Der Mitte 2015 erschienene Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse hat bestätigt: Mehr als jeder fünfte Student bekommt es während seines Studiums mit psychischen Problemen zu tun. Darunter besonders häufig Angststörungen und affektive Störungen, wie etwa Depressionen.

Stress und Überarbeitung gehören heutzutage zum Alltag vieler Menschen. Auch vor Studierenden machen sie nicht Halt. Laut Angaben der Techniker Krankenkasse leiden mehr als 21 Prozent von ihnen unter psychischen Problemen. Frauen sind davon ungefähr doppelt so häufig betroffen wie Männer. Knapp acht Prozent der deutschen Studierenden sind von „Affektiven Störungen“ geplagt, der Großteil fällt auf Depressionen. 15 Prozent aller Hochschüler entwickeln in ihrem Studium Erkrankungen der Kategorie „Neurotische, Belastungs- und Somatoforme Störungen“, darunter 3,9 Prozent Angststörungen und 6,6 Prozent Somatoforme Störungen, also körperliche Beschwerden ohne organische Ursache. Studien zeigen, dass die Probleme meist vom ersten bis zum letzten Semester zunehmen.

Bei einigen ist der Leidensdruck so groß, dass sie nicht mehr ohne professionelle Hilfe auskommen. Immer häufiger wird eine medikamentöse Behandlung notwendig. Was die genauen Ursachen für diese Häufung sind, ist nicht abschließend geklärt. Auch früheren Generationen wurde es in der Welt der Akademiker nicht unbedingt leicht gemacht. Wahrscheinlich ist jedoch: Abschalten und Entspannen war angesichts der Reizüberflutung in Generation Y früher einfacher.

webmoritz. hat zwei psychische Störungen näher unter die Lupe genommen: Das Burnout-Syndrom, dessen Symptomatik gewisse Ähnlichkeiten zur Depression aufweist, das dabei jedoch als „kontext-bezogen“ gilt, weil die Ursachen konkret in einer andauernden Überlastung zu suchen sind. Außerdem betrachten wir den Problemkomplex Prüfungsangst & Prokrastination aus der Kategorie der Angststörungen.

Prüfungsangst und Prokrastination

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Probleme, den Kopf während der Lernphase frei zu bekommen, ein flaues Gefühl in der Magengrube und Aufregung vor Prüfungen? – Fast jeder Studierende ist davon betroffen. Bis zu einem gewissen Grad ist das normal und sogar notwendig. Was aber genau sind dann Prüfungsangst und Prokrastination? Wann wird es krankhaft und was kann man dagegen tun? Der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut Frank Herzer kennt sich auf diesem Gebiet aus und hat uns einige Informationen zur Verfügung gestellt.

Der Begriff „Prokrastination“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „auf den morgigen Tag verlegen“. Wer „prokrastiniert“ tut zunächst einmal nichts anderes als notwendige Tätigkeiten aufzuschieben. Die Konfrontation mit lästigen, aversiven Aufgaben, wie etwa dem Lernen, wird herausgezögert. Oftmals werden zur Beruhigung des schlechten Gewissens stattdessen alternative unangenehme Aufgaben, gegen die die Abneigung allerdings nicht ganz so groß ist, in Angriff genommen. – Das Zimmer aufzuräumen ist in der Prüfungsphase plötzlich das kleinere Übel.

„Prüfungsangst“ stellt eine intensive Reaktion vor, während und/oder nach einer Bewertungssituation dar. Anzeichen der Prüfungsangst können sich auf verschiedenen Ebenen bemerkbar machen. Symptome können kognitiver Natur, wie beispielsweise Konzentrationsstörungen oder Blackouts, und emotionaler Natur, wie etwa Panik- oder Angstattacken, sein. Auch körperliche Äußerungen der Prüfungsangst sind möglich und nicht selten. Oft sind es Magen-Darm-Beschwerden, Kopfschmerzen oder Unruhe. Schließlich ist auch das eigene Verhalten betroffen: Das Lernen wird hinausgezögert (Prokrastination als Symptom der Prüfungsangst), Prüfungssituationen werden durch Krankschreibung umgangen, manch einer kapselt sich sogar von seinem sozialen Umfeld ab. Neben der objektiven Bedrohlichkeit einer Prüfung, im Sinne von „Durchfallen“, „die geforderten Leistungsnachweise nicht erbringen können“, ist vor allem eine subjektive Komponente ausschlaggebend für Prüfungsangst: Das eigene Selbstwertgefühl ist im Falle des Scheiterns akut bedroht.

Besonders von Prüfungsangst betroffen, sind daher Personen, die ihr Selbstwertgefühl in hohem Maße aus ihrem Studienerfolg schöpfen und bei denen es wenig andere Quellen für das eigene Selbstwertgefühl, wie etwa Hobbies oder Freundschaften, gibt. Auch Personen, die einen Hang zum Perfektionismus haben, sind stärker gefährdet. Prüfungsangst und Prokrastination können daher manchmal auch eine subtile selbstwertschützende Komponente beinhalten, die dem Betroffenen vielleicht gar nicht bewusst ist: Es sei allgemein bekannt, dass „Angst einerseits Leistung beeinträchtigen kann und andererseits einer Person moralisch nicht anzulasten ist, da sie sich ihrer rationalen Kontrolle entzieht“, erklärt Herr Herzer. „Man stelle sich vor, perfekt vorbereitet in eine Prüfung zu gehen und dann doch zu versagen. Ist es nicht viel schwerer mit einem Prüfungsversagen umzugehen, wenn ich mich vorher mit aller Kraft vorbereitet und angestrengt habe, alles investiert und gegeben und schlussendlich doch versagt habe? Wenn ich dagegen, durch meine lähmende Angst beeinträchtigt, zu spät angefangen oder zu wenig Aufwand betrieben habe und mich permanent nicht auf die Arbeit konzentrieren konnte, so ist ein Misserfolg immer noch auf diese Ursachen rückführbar und ich muss nicht an meinen grundlegenden Fähigkeiten – oder gar meiner Intelligenz – zweifeln. Es ist jedoch ganz und gar nicht so, dass Betroffene ihre Ängste oder Probleme absichtlich haben oder nur ‚simulieren‘ beziehungsweise künstlich verstärken, um sich dadurch bestimmte Vorteile zu verschaffen, sondern es handelt sich eher um eine unbewusste und unwillkürliche, verinnerlichte Bewältigungsstrategie für die immense emotionale Bedrohung und Belastung“, so Herzer. Dieser Mechanismus des „Selbstwertschutzes durch Self-Handicapping“ spiele nicht bei jedem Betroffenen eine Rolle, sei jedoch aufgrund der „versteckten hilfreichen Funktion” dieser Symptomatik, dem sogenannten „Sekundären Krankheitsgewinn“, wichtig zu erkennen.

Trotz alldem ist ein gewisses Ausmaß an Aufregung und „Angst“ vor einer Prüfung normal und nicht jeder, dem vor einer Klausur „die Sause geht“ leidet unter ernsthafter, behandlungsbedürftiger Prüfungsangst. Eine gewisse Grundaufgeregtheit vor einer Prüfung ist, ganz im Gegenteil, sogar förderlich und notwendig: Sie mobilisiert Energiereserven im Körper und sorgt für Konzentriertheit und Fokussierung auf die Prüfungssituation. Erst wenn ein mittleres Maß an Aufregung überschritten wird, kann sich das kontraproduktiv äußern. „Anzeichen für eine nicht mehr gesunde Prüfungsangst können beispielsweise ein permanenter Leidensdruck, eine Verringerung der subjektiven Lebensqualität, körperliche und psychische Beeinträchtigungen, wiederholte Prüfungsmisserfolge als Folge der Prüfungsängste und auch resultierende Studienzeitverlängerungen sein“, berichtet Frank Herzer.

Wenn Prüfungsangst und Prokrastination „sehr belastende, beeinträchtigende und nachhaltig schädigende Ausmaße“ annehmen, „zu schlechteren Noten oder sogar zum Abbruch des Studiums führen“ oder möglicherweise mit anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Sozialer Phobie oder Suchterkrankungen gemeinsam auftreten“, dann sei eine professionelle Behandlung notwendig und möglich, so Herzer. Prüfungsangst sei zwar in dem in Deutschland verwendeten Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen (ICD-10) nicht als eigenständige Diagnose aufgeführt, wird dort jedoch als eine Form der „Spezifischen Phobien“ definiert und kann dementsprechend als solche diagnostiziert und behandelt werden“, so Herzer weiter.

Wichtig ist auch, mit vertrauten Personen über die eigenen Probleme zu reden, sich mit Kommilitonen auszutauschen und zu erkennen, dass man oftmals nicht alleine mit der Problematik dasteht. Hilfreich kann auch das Bilden von Lerngruppen sein, in denen man sich gegenseitig unterstützt und motiviert , „sich vor allem aber auch damit konfrontiert, sein Wissen vor anderen präsentieren zu müssen“, berichtet Frank Herzer. Dort wird oft auch klar, dass andere dieselben Probleme mit dem Lernstoff haben und man selbst nicht „dümmer“ dasteht, sondern vielleicht nur übertriebene Anforderungen an sich selbst stellt. Ebenfalls hilfreich können verschiedene Entspannungstechniken, wie autogenes Training oder progressive Muskelentspannung, sein. Da Entspannung und physiologische Erregung (auch Angstreaktionen) nach einem antagonistischen Prinzip funktionieren, das heißt sich gegenseitig ausschließen, kann man mit Entspannungsübungen der muskulären Anspannung und körperlichen Erregung, die neben dem ‚Besorgtheitsfaktor‘ die zweite Komponente von Prüfungsangst ausmachen, entgegen wirken. Sollten die eigenen Bemühungen schließlich nicht mehr ausreichen, so ist die Wirksamkeit von Psychotherapie, insbesondere der Verhaltenstherapie, bei Prüfungsangst wissenschaftlich belegt. „Dabei wird zunächst im Rahmen der therapieeinleitenden Diagnostik genau nach den Ursachen der individuellen Probleme gesucht um nachfolgend gemeinsam mit dem Betroffenen entsprechende Behandlungselemente auszuwählen und durchzuführen“, schildert der Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Dazu können beispielsweise die Vermittlung von Lernstrategien und -techniken, die Stärkung des Selbstwertgefühls oder die Strukturierung der Work-Life-Balance gehören.

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