gerade das Regal einräumt. Die Antwort überrascht mich, denn der Laden ist nicht etwa Opfer einer Hamsterherde geworden, sondern führt aktuell gar kein Erdbeereis. In den anderen Supermärkten, in denen ich mein Glück versuche, erhalte ich das gleiche unbefriedigende Resultat.

Wie solche Entscheidungen im Management zustandekommen, werde ich wohl nie verstehen. Wieso abgefahrene Spezial-Eissorten verticken, gleichzeitig aber die Basics vernachlässigen? Das ergibt für mich in etwa so viel Sinn, als würde ein Universitätsklinikum als Maximalversorger zwar Brustvergrößerungen anbieten, dafür aber die Kinderchirurgie schließen. “Meiner Hühnerbrust geht es bestens, danke der Nachfrage, aber könnte meinem Kind jetzt bitte endlich mal jemand den Blinddarm (die Appendix vermiformis, um anatomisch korrekt zu bleiben) rausnehmen, bevor es stirbt? Danke!”
Also so rein hypothetisch.

Eine Welt ohne Erdbeereis ist grau.

Ich sitze nun während des Lockdowns alleine und ohne Erdbeereis zu Hause, meine Kühltruhen-Begleitung hat angeblich andere Pläne. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn wer will schon Zeit mit jemandem verbringen, dessen Gedanken sich ausschließlich um das eigene Verlangen nach Erdbeereis drehen?

Was macht man nun also in so einer aussichtslosen Situation? Das Internet muss Abhilfe schaffen, ich brauche ein Rezept, muss das Eis jetzt selber machen! Doch als ich versuche, den Namen des Objektes meiner Begierde in die Suchmaschine einzugeben, korrigiert mein Handy die Suchanfrage automatisch zu “Erdkreis” (Kreis? Ich dachte die Erde sei eine Kugel?). Das kann doch nicht wahr sein! Ich beginne misstrauisch zu werden. Erst die Supermärkte, jetzt mein Handy, dem ich eh nie so wirklich vertraut habe mit seiner Gesichtserkennung und seinem Fingerabdruckscanner. Wer möchte verhindern, dass ich Erdbeereis zu mir nehme? War es vielleicht genau das, wovor uns John Lennon in “Strawberry Fields Forever” warnen wollte, bevor er (angeblich von einem psychisch verwirrten Täter, aber wer weiß das schon so genau?) ermordet wurde? “Nothing is real”, exakt so fühle ich mich gerade auf meiner Suche nach der eiskalten Köstlichkeit. Gibt es Erdbeereis überhaupt oder bin ich inzwischen schon so lange abgeschottet, dass ich es mir nur eingebildet habe? Ich weiß nicht mehr, wem ich vertrauen kann.

Und dann endlich doch noch ein Silberstreifen am Horizont, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte: In einem Forum bin ich auf ein Rezept für Erdbeereis gestoßen! Und nicht nur das, über einen Link im Rezept habe ich eine Bio-Snackbar gefunden, die fast zu perfekt klingt, um wahr zu sein. Vegan und dann wird dort alles auch noch ökologisch hergestellt! Nach einer kurzen Recherche entdecke ich, dass der sympathische Besitzer (hieß so nicht auch mal ein bekannter Hunnenkönig?) außerdem eine Telegram-Gruppe betreibt, in der er mittlerweile über 114.000 Menschen, die heiß auf Eis und mehr sind, regelmäßig über die neuesten Rezepte und alles was außerhalb der Eistruhe passiert, auf dem Laufenden hält. Absoluter Wahnsinn, also nichts wie rein da! Und wie viel der zu erzählen hat, im Minutentakt kommen neue Infos, endlich schreibt mir mal jemand! Außerdem sind alle Leute, die Erdbeereis so schätzen wie ich, eine mehr als erwünschte Abwechslung von den Menschen vor meiner Haustür, deren Geschmacksknospen dank der Propaganda der Mainstream-Nahrungsindustrie immer noch wie die Schafe schlafen. Die fressen vermutlich immer noch die Süßigkeiten, die ihnen irgendein saccharistischer Candy-Ketzer letzte Woche schmackhaft gemacht hat. Bounty und Pinballs, das ist doch pures Gift und sowas bekommt da 6 von 10 Kokosnüssen bzw. Kürbissen? Nicht mit mir! Nieder mit der Lügenpresse in Magenta! Das ist die Farbe des Kühltheken-Kommunismus, den sie uns allen aufdrücken wollen. Die Farbe des Bösen, die Farbe des … die Farbe des Erdbeereises … Moment, aber das kann doch nicht sein. Erdbeereis ist gut, da bin ich mir ganz sicher! Das ist genau genommen das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann. Erdbeereis, ergo sum. Ich bin verwirrt und brauche Rat von ganz oben.

Gut oder böse?

Deshalb bin ich am Samstag nach Leipzig gefahren. So eine schöne Stadt, hier ist die Zeit irgendwie stehen geblieben. Hier kann man sogar noch in Ruhe spazieren gehen, während man im Plenum über Eis diskutiert. Und so nette Polizist*innen, die haben ganz nett gewunken und gelächelt, als wir an ihnen vorbeigekommen sind. Immer wieder schön, Leute zu treffen, die die gleichen Werte vertreten wie man selbst.

Was mich aber negativ überrascht hat, war, dass die Menschen da irgendwie gar nicht so viel über Erdbeereis reden wollten, wie ich gehofft hatte. Okay, es ist inzwischen relativ kalt geworden und viele Leute haben momentan nicht so viel Appetit auf Eis. Aber was die da erzählt haben, kam mir zum Teil doch ein bisschen komisch vor – Geschichten von der Corona-Lüge, von kinderfressenden Satanist*innen, von Reptiloiden, von Mikrochips und Bill Gates, der alle Sachsen kontrollieren will, um den Preis von Bautzner-Senf zu drücken, den er sich sonst nicht mehr leisten könne (aktuell 37 Cent für 200 Milliliter). Lauter Erzählungen also, die nun wirklich nur Menschen glauben können, die auf Oreo-Eiscreme stehen und Theorien, die außerdem, selbst wenn sie wahr wären (was sie nicht sind), neben meiner Erdbeereis-Verschwörung vollkommen verblassen würden. Trotzdem hatten viele der Menschen dort erschreckenderweise nicht viel zu Erdbeereis zu sagen. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass die sich untereinander eigentlich auch gar nicht so gut leiden können. Warum die sich dann trotzdem alle da treffen, wissen sie wohl selbst nicht. Vermutlich passiert sowas halt, wenn man eine Party viel zu groß aufzieht. Ein paar Leute, die man eh nur aus Höflichkeit eingeladen hatte, bringen dann komische Freund*innen mit und plötzlich sind ganz viele Menschen vor Ort, die den Gastgeber überhaupt nicht kennen und nichts Positives zu Erdbeereis zu sagen haben. Also heißt es für mich nun “‘Hello Goodbye’ Telegram-Gruppen!”, hat keinen Spaß gemacht mit euch, wir sind wohl einfach zu unterschiedlich. Und herausgefunden, was mit meinem Erdbeereis passiert ist, habe ich auch immer noch nicht …

Tja, damit schließt sich der Kreis. Ich bin zwischendurch vielleicht doch ein bisschen vom Thema abgekommen, deshalb zum Abschluss nochmal der klare Appell an alle Supermärkte in Greifswald, Deutschland und auf der ganzen Welt:

Verkauft Erdbeereis, denn es könnte Leben retten! Und es ist verdammt nochmal Erdbeereis, das ist einfach nur geil, wie kann man das nicht im Sortiment haben??

Um den Inhalt dieses Beitrags noch einmal klar einzuordnen, möchte ich, jetzt nachdem Trump abgewählt ist, Barack Obamas Rede beim White House Correspondence Dinner 2011 (vermutlich der Anlass für Trumps Präsidentschaftspläne) zitieren, in der er, nachdem er die Eröffnungsszene aus “König der Löwen” als sein “Geburtsvideo” präsentiert hatte, die Debatte um seine Geburtsurkunde humorvoll abschließt:
“I want to make clear to the Fox News table: That was a joke.”
Ich bin und war – trotz ihres unbestreitbaren Unterhaltungsfaktors – kein Mitglied in den einschlägigen Telegram-Gruppen und war am vergangenen Wochenende selbstverständlich auch nicht in Leipzig. Ich bin einfach nur ein besorgter Erdbeereis-Esser.

Titelbild: silviarita auf pixabay.com
Beitragsbilder: Philipp Schweikhard