Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Ich lehne mich zurück, schließe die Augen, und, obwohl ich mir schwöre, nicht mehr an den Hund zu denken, glaube ich ihn noch immer riechen zu können – den Hundekeks, den Frauchen extra für mich gebacken hat. Die zweite Schaffnerkontrolle weckt mich wieder. Und kurz darauf ertönt die Durchsage der DB mit Hinweisen auf weitere Serviceleistungen.

Kurz nach der Einladung des Zugführers, dem Bordbistro einen Besuch abzustatten, sehe ich, dass der Mann aus der Sitzreihe vor mir sich erhebt und Richtung Bordrestaurant verschwindet. Ich ziehe es nicht einmal in Erwägung der Einladung zu folgen. Selbst wenn ich Hunger hätte, übersteigen die Preise hier im Zug doch leicht den Rest meines noch verfügbaren Monatsbudgets. Und außerdem habe ich ja noch mein Lunchpaket im Rucksack. Ich denke an die liebe alte Dame, die mir im vorherigen Zug gegenüber gesessen und mit beständiger Regelmäßigkeit Schokolade angeboten hatte. Beinah überlege ich, ob die Pralinen in ihrer Tasche nachgewachsen waren, denn sie schienen einfach nicht weniger geworden zu sein.

Wenn es so etwas gäbe, wäre das fast wie der Himmel auf Erden. Immer nachwachsende Weihnachtsschokolade… Sobald ich mir diesen Gedankengang jedoch bis zur letzten Konsequenz vorstelle, verwerfe ich ihn ganz schnell wieder als unbrauchbar und doch nicht so cool.

Mich nervt es ja schon, dass man ab Ende August Dominosteine und Stollen kaufen kann. Wenn ich mir vorstelle, dass ich das Zeug schon zu Ostern haben könnte, müsste, sollte… Das ist doch schließlich das Tolle an Saisonware, dass man sie eben nur zu gegebener Zeit bekommt. Damals im Kindergarten haben unsere Kindergartentanten ein riesiges Trara daraus gemacht, als zum ersten Advent Stück für Stück Weihnachtsdeko gebastelt und aufgehängt wurde, und es mittags zum Nachtisch ein kleines Schokolebkuchenherz gab. Ich muss schmunzeln, als mir einfällt, wie wir später in der Grundschule mit Pfeffernüssen und Unmengen Zuckerguss kleine Schneemänner gebastelt haben, die wir dann unseren begeisterten Eltern zum Nikolaus geschenkt haben. Das heißt, meine Klassenkameraden haben ihre Schneemänner wohl verschenkt. Meiner war ziemlich missglückt und wollte einfach nicht in der Form bleiben, weshalb ich mich in Grund und Boden schämte und das süß-klebrige Gebilde auf dem Heimweg einfach selbst aß. Ich glaube, seit ungefähr diesem Tag mag ich keine Pfeffernüsse mehr.

Eine Duftnote, die mit dieser Erinnerung überhaupt nicht zusammenpassen will, streift meine Nase. Bratwürstchen. Mein Vordermann ist aus dem Bordbistro zurückgekehrt und trägt die kleinen Würste auf einem Pappteller an mir vorbei auf seinen Platz. „A Gut’n“, wünscht sein Nebenmann und verfällt in einen bayerischen Monolog, von dem ich kein Wort mehr verstehe.

Ist mir aber auch egal, denn mir ist gerade eine Idee gekommen. Etwas ungewöhnlich vielleicht, aber auf dieser Bahnfahrt ist schon so viel passiert, das außergewöhnlich ist, dass ich dieses Experiment nun einfach wagen muss.

Ich nehmen Blickkontakt zu der alten Dame auf, die mir gerade gegenüber sitzt und das Bahn-Magazin durchblättert hat. „Darf ich Sie mal etwas fragen?“

„Aber sicher“, antwortet die Dame und legt das Magazin zur Seite. „Wie riecht für Sie Weihnachten?“ Für einen Augenblick scheint die Dame sichtlich irritiert zu sein. Aber dann lächelt sie und denkt eine Weile nach.

„Interessante Frage“, hält sie mich hin, „wirklich schwierig… Da fallen mir direkt so viele Gerüche ein, die mit Sicherheit logisch wären. Zimt und Orange und so weiter. Aber Sie meinen bestimmt etwas anderes, nicht wahr? Etwas Persönliches?“

Ich nicke. Obwohl ich darüber gar nicht so genau nachgedacht habe, bevor ich meine Frage stellte. „Frisches Leinen“, antwortet die Dame schließlich. Nun ist die Überraschung auf meiner Seite. Abgesehen davon, dass ich keine Ahnung habe, wie frisches Leinen riecht, wäre ich nie im Leben auf diesen Geruch gekommen.

„Das muss ich erklären“, meint die alte Dame auch direkt. „Bei uns ging man früher sehr sparsam mit der Weißwäsche um. Die gute Stube war ja sowieso nur am Wochenende geöffnet, ansonsten hielt man sich in der Küche auf, und da legten wir selten ein Tischtuch auf. Aber an Sonn- und Feiertagen wurde ein weißes Tischtuch aus dem Schrank geholt. Vor Weihnachten wurde noch einmal große Wäsche betrieben. In großen Töpfen haben meine Mutter, meine Tante und ich damals in der Küche Tischdecken und Gardinen gewaschen. Dann wurde Wäsche gereckt und später in die Heißmangel nebenan gegeben. Wenn die Tischdecken von dort zurückkamen, rochen sie so herrlich, und da wusste ich immer: Jetzt ist Weihnachten!“

Der Blick der alten Dame wandert gen Decke, als wäre sie mit ihren Gedanken völlig in der Vergangenheit abgetaucht. Vom Nachbartisch meldet sich ein Mann zu Wort, der bisher geistesabwesend auf sein Handy eingetippt hat.

„Von solchen Waschaktionen hat meine Oma auch noch erzählt. Ist heute irgendwie schwer vorstellbar. Wir stecken einfach so, ohne Nachdenken, unser Zeug in die Waschmaschine und damit hat es sich dann…“

Die alte Dame macht eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, das klingt bei mir jetzt im Nachhinein so romantisch. Aber ich sage Ihnen, ein Spaß war das damals nicht. Es ist ganz schön anstrengend, von Hand zu waschen.“

„Gibt es für Sie denn auch einen Geruch, den Sie mit Weihnachten verbinden?“, frage ich, bevor sich zwischen den beiden eine Diskussion über die Vor- und Nachteile von Handwäsche entspinnen kann.

„Da muss ich nicht lange nachdenken“, antwortet der Mann ohne zu zögern. „Bohnerwachs.“

„Bohnerwachs?“, frage ich mit großen Augen. Schon wieder so etwas, was ich nur vom Hörensagen kenne. Vermutlich wegen Udo Jürgens verbinde ich Bohnerwachs mit Spießigkeit. Aber letztendlich ist mir dieser Geruch genauso fremd wie der von frischem Leinen.

„Meine Mutter poliert jedes Jahr vor Weihnachten das Parkett zu Hause mit dem Zeug. Früher hat sie meinen Bruder und mich immer zur Nachbarin geschickt, damit wir ihr zu Hause nicht auf dem frisch gebohnerten Boden herumsprangen. Wir durften dann tatsächlich auch bis zum Weihnachtsabend das Wohnzimmer nicht mehr betreten.“

Der Mann lacht amüsiert auf. „Eigentlich völlig verrückt. Meine Mutter stöhnt seit Jahren, dass das so viel Arbeit ist, und dass ihr Rücken das schon gar nicht mehr mitmacht. Aber sie überhört stur die Einwände von dem Rest der Familie, es mit dem Polieren doch einfach sein zu lassen. Ohne Bohnerwachs ist für sie nicht Weihnachten.“

„Wie merkwürdig“, denke ich. Die meisten Gerüche, die wir mit Weihnachten verbinden, stammen aus der Kindheit. Ich erzähle, dass mir neben Schokolade und Plätzchengeruch auch der Geruch von Rosenöl in den Sinn kommt. Mit Rosensalbe hat meine Mutter mir früher Gesicht und Hände eingerieben, wenn ich in der Kälte gespielt hatte. Und im Wohnzimmer stand eine Duftlampe, in deren Wasser zwei Tropfen Rosenöl vor sich hin dampften.

Ein Gefühl von Behaglichkeit macht sich in mir breit und ich werfe mal wieder einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis ich zu Hause bin.

Ob mir der Geruch von Rose wohl als erstes in die Nase kommen wird?

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz