Seien wir mal ehrlich: wer von uns hat sich nicht schon mindestens einmal aufgeregt über diese Stadt in der pommerschen Provinz, in der die Rentner beim bloßen Anblick von fünf Studenten auf Fahrrädern selber vom Rad kippen, die Kassiererinnen so unglaublich freundlich sind, in der Berlin so furchtbar weit weg ist und in der eigentlich immer ein kalter Wind von vorne bläst.
Doch wie ist das eigentlich andersherum? Was denkt sich ein Urgreifswalder bei dem Anblick der über 12 000 Studierenden, die in vielfältigster Weise die gesamte Stadt bevölkern.
Wir begeben uns auf die Suche und finden ein Urgestein: Karin Müller*, unsere Nachbarin, wohnt ihr Leben lang in Greifswald. In ihrem ordentlichen und sauberen Wohnzimmer mit sympathischem DDR-Charme erzählt sie uns bei selbst gebackenen Keksen, die „ von Weihnachten“ sind, aber noch hervorragend schmecken: „Erstmal ist Greifswald ja eine Universitätsstadt und das auch schon ewig. Es ist bekannt geworden durch die Universität und lebt auch davon. Für mich sind Studenten gar kein Problem. Es gibt natürlich auch Ärger. Das liegt aber nicht immer an den Studenten. Eigentlich vertragen sich die Bürger und die Studenten doch aber ganz gut.“ Karin Müller lächelt ein wenig. Ihre Kinder und jetzt auch einige ihrer Enkelkinder studieren ebenfalls. „Mein Sohn hat sogar hier in Greifswald studiert“, ergänzt sie und fordert uns auf, doch nochmal zuzulangen bei dem bunten Naschteller.
In perfekter Harmonie sitzen wir also bei unserer Nachbarin im Wohnzimmer und tauschen uns aus über das Student-Sein und das In-Greifswald-Leben aus und erfahren nebenbei noch, dass wir scheinbar leise genug sind. „Nur so ein Brummen höre ich manchmal. Aber Party? Kein Problem. Solange das nicht diese Technomusik ist. Sonst habe ich für Musik Verständnis. In jedem Haushalt kommt es vor, dass es laut ist.“ Es ist ja nicht so, dass wir hören wollten wie schrecklich „wir Studenten“ sind. Aber ein wenig enttäuscht sind wir schon bei so viel Toleranz. Nicht einmal eine leise Kritik.
Dabei entspricht Karin Müllers Ansicht offenbar ganz gut dem Bild, das die offizielle Stadtleitung vermitteln möchte. Auf der Homepage ist zu lesen: „Greifswald ist eine Universität mit Stadt drum herum. Rund 60 000 Einwohnerinnen und Einwohner leben in der Stadt am Bodden und haben „ihre“ 12 000 Studenten und Studentinnen ins Herz geschlossen. Jeder freut sich auf den Semesterbeginn, wenn die jungen Leute ihren Studienort wieder erobern.“ Scheinbar leben wir in einer Bilderbuchstadt. Doch so ganz realistisch erscheint uns das nicht.
Bei gefühlten minus fünf Grad und dem typischen Eiswind begeben wir uns auf den Marktplatz und bekommen nach unendlich vielen schroffen „Keine Zeit, lassen Sie mich in Ruhe“-Antworten von einem älteren, rüstigen Rentner mit Hut und Bügelfaltenhose eine deutliche Meinung gesagt. Wie er denn die Studenten in Greifswald ganz allgemein fände, fragen wir ihn. Ohne zu zögern und ungeachtet des ungemütlichen Wetters entlädt sich ein längerer Redeschwall in astreinem norddeutschen Dialekt: „Der größte Teil der Studenten ist sehr undiszipliniert, erstmal mit den Fahrradfahrern, sie fahren kreuz und quer, achten nicht auf den Bürger, der zu Fuß geht. Wenn man die dann drauf anspricht sind sie sehr unhöflich. Sie sollten lieber eine halbe Stunde früher aufstehen und nicht diese Hektik verbreiten. Das stört uns Bürger, die das lieber in Ruhe machen wollen.“
Mit dieser Antwort haben wir endlich einen Anhaltspunkt für unsere Zweifel an der perfekten Harmonie zwischen Stadt und Studierenden und haken beim Oberbürgermeister Dr. Arthur König nach. Wir treffen ihn höchst offiziell in seinem hellen und großzügigen Eckbüro im Rathaus mit Blick auf den Markt treffen. Der gewichtige Schreibtisch mitten im Raum und die imposanten Ölgemälden seiner Vorgänger an den Wänden bilden den Hintergrund für unser Gespräch. Während seine Sekretärin uns und seinem persönlichen Referenten Ekkehard Brunstein Kaffee einschenkt, erklärt Arthur König in seiner staatsmännischen Art: „Ohne die Studierenden wäre Greifswald nicht das, was es ist. Ohne sie wäre Greifswald ein kleines Städtchen in der Vorpommerschen Provinz. So sind wir zwar rein geografisch gesehen irgendwie immer noch in der Provinz, aber wir sind nicht provinziell. Und das haben wir in erster Linie der Universität zu verdanken.“
Ein hübsches, offizielles und pressetaugliches Statement. Aber gibt es wirklich keine Beschwerden über die fahrradfahrenden, lauten, respektlosen Studenten? „Manchmal bekomme ich Anrufe im Sommer, dass der Hafen nach dem Leben und Feiern nicht mehr ganz so aussieht wie vorher“, räumt Dr. Arthur König dann doch ein. „Das finde ich auch ganz ehrlich gesagt nicht gut. Wer feiert, der kann seinen Müll hinterher auch mitnehmen oder zumindest in die Müllcontainer werfen.“
Wir erinnern uns an dieser Stelle an ein Gespräch mit unserem Kommilitonen Michael Wellner, der in einer Kneipe aus einem Gespräch mal heraushörte, dass „diese Studenten schrecklich seien, weil sie die Mieten hochtreiben würden“ und konfrontieren den Oberbürgermeister mit dieser Aussage. Aber auch dafür hat er eine passende Antwort parat: „Vor zehn, fünfzehn Jahren dachten wir nicht, dass wir die Zwölftausendermarke jemals erreichen könnten. Damals hatten wir ganz andere Abrisspläne. Die haben wir schon zurückgenommen, da natürlich jeder auch vernünftigen Wohnraum angeboten bekommen soll. Von daher ist es keineswegs so, dass die Studenten Wohnraum wegnehmen. Wir haben reagiert und sind froh, dass Greifswald weiter wächst.“
Über zwölftausend Studierende sind mittlerweile an der Universität immatrikuliert. Nicht zuletzt deswegen haben sie sich in den letzten Jahren verstärkt in den Vorstadtgebieten angesiedelt. Dort prallen ab und an verschiedene Lebenswelten aufeinander, wie auch Robert Lösche erfahren musste. Er wohnte mit zwei Kommilitonen im Ostseeviertel und stieß mit seinem Tagesrhythmus nicht immer auf Verständnis bei den anderen Hausbewohnern. Oder Annette Schulz, die im Einwohnermeldeamt gesagt bekam, dass ihr als Studentin mit den 150 Euro Begrüßungsgeld und den ganzen anderen Vergünstigungen schon viel zu viel hinterhergeworfen würde.
Arthur König relativiert: „Das mag im Einzelfall so sein, das will ich auch gar nicht weg reden. Sicher ist das was anderes, wenn man zum Beispiel Nachbar einer Studenten-WG ist, in der vielleicht auch häufiger gefeiert wird. Vielleicht ist man selber auch Harzt-IV-Empfänger und sieht die andere Lebensweise. Natürlich kann es da zu Konflikten kommen. Aber ich denke, im Schnitt ist das nicht so. Insgesamt begrüßt die Greifswalder Bevölkerung die Universität und die Studierenden, das schafft ja auch ein ganz anderes Flair für Greifswald.“
Ein Flair von buntem Treiben und Lebendigkeit soll es sein. Ergänzt um ein paar Rentner, die möwenfütternd am Hafen sitzen. Sehr idyllisch. Da können Großstädte nicht mithalten. Und die Hauptstadtkinder, die am Dienstag kommen und Donnerstag wieder fahren, kann er übrigens überhaupt nicht verstehen. „Ich denke, diejenigen machen einen großen Fehler, wenn sie die Wochenenden nicht hier verbringen. Insbesondere in den Monaten von April bis September. Ich sehe keinen Grund, dann jedes Wochenende Greifswald zu verlassen.“ Arthur König selbst ist auch kein gebürtiger Greifswalder, sondern Zugezogener. „Ich bin 1969 nach Greifswald gekommen zum Studieren und hatte auch nicht die Absicht, hier für immer zu bleiben. Das hat sich dann irgendwie so ergeben.“ Und einem Mann in seiner Position glaubt man gerne, dass er dies wirklich nicht bereut.
Ach ja, die Studienzeit. Wie so viele, die angesichts dieses Wortes mit verzücktem Gesicht in Erinnerungen schwelgen, erzählt auch der Oberbürgermeister: „Ich bin Fleischerwiesenbewohner gewesen, es sah damals anders aus. Ich habe lange Jahre lang in Heim 5, dem für Physiker, gewohnt. Das war eine schöne Zeit, trotz aller Dinge, die man heute anders empfindet. Wenn man jetzt darauf schaut, würde man sagen: man man, wie haben wir damals in Vierbettzimmern gelebt?“. Und während er noch vor sich hin lächelt, ergänzt Ekkehard Brunstein: „Es gab so unglaublich viele Kneipen…“. Auch der Oberbürgermeister hat also früher einmal die Nacht zum Tag gemacht. Und Aktionen wie der Smartmob auf der Europakreuzung „gehören zum Privileg der Jugend und auch zu Greifswald dazu.“ Ob die Studenten sich damals besser eingefügt haben? „Das kann man gar nicht so vergleichen. Ich glaube, wir waren damals mit den dreieinhalb Tausend Studierenden nicht ganz so dominant in der Stadt. Das Leben hat sich mehr im städtischen Bereich abgespielt.“
Seit Ewigkeiten leben Studierende in Greifswald, bringen Kaufkraft und zahlen Mieten, bereichern das kulturelle Angebot und füllen die Stadt mit Leben. Greifswald wird die jüngste und dynamischste Stadt Mecklenburg-Vorpommerns genannt und ist im Ranking der lebenswertesten Städte bekannten Größen wie Jena oder Potsdam dicht auf den Fersen. Und schon immer gab es Konflikte. Schon immer waren „die Studenten“ zu rücksichtslos und zu unbekümmert. So viel Dynamik ist halt nicht jedermanns Sache und der Lebenswandel vieler jungen Menschen erscheint der älteren Generation häufig unmöglich und empörend. Wo viele Menschen aufeinander treffen, ist es offensichtlich doch nicht immer wie im Bilderbuch.
Wieder zurück bei Keksen und Schokolade im Wohnzimmer unserer Nachbarin folgen wir schließlich zustimmend ihren Worten: „Durch die vielen Studenten ist Greifswald eine junge Stadt. Ich finde das schön. Ich möchte auch nicht in einem Haus nur mit alten Leuten wohnen. Wenn ich meine Ruhe haben will, dann geh ich ins Altersheim. Als Student muss man sich allerdings vernünftig verhalten, schließlich haben die eine Art Vorbildfunktion. Und wenn diese Erwartungshaltung nicht erfüllt wird, dann sagt man ganz schnell:„Ach, die Studenten.“ Sicherlich haben junge Leute viele Freiheiten, aber im Grunde kann man froh sein, dass man ein geregeltes Leben hat. Man lebt doch immer mit einem schlechten Gewissen. Immer hat man Druck. Da beneide ich Sie nicht.“.
„Wir brauchen uns gegenseitig“, sagt der Oberbürgermeister. Denn was wäre Greifswald ohne uns Studenten? Und was wären wir ohne Greifswald?
Ein Artikel von von Mareike Wieland und Maria Strache