Oder: Warum mag kein Mensch Mathe?
Ein Versuch diesem Phänomen auf den Grund zu gehen.

Seitdem ich angefangen habe Mathematik zu studieren, kann ich Menschen um mich herum in zwei Gruppen einteilen:

  • Oh, das klingt interessant, was kann man damit machen?
  • Oh mein Gott, wie kann man bloß Mathe studieren?

Beide Aussagen halten sich etwa die Waage, doch ich habe das Gefühl, dass erstaunlich viele negativ eingestellt sind. Vielleicht trügt das auch, aber ich habe eher selten gehört, dass ein*e Germanist*in oder Wiwi-Student*in gehört hat, wie er*sie bloß etwas mit Deutsch oder Wirtschaft studieren kann. Oder die Biolog*innen, wie schrecklich Biologie wäre.

Warum gibt es offensichtlich eine generationenübergreifende Abneigung gegenüber Mathematik, seien es 14-jährige Schüler*innen oder meine über 70 jährige Oma?

Ich denke, dass ein Großteil des Problems in der Schule liegt. Über unser Schulsystem kann man erstmal denken, was man will, wir betrachten jetzt mal ausschließlich den Mathematikunterricht.

Die Variable mit dem größten Einfluss ist ohne Zweifel der*die Lehrer*in.

Ein kurzer Rückblick auf meine eigene Schulzeit zeigt dies sehr deutlich. In der 5. und 6. Klasse stand ich auf einer schlechten 3 in Mathe, da ich Bruch- und Prozentrechnung einfach nicht verstanden habe. In der 7. Klasse bekamen wir eine neue Lehrerin und es ging ohne größere Anstrengungen meinerseits auf eine gute 2. Hätte es diesen Wechsel nicht gegeben, würde ich diesen Artikel wahrscheinlich nie schreiben, da ich selbst auf der anderen Seite hängen geblieben wäre.

Aber jetzt ist natürlich die Frage, warum dieser Einfluss in Mathematik so riesig ist. In der Mathematik baut der Stoff aufeinander auf. Wer Probleme mit der Bruchrechnung hat, der wird immer wieder ins Schwimmen kommen und wer lineare Funktionen nicht versteht, dem werden auch quadratische Funktionen nicht leichter fallen.

Aber dieses Aufbauargument gibt es auch in anderen Schulfächern. Gerade Sprachen sind ein gutes Beispiel dafür.

Dazu sei gesagt, dass Mathematik und Sprachen sich in vielen Bereichen sehr ähneln. Manche stellen Mathematik sogar als eigene Sprache dar. In beiden Bereichen hat man Vokabeln und eine Grammatik, welche diese verbindet.

Interessanterweise sind Beliebtheit und Können bei vielen Menschen, die ich kenne, in der Mathematik und den Sprachen indirekt proportional verteilt. Wenn das eine gut läuft, ist das andere eher schlecht. Ich war beispielsweise immer eine Niete in Englisch und Französisch.

Doch warum ist das so?

Ich habe zwei mögliche Gründe gefunden: Es gibt in den Sprachen wesentlich mehr Vokabeln, welche gelernt werden müssen. Hier sind die Auswendiglerner im Vorteil. Dafür gibt es in der Mathematik eine wesentlich unerbittlichere „Grammatik“. Hier kommt es eher auf ein ein ausgeprägtes Logikverständnis an.

Bei den Sprachen ist es vielleicht nicht schön, wenn das Verb an der falschen Stelle im Satz steht, aber in der Mathematik kann die eine falsch angewandte Operation eine ganze Aufgabe zerschießen. Auch hier kann der*die Lehrer*in regulierend eingreifen. Gibt es in einer Arbeit Folgefehler oder nicht? Das entscheidet er*sie. Auf der einen Seite wird man möglicherweise nicht demotiviert, auf der anderen ist die Frage, wie viel man im Endeffekt aus dem Fehler lernt.

Doch bevor die Arbeit geschrieben werden kann muss der Stoff erst mal verstanden werden. Und hier liegt die größte Krux in der Sache. Mathematik ist nun mal eine ziemlich komplexe und damit nicht zwingend einfache Wissenschaft. Gleichzeitig sollte man das nicht direkt von Anfang an so vermitteln, da sonst erst recht eine skeptische Haltung wächst.

Und dann muss der Stoff auch noch so erklärt werden, dass ihn jeder versteht.

Das Problem ist, dass der*die Lehrer*in den Stoff schon verstanden hat, hofft man zumindest, und ihn schülergerecht verpacken muss. Das gelingt den einen besser und den anderen schlechter. Doch auch unter Lehrer*innen gibt es schwarze Schafe, welche den Schülern Angst machen oder nur ihren eigenen Rechenweg zulassen. Dabei ist es meiner Meinung nach eines der schönsten Dinge in der Mathematik, dass man über verschiedene Wege, seien es nun Abkürzungen oder Umwege, zum Ziel kommen kann. Andere Pädagogen*innen erarbeiten alles an Beispielen und erwarten dann, dass die Theorie klar wird oder erklären andersherum nur die Theorie ohne ein einziges Beispiel.

Und hier sind wir schon in der größten Problematik. Der großen Anzahl an Schülern*innen. Jede*r dieser Schüler*innen ist auf dem Beispiel-Theorie-Spektrum anders angeordnet.

Jetzt muss der*die Lehrer*in einen Zwischenweg finden, bei dem jede*r in der Klasse möglichst viel mitnehmen kann. Außerdem ist ein Problem von zu großen Klassen, dass der*die Lehrer*in jedes Thema unmöglich mehrfach erklären kann, obwohl es vielleicht einige wenige Schüler*innen nicht komplett verstanden haben, da der notwendige Stoff sonst nie komplett drankommen kann.

Ein Zwischenfazit: Nicht jede*r Schüler*in ist mit jedem*jeder Lehrer*in kompatibel. Die wenigsten Pädagog*innen schaffen es alle mitzunehmen.

Ein anderer Aspekt, der zum Teil von dem*der Lehrer*in, zum Teil aber auch von Verlagen, etc. bestimmt wird, sind die Aufgaben. Unsere Lehrerin hat uns in der Oberstufe einmal in den sauren Apfel beißen und 100 reine Ableitungsaufgaben rechnen lassen. Danach konnten es aber alle und wir konnten uns den spannenderen Aufgaben zuwenden. Wobei es in diesem Zusammenhang wieder Probleme gibt. Erstens das Rechnen der einfachen Aufgaben. Die Schüler*innen, die das Ganze verstanden haben, langweilen sich nach der Hälfte und der Teil, der es eben nicht versteht, ist nach der Hälfte so frustriert, dass er erst recht nicht versucht den Hintergrund zu verstehen.

Deswegen sollte es hier nicht übertrieben werden und vor allem ist ein solides Grundwissen wichtig, womit wir wieder beim Erklären durch den*die Lehrer*in sind.

Das zweite Problem ist „spannende“ Aufgaben zu finden.
Die meisten Anwendungsaufgaben sind einfach unrealistisch. Da fragen sich die Schüler*innen, wozu man das machen muss. Hier wäre es möglicherweise sinnvoll einen größeren Anwendungsbezug zu schaffen und eventuell auch fächerübergreifend zu arbeiten.

Außerdem sind die meisten Aufgaben so formuliert, dass es problematisch ist die Fragen zu erkennen. Hier kommt zum Tragen, dass es in der praktischen Anwendung eben auch darauf ankommt aus den Gegebenheiten die Problemstellung zu erkennen und Mathematik eben auch dafür gedacht ist, logisches Denken zu schulen, doch teilweise wird hier stark übertrieben.

Jetzt betrachten wir noch einige Probleme, welche vom Fach Mathematik als solches abhängen. Die Mathematik ist exakt. Hier ist meistens nur eine oder eine genau bestimmte Anzahl an Lösungen richtig.

1 + 1 = 2 und nicht 2,01 oder 1,97.

In vielen anderen Fächern kann man eine Antwort elegant umschreiben, wenn man die Lösung nicht so genau weiß. In Mathe steht entweder die richtige Lösung da oder eben nicht.

Auf der anderen Seite gibt es hier aber keine Diskussionen und Interpretationsspielraum. Das kann auch ein Vorteil sein.

Und abstrakt ist das Ganze auch noch. Addieren und Multiplizieren von natürlichen Zahlen geht ja noch. Da kann man sich noch etwas drunter vorstellen. Aber wenn es an das Potenzieren geht wird es schwieriger. 2^x ist eben nicht x^2. Oder das Addieren und Multiplizieren von Brüchen. Das macht zwar durchaus Sinn, ist aber nicht wirklich intuitiv. Bei dem einen muss man den Nenner anpassen, bei dem anderen nicht und welches ist nun was…

Und die Buchstaben machen das Ganze dann noch komplexer. Eigentlich sind es ja nur Platzhalter, aber das muss dann auch erstmal verstanden werden.

Kleiner Fun-Fact: Unserem Algebra-Professor geht inzwischen auch das griechische Alphabet aus.

Und das eigentliche Problem geht noch wesentlich eher los. Möglicherweise schon im Moment unserer Zeugung.

Es gibt aktuell noch keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, aber man nimmt zum Teil an, dass sich das Talent für Logik in unseren Genen widerspiegeln könnte.
Also sind unsere Eltern an diesem Dilemma schuld? Gene hin oder her: Auch so haben unsere Eltern einen großen Einfluss, da unsere Genetik nur einen gewissen Teil unserer Persönlichkeit ausmacht.

Und ich meine damit nicht, dass uns eingetrichtert wird, Mathe nicht zu mögen. So etwas läuft dann doch meist sehr unterbewusst ab.

In unserer Gesellschaft scheint es inzwischen regelrecht akzeptiert zu sein, dass man Mathematik nicht mag. In keinem anderen Schulfach oder allgemein Fachgebiet hört man so oft auf ein „Ich kann/mag das nicht.“, ein „Das ist nicht schlimm, das konnte ich früher auch nicht.“ oder „Wer mag das schon?“.

Also wird einem von früh an vermittelt, dass es in Ordnung ist, Mathe nicht zu mögen. Somit fehlt einem möglicherweise schon von Anfang an oder spätestens wenn es schwierig wird die Motivation sich mit dem Problem auseinander zu setzen.

Dazu kommt das Problem der selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn man bei Schwierigkeiten davon ausgeht, dass man es sowieso nicht schafft, dann wird es erheblich schwerer. Dadurch verliert man irgendwann den Anschluss, kommt nicht mehr mit und hat noch mehr Probleme.

Ein weiterer Punkt, den ich nur aus der Sicht einer Frau bzw. eines Mädchens einschätzen kann, ist der Einfluss der Medien. Gerade wenn man als Jugendliche auf die weiterführende Schule kommt, liest man Literatur, in der Mathematik im besten Fall neutral behandelt wird. Seien es “Die Wilden Hühner”, bei denen die Hauptfigur Sprotte Mathe hasst, seien es die “Biss”-Bücher in denen Bella schlecht in Mathe ist und lieber Literatur studieren möchte.
Oder schon im Kindesalter, wenn Bibi Blocksberg sich über das furchtbare Fach Mathematik aufregt.

Inwieweit sich das heute geändert hat und welche Rolle soziale Netzwerke spielen kann ich gar nicht einschätzen.

Interessanterweise haben Studien gezeigt, dass Frauen größere Angst vor Mathe haben als Männer, obwohl objektiv kein fachlicher Unterschied zwischen den Gruppen besteht.

Doch auch hier können mehrere Ursachen vorliegen. Vielleicht geben Männer in Befragungen seltener zu, Angst vor etwas zu haben.

Ein weiteres Argument könnte auch die Beziehungsstrukturen an Schulen sein. Sucht man mit der Bildersuche im Internet nach Mathematik sieht man vor allem Tafeln mit kompliziert aussehenden Formeln. Sucht man nach Mathematiker stehen vor diesen Tafeln meist ältere Männer mit komischen Frisuren, welche allgemein etwas verschroben aussehen.

Dieses Bild scheint auch in den Köpfen vieler Schüler*innen abgespeichert zu sein. Wie schnell werden Mitschüler*innen, die gut in Mathe oder wahlweise auch Physik oder ähnlichen Fächern sind, als Streber abgestempelt. Schüler*innen oder Studenten*innen werden sich nicht bewusst dafür entscheiden, schlecht in Mathe zu werden, allerdings könnte das durchaus einen Einfluss haben, nach dem Motto: Ich will nicht so sein, wie die.

Die sind komisch, haben keine Freunde und reden über Dinge die keiner versteht. Ich kann vielleicht kein Mathe, dafür habe ich soziale Kompetenzen.

Jetzt sind wir aber alle von der Schule runter und auf die Uni rauf. Man hat sich irgendwie durch das Matheabitur geschwurbelt und war froh nie wieder davon zu hören. Doch da lugen schon Mathe I, Statistik und ähnliche Fächer um die Ecke. Jetzt geht das Ganze von vorne los.

Formeln, die man im besten Fall auch noch versteht. Irgendwelche Anwendungen, die in der Realität wenig Sinn machen. Und nachdem die Vorlesung schon weit fortgeschritten ist, kommt der Professor damit an, dass man das, was man in den letzten Wochen mühsam per Hand gelöst hat, in sekundenschnelle durch Programme bewältigt werden kann.

Warum zur Hölle muss man vorher das Ganze theoretisch machen und in der Prüfung, trotz Programmen, das Ganze nochmal so können? Nun, woher soll man wissen, ob das Programm gerade alles richtig macht, wenn man nicht zumindest eine Vorstellung davon hat, was herauskommen soll?

Und ein kleiner Hinweis an die Dozenten*innen: Vielleicht kann man stärker passende Forschungsmethoden mit in die Vorlesungen einfließen lassen. Oder Fragestellungen aus den individuellen Fächern besprechen, statt nur konstruierte Anwendungen abzufragen. Und von vornherein mit passender Software arbeiten und die Theorie parallel vermitteln.

Da wir nun geklärt haben, woran es liegen könnte, warum so viele Menschen Mathe nicht mögen, möchte ich noch kurz auf die andere Frage eingehen, welche mir oft, auch während der Recherche hierzu, gestellt wurde. Was macht man damit und wozu braucht man das überhaupt?

Ein Beispiel ist die Wettervorhersage für die nächsten Tage. Kann ich morgen schwimmen gehen oder muss ich den Regenschirm einstecken? Hier sind unter anderem Statistik und Differentialgleichungen, zum Teil mit der Differential- und Integralrechnung aus der Schule, gefragt.

Es kann nicht schlecht sein, ein bisschen was zu verstehen, was die Bank mit deinem Geld macht oder ob sich eine Versicherung lohnt. Hier sind Prozent- und Zins- sowie ein bisschen Wahrscheinlichkeitsrechnung benötigt. Häuser, Brücken und Straßen würden ohne Statiker*innen nicht stehen. Verkehrsplaner*innen müssen, um Staus zu verhindern, nicht nur wissen wo, sondern vor allem wann zu viele Autos kommen und die Straßen verstopfen. Auch hier hilft Differentialrechnung.

In der Medizin läuft heute nichts mehr ohne Mathematiker und Informatiker. Die anfallenden Datenmengen sind so riesig, dass sie sonst gar nicht mehr erfasst werden können. Es werden mathematische Modelle benötigt um Probleme vorherzusagen oder auch erst zu entdecken. Auch die ganzen Programme, die uns heute so viel Arbeit abnehmen, mussten erst von Mathematiker*innen entwickelt werden.

Seien es nun grundlegende analytische Methoden von vor 2000 Jahren oder statistische Verfahren aus dem letzten Jahrhundert: Es werden immer wieder Methoden neu und weiter entwickelt. Dafür brauchen wir Mathematiker*innen.

Wer noch mehr zu dem Thema lesen möchte, der kann hier ein Interview mit dem ehemaligen Greifswalder Professor Jürgen Flachsmeyer finden.

Vielen Dank an Frau PD Dr. Anette Hiemisch und Frau Dipl.-Psych. Ramona Stock für die hilfreichen Informationen.