Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Was für eine verrückte Nudel, typisch Amis! Der Zug hält an einer weiteren Station auf meinem langen Weg nach Hause. Ich ignoriere den Bahnhof gekonnt und stecke mir stattdessen noch einmal die Kopfhörer in die Ohren, um der Weih­nachtsmusik im Bordprogramm zu lauschen. Eine schrecklich übertriebene Version von „Jingle Bells“ gesungen von einem Kinderchor dringt wie ein Hammerschlag durch meinen Kopf. Ich stelle das Radio ein wenig leiser, dann aber erscheint es mir gar nicht mehr so lästig. Mittlerweile ist es später Abend und ich bin nur noch weniger als eine Stunde von Zuhause entfernt. Ich freue mich so sehr auf meine Eltern, auf den Weihnachtsbaum, auf das Familienessen, Plätzchen, Rosenöl, und alles, was sonst noch dazu gehört. Scheinbar hat mich die Weihnachtsstimmung eingenommen und in einen Schwebezustand zwischen Sentimentalität und völliger Zufriedenheit versetzt.

Ich merke, wie jemand sich auf den Platz neben mir fallen lässt. Der Mann ist jung, kaum älter als ich, ein dunkler schwarzer Mantel ver­hüllt beinahe seinen ganzen Körper. Sein grünes Haar leuchtet auffällig wie eine Fackel, auch wenn sein Gesicht mir verrät, dass er wohl im Moment nichts mehr hasst, als aufzufallen.

Ich beschließe, seinem Wunsch nachzukommen, wende mich dem Fenster zu und schließe die Augen, um Jingle Bells eine weitere Chance zu geben, sich aus meiner Liste der quälendsten Weih­nachtslieder herauszuarbeiten. Draußen ist es nun so finster, dass ich nur noch ab und zu helle Lich­ter in der Ferne erkennen kann, sonst aber nichts.

Der Typ neben mir versetzt mir einen Stoß gegen den Oberarm, zwar nicht hart, aber er lässt mich zusammenfahren. Ich wirble zu ihm herum und reiße mir die Stöpsel aus den Ohren, ein wenig zu schnell.

»Hey«, fährt der Grünhaarige mich an, »mach mal dein Gedudel aus!«

Seine Stimme ist tief und böse und ein beklemmendes Gefühl kommt in mir auf. Ich frage mich, ob er betrunken ist, beschließe dann aber, dass es keinen Unterschied macht. Er hat schlechte Laune, äußerst schlechte Laune, und ob betrunken oder nicht, ich möchte keinen Ärger.

Bereitwillig stelle ich das Radio aus, nehme mir aber vor, den Typen nicht so einfach davonkom­men zu lassen. »Noch keine Weihnachtsstimmung?«, versuche ich es vorsichtig. Die Antwort kommt knapp, schnell gesprochen wie ein einziger Schuss aus einem Gewehr. »Seh’ ich so aus?« Überhaupt nicht, geht es mir durch den Kopf, aber ich zwinge mich, es nicht laut auszusprechen.

Er seufzt und verschränkt die Arme vor der Brust. Als hätte er nicht zuvor schon bedrohlich ge­nug ausgesehen. »Geb’ bloß nicht viel auf diesen ganzen Weihnachtsklamauk.« Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich es dabei belassen und ihn einfach weiterhin igno­rieren sollte, aber nun hat er mich doch neugierig gemacht. Ohne die Augen von ihm abzuwenden, verstaue ich die Kopfhörer in meiner Hosentasche, ein wenig unbeholfen. »Wie meinst du das?«

Er lacht, als wäre diese Frage albern. Ich frage mich, ob er damit recht hat. »Monate vor Weih­nachten gibt’s nur noch Lebkuchenherzen und Stollen im Supermarkt. Überall dieses Weihnachts­gedöns, Last Christmas und dieses beschissene Rentier – «

»Rudolph«, werfe ich ein und beiße mir darüber sofort auf die Unterlippe. Ich hatte mir nicht vorgenommen, ihn zu unterbrechen, aber ich merke, wie sein Hass auf Weihnachten auch meine mühsam erarbeitete gute Laune zum Einsturz bringt.

Seine Augen funkeln mich an wie polierte Messer. Aus irgendeinem Grund erinnert mich Vieles an ihm an eine Waffe. »Ja. Die wollen doch nur Geld machen, diese Kapitalistenschweine. Deshalb heißt es im Bäcker nicht mehr Kaffee mit Milch sondern Kaffee mit Weihnachtsschnee. Und das Schlimmste ist, dass die meisten Leute zu dumm sind, es zu merken. Die lassen sich weiter einlul­len und kaufen den ganzen Scheiß, nur weil die Firmen ihnen das Gefühl geben, dass sie es brau­chen, weil dieses Fest da ist, Weihnachten.« Er speit das Wort aus, als wäre es Gift auf seiner Zunge.

Jetzt verschränke auch ich die Arme vor der Brust, als könnte mich das vor der Wut und der Ver­achtung des Typen schützen. »Wohl ein Atheist?«, frage ich, ohne dabei vorwurfsvoll klingen zu wollen. Nach wie vor bin ich nicht auf Streit aus. »Agnostiker«, berichtigt er mich.

Dann gibt es also noch Hoffnung, freue ich mich im Stillen. »Hast du den Kerl gesehen, diesen Schaffner, vorher in dem anderen Zug, mit der Weihnachtsmannmütze?« Er lässt mir keine Zeit, ein begeistertes Ja, der ist toll! zu erwidern, sondern fährt ungehindert fort: »Abartig!«

Mein Mund verzieht sich zu einem umgedrehten Lächeln. Ich lasse meinen Blick aus dem Fens­ter hinaus schweifen, um den Kerl nicht mehr ansehen zu müssen. So weit ist es nicht mehr bis nach Hause. Vielleicht sollte ich einfach am nächsten Bahnhof aussteigen und laufen. Alles erscheint mir besser, als weiter neben diesem Weihnachtshasser sitzen zu müssen.

Zum Glück hat der Typ gerade erst richtig angefangen. »In den Schaufenstern streuen sie Kunstschnee aus und stellen Schlitten und den ganzen Mist da rein, damit die Leute in Läden gehen, in denen es gar keine Schlitten zu kaufen gibt. Fast-Food-Ketten verkaufen Glühwein. Und dann auch noch die ganzen Schwibbögen und Weihnachtssterne in den Fenstern, obwohl nur die wenigs­ten wissen, warum Weihnachten überhaupt gefeiert wird. Dann stellen die sich nadelnde Bäume ins Haus – «

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz