von Archiv | 22.06.2006
Geburt, Schule, Studium oder eine andere berufliche Ausbildung, der Eintritt ins Erwerbsleben, Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, danach der Beginn der Rente, zum Abschluss der physische Tod. Die Regel der menschlichen Existenz in den westlichen Industrie-nationen. Zwischendurch wird das persönliche Glück gesucht: Partnersuche mit erfolgreicher Reproduktion, möglicherweise neben körperlichen Befriedigungen auch die des Geistes.
Wird man, das heißt in diesem Fall Bruno Davert in dem französischen Kinofilm „Die Axt“, aus diesem Kreislauf unfreiwillig entlassen, beginnt das Aufraffen, ein Neubeginn. Doch einen Rückschlag nach dem anderen kann selbst den besten Mann aus der Bahn werfen. Nach zwei Jahren ohne Job, unzähligen Berwerbungsversuchen um einen neuen Arbeitsplatz ist Monsieur Davert unzufrieden mit sich, seiner familiären Umwelt und dem Rest der Welt sowieso. Selbstzweifel am eigenen Leistungsvermögen führen zu einem rational kalkulierten Plan: Gib eine Bewerbungsannonce heraus, suche die fünf besten Kandidaten heraus und töte diese. Somit sind die eigenen Chancen auf einen neuen Job höher.
Die Grundidee des nun auf DVD erschienen Werks nach einem Roman des US-amerikanischen Krimiautoren Donald E. Westlake erklärt sich so einfach. Das Urgestein des politischen Films Costa-Gavras hat sich dessen angenommen und dank des excellenten Charakterdarstellers José Garcia treten die Nöte des Mannes in der Moderne vortrefflich in das Bewußtsein des Zuschauers. Erlebenswert ist die französische Originalfassung auf der Silberscheibe, außerdem ermöglicht ein Interview mit dem griechischen Regisseur nähere Einblicke in diesem ruhigen, gegenüber dem Kapitalismus kritischen Kinofilm.
Geschrieben von Björn Buß
von Archiv | 22.06.2006
Auf der perfekten Welle braucht Thorsten Wingenfelder nicht mitzureiten. Mit über 20 Jahren Bühenerfahrung in den Beinen schüttelt der Fury-Gitarrist lässig „360° Heimat“ aus dem Ärmel. Das zehnteilige Wintermärchen versammelt aufrichtige Lieder über die Liebe, ist das Befühlen von durchlebter Geschichte und die Ode eines pochenden Herzens auf die allgegenwärtige Heimat.
Weder ist Thorsten Wingenfelder dabei der deutsche Bruce Springsteen, noch übertrumpft er einen sprachlich komplexeren Herbert Grönemeyer. Manch einer mag sich an Wolf Maahn erinnert fühlen. Wingenfelder setzt sich dennoch ab, schafft mit Gitarren, Schlagzeug, Klavier und Hammondorgel seine mal melancholische, mal eingängige Klangwelt. Zwischen „Die Unperfekten“ bis hin zu „Von Anfang an zu Ende“ verweben sich schöne Riffs, eingängige Melodien und eine wohltuende Portion Wortwitz.
Geschrieben von Ulrich Kötter
von Archiv | 22.06.2006
Ein charismatischer Comic-Glatzkopf grinst vom silbernen Umschlag des 430 seitenstarken Buchs, das Tipps zum Flirten verspricht, die Gold wert sein sollen. „Die perfekte Masche – Bekenntnisse eines Aufreissers“ ist der verheißungsvolle Titel, der Feministinnen stöhnen und Männerhoffnungen aufkommen lässt. Ohne lange Abschweife steigt Autor Neil Strauss, der bis dahin seine Brötchen mit Biografien für Jenna Jameson oder Marilyn Manson verdient hat, in die Materie ein. Ein frustrierter Loser sei er gewesen, der von Frauen mehr Körbe bekam, als eine Basketballmanschaft in der ganzen Saison.
Doch all dies änderte sich, als er durch Zufall auf eine Flirtcommunity im Internet gestoßen wurde, dessen Guru „Mystery“ sich seiner annahm. Mit amerikanisch legerem Stil und stellenweise zynischem Witz beschreibt er, wie man ihn Stück für Stück in die Kunst der „Speed Seduction“ einführte. Von auswendig gelernten Sprüchen, bis hin zu Hypnose arbeitet Strauss, der sich nunmehr „Style“ nennt und von da an akribisch an seinen Aufreißermaschen arbeitet. Und er hat tatsächlich Erfolg: Eine Frau nach der anderen liegt ihm zu Füssen. Dies mögen Methoden sein, die man als Idealist mit gesundem Selbstbewusstsein für unnötig erachten mag, wenn es um Liebe geht. Trotzdem scheint etwas dran zu sein, am Prototyp Mensch, beim dem man manchmal nur die richtigen Schalter umlegen muss, um zu bekommen, was man will. Dennoch: auch der aufkommende neue Flirtguru „Style“ muss irgendwann erkennen, dass wahre Liebe keine Tricks braucht. Dem der hofft mit diesem Buch von heute auf morgen bei jeder Frau anzukommen oder umgekehrt jeden Mann durchschauen zu können, sei gesagt, dem ist nicht so. Lockere Sprüche machen das Buch zwar zu einem angenehmen Lesevergnügen, doch den Stein der Weisen in Sachen Liebe bietet es nicht. Kann es nicht und soll es auch nicht. Vor allem betont Strauss auch immer wieder, dass in der Liebe Erfolg zu haben hart an sich zu arbeiten bedeutet. Charme, Selbstvertrauen und Charisma lernt man, wenn überhaupt, nicht von heute auf morgen.Und wie heißt es bei Mark Twain: Was braucht man, um erfolgreich zu sein? Unwissenheit und Selbst-
vertrauen.
Geschrieben von Joel Kaczmarek
von Archiv | 22.06.2006
Wer war der Bruder, der 1943 auf einem Russland-Feldzug zunächst beide Beine und dann das Leben verlor? Warum hat er sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet? Was waren seine Motive? Und wie hat letztlich die Familie mit der Gesinnung und dem frühen Tod des 19-jährigen Sohnes umzugehen gelernt? Diesen und anderen Fragen stellt sich Uwe Timm. Er macht sich auf die Suche nach seinem 16 Jahre älteren Bruder Karl-Heinz, der nicht zuletzt durch das trauernde Nicht-Vergessen-Wollen der Mutter und das zornige Nicht-Vergessen-Können des Vaters ab- und zugleich anwesend ist.
Dank des Kriegstagebuches des Bruders, weniger persönlicher Erinnerungen und den Erzählungen von Schwester und Eltern, weiß der Autor, sich dem fremden Bruder, der eigenen sowie der gesamtdeutschen Vergangenheit zu nähern. Darüber hinaus schildert Uwe Timm das Schicksal und den Zustand einer Familie in Zeiten des Krieges. Der Vater versucht als Soldat, Pelzmantelhersteller, Präparator und Familienvater glücklich zu werden, doch scheitert er letztlich an eigenen Ansprüchen und gesellschaftlichen Bedingungen. Die Mutter, stets treu und ergeben, unterstützt Vater und Sohn in allen Belangen. Obwohl sie an der Richtigkeit des Krieges zweifelt, fügt sie sich dem Schicksal stumm und kritiklos. Die wirklichen Ausmaße des nationalsozialistischen Terrors werden ihr schließlich erst durch den Tod des ältesten Sohnes bewusst. Schwester und Bruder des Verstorbenen wachsen indes mit einem Bild des Bruders auf, das zwischen Bewunderung und Verachtung, Fragwürdigkeit und Schuldzuweisung schwankt. Uwe Timm als einzig noch lebendes Mitglied dieser Familie hat es sich nun zur Aufgabe gemacht, diese Widersprüchlichkeit zu ergründen. Behutsam und zugleich schonungslos zeichnet Uwe Timm ein alltagsnahes Bild der Kriegs- und Nachkriegswirklichkeit in Deutschland und analysiert, ohne anzuklagen, Motive, menschliche Abgründe sowie die Frage nach Schuld und Verantwortung. Dem älteren Bruder hingegen blieben diese Worte einst verwehrt, denn er beendete seine Tagebucheinträge mit einem für seine Generation bezeichnenden Satz: „Hiermit schließe ich mein Tagebuch, da ich es für unsinnig halte, über so grausame Dinge, wie sie manchmal
geschehen, Buch zu führen.“
Geschrieben von Grit Preibisch
von Archiv | 22.06.2006
Wenn eine Partei Bilanz über ihre Regierungszeit zieht, horcht sie in sich hinein, inwieweit die Interessen „derer da unten“ umgesetzt wurden. Die SPD-PDS-Koalition in M-V war 1998 ein Novum, bis heute wird sie skeptisch beäugt. Die Herausgeber haben Texte und Interviews von und mit PDS-Parteimitgliedern und linken Sympathisanten versammelt, die ehrlich mit Versäumnissen und Erfolgen umgehen. Allgemeine Betrachtungen zu sozialistischen Parteien in Regierungen werden durch Spezialbeiträge zu den einzelnen Politikfeldern in M-V ergänzt.
Wer sich mit einem Geleitwort von Hans Modrow nicht anfreunden kann, dem sei die weitere Lektüre nicht empfohlen. Fast alle Autoren haben DDR-Biographien und in den Texten wimmelt es zum Teil von Marx- und Engels-Fußnoten. Deren Sprache scheint aber wieder höchst aktuell, um die gesellschaftliche Wirklichkeit zu beschreiben. Die Texte sind jedoch nicht ideologisch verbrämt, sondern überraschend
pragmatisch.
Von dem hehren Ziel der „Transformation“ der „real existierenden kapitalistischen Gesellschaft“, das Modrow zum Geleit ausruft, blieb in den vergangenen sieben Jahren Regierungsbeteiligung nicht viel. Obwohl beispielsweise Hartz IV dem großen, arbeitslosen Bevölkerungsteil in M-V beinahe die Bürgerrechte entzieht, schaffte es die Linkspartei.PDS nicht, dem Gesetz einhellig zu widersprechen. Die Gründe dafür sind vielfältig, angefangen mit dem Kompromißzwang als Koalitionär und endend mit der immer geringer werdenden Gesetzgebungskompetenz der Länder.
Nach wie vor Ländersache ist die Hochschulpolitik. Doch Gerhard Bartels, Hochschulexperte der Partei aus Greifswald, zieht in seinem Beitrag eine ernüchternde Bilanz. Dass die Hochschulautonomie im Januar 2006 ad acta gelegt werden würde, ahnt er voraus.
Das Fazit der Herausgeber ist nach knapp 300 Seiten durchwachsen: Auf jeden Fall müsse wieder auf die „kleinen Leute“ gehört werden und notfalls auch eine Koalition aufgekündigt werden. Als Leser vermisst man die Erinnerung an 40 Jahre SED-Herrschaft, die nicht nur in der Linkspartei.PDS ihre Spuren hinterließ, sondern auch in der Gesellschaft, und die für viele der aktuellen Probleme verantwortlich ist. Der offene und streitbare Umgangston des Buches
läßt aber hoffen.
Geschrieben von Ulrich Kötter