Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Wahnsinn“, flüstere ich. „Hast du das gezeichnet?“ „Ja“, entgegnet die Studentin scheinbar leichtfertig. Aber ein gewisser Stolz schwingt in ihrer Stimme mit. „Das ist absolut krass.“ „In dem Plan meiner Eltern für mein Leben aber leider auch nicht vorgesehen. Kunst ist nicht sinnvoll.“ „Aber schön – in diesem Fall zumindest“, entgegne ich. „Ja, aber um Schönheit geht es bei meinen Eltern nicht. Es geht darum, dass man etwas wird, dass man etwas hat. Eine gute soziale Stellung, die richtige moralische und politische Einstellung. Und vor allem geht es um absoluten Gehorsam.“

„Klingt ein bisschen altmodisch, wenn ich das sagen darf.“ „Darfst du. Es ist total altmodisch. Deshalb ist mein Leben auch absolut zum Kotzen.“ Während sie redet, zeichnet sie die noch fehlenden Striche. Nun ist auch Frodos Mund vollständig. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie nirgendwo eine Foto liegen hat, von dem sie abzeichnet.

„Hast du das etwa einfach so gezeichnet?“ „Ja, ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Und außerdem die Szene schon hundertmal gesehen.“

„Ich auch“, gebe ich zu und stelle fest, dass das missverständlich formuliert ist. „Also, ich habe den Film schon oft gesehen. Ein fotografisches Gedächtnis habe ich leider nicht“, führe ich daher aus.

„Willst du das beruflich machen?“, frage ich neugierig und deute ehrfürchtig auf die Zeichnung.

„Das fragen alle, die meine Bilder sehen“, sagt sie und kritzelt das Datum unter die Zeichnung.

„Außer meine Eltern“, fügt sie dann noch hinzu. „Die wissen auch so, was ich zu wollen habe. Deshalb studiere ich jetzt im siebten Semester Jura.“

„Oh Gott, wie langweilig“, entfährt es mir.

„Du sagst es“, erwidert sie. „Ich bin gar nicht mal so schlecht. Aber ein Job als Richter oder Anwalt ist so ungefähr das Schrecklichste, was ich mir vorstellen kann. Aber es geht nicht um Spaß und Spannung, sondern um Nutzen, Ansehen, Gehalt et cetera pp.“

„Und warum machst du nicht einfach das, was dir Spaß macht?“, will ich wissen und schicke ein kurzes, schnelles Dankgebiet an den Himmel, dass mich meine Eltern nie dazu verdonnert haben, etwas zu studieren, was mich nicht die Bohne interessiert.

„Weil es gar nicht so einfach ist, zu meinen Eltern Nein zu sagen. Ich weiß, das klingt bescheuert …“

„Naja, es ist halt die Familie“, sage ich.

Sie nickt. „Deshalb fahre ich jetzt auch wieder nach Hause. Obwohl es das Letzte ist, was ich will. Da wird doch nur wieder auf mir rumgehackt. Die elenden Fragen nach dem Studium, Zwänge, die mir auferlegt werden, Bestimmungen, wie ich zu sein habe. Immer mit dem drohenden Unterton in der Stimme: Solange wir dir noch dein Leben finanzieren, wirst du tun, was wir dir sagen.“

Ich schweige. Was soll ich auch dazu sagen? Dass es bei mir zum Glück anders ist?

Sie nimmt mein Schweigen zum Anlass, das Thema zu wechseln und deutet auf das Bild. „Weißt du, welche Szene das ist?“

„Klar“, antworte ich. „Frodo steht am Fluss und hat Angst vor dem, was ihm bevorsteht. Er weiß nicht, wie er mit dem Ring umgehen soll und erinnert sich an das Gespräch mit Gandalf in der Mine von Moria.“

„Ich wünschte, ich hätte den Ring nie bekommen. Ich wünschte, all das wäre nie passiert“, zitiert sie die Worte des Hobbits.

„Das tun alle, die solche Zeiten erleben. Aber es liegt nicht in ihrer Macht, das zu entscheiden. Wir können nur entscheiden, was wir mit der Zeit anfangen wollen, die uns gegeben ist“, antworte ich mit Gandalfs Worten.

Wie cool ist das denn? Seit Ewigkeiten habe ich mich schon nicht mehr mit Filmzitaten unterhalten. Ihr scheint es auch Spaß zu machen. Ein Grinsen fliegt über ihr Gesicht.

„Und das ist ein beruhigender Gedanke“, führt sie das Zitat zu Ende. Ihre Augen bekommen einen nachdenklichen Glanz.

Sie greift nach der Fahrplaninformation, die auf dem Tisch liegt und blättert darin herum.

„Das würde tatsächlich gehen…“, murmelt sie vor sich hin.

„Musst du noch umsteigen?“, frage ich.

„Eigentlich nicht“, sagt sie und schlägt den Fahrplan wieder zu. „Aber ich habe gerade überlegt, dass ich spontan zu meinem Freund fahre über Weihnachten.“

Jetzt fällt mir die Kinnlade tatsächlich runter. „Und deine Eltern?“, frage ich verblüfft.

„Die können mich dann mal.“

„Werden die dich nicht bei deinem Freund zuerst vermuten?“, gebe ich zu bedenken.

„Dazu müssten sie erst einmal wissen, dass es ihn gibt“, erwidert meine Sitznachbarin mit einem zufriedenen Lächeln.

Mein Blick spiegelt wohl tausend Fragezeichen wieder. Denn sie sieht mich beinahe mitleidig an und erklärt dann in Oberlehrer-Manier: „Ein Freund, der nur Krankenpfleger ist, ist für die Tochter meiner Eltern wohl nicht der richtige Lebenspartner.“

Ich nicke. Müssen das komische Menschen sein, diese Eltern…

Sie zieht die Beine an und setzt sich quer auf ihren Sitz, wobei ihr die Kladde vom Tisch fällt. Ich bücke mich danach, um sie aufzuheben, weshalb ich nicht mitbekomme, in welcher Stadt unser Zug als nächstes hält.

Ich reiche ihr die Kladde, die sie dankbar entgegen nimmt, auf ihren Knien eine neue Seite aufschlägt und mit schnellen Strichen wieder zu zeichnen beginnt.

„Weißt du, was eins meiner Lieblingszitate ist aus dem ersten Herr der Ringe Film?“

„Hm?“, mache ich. Woher soll ich das wissen?

Meins ist definitiv, das von Legolas immer wieder gern benutzte „Orks!“

„Der Satz, den Bilbo Frodo mit auf den Weg gegeben hat: Es ist eine gefährliche Sache, Frodo, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.“

In der Anzeige am Wagenende blinkt rot die Ankunftszeit am nächsten Bahnhof auf. 17:27 Uhr. Gefolgt von dem Hinweis, dass man daran denken soll, all sein Gepäck mitzunehmen. Meine Sitznachbarin springt auf.

„Du machst das jetzt echt?“, sage ich erstaunt. „Du fährst nicht nach Hause?“

„Nö“, lautet die einfache Antwort.

Ich stehe ebenfalls auf, um ihr Platz zu machen und sie rauszulassen.

Sie zieht ihren Koffer aus der Gepäckablage und wirft sich ihren Rucksack über die Schulter.

„Gute Fahrt noch und frohe Weihnachten“, sagt sie, als der Zug hält.

Diesmal klingt es tatsächlich so, wie Frohe Weihnachten.

Während sie hinter den anderen Fahrgästen das Abteil verlässt, singt sie vor sich hin:

„Let it go, let it go, turn away and slam the door. I don’t care what they’re going to say.”

Völlig verblüfft sehe ich ihr hinterher. Erst als mich von hinten jemand unwirsch darauf hinweist, dass er auch noch rausmüsse und ich gefälligst Platz machen solle, finde ich wieder in die Realität zurück. Ich lasse mich in meinen Sitz fallen.

Mein Blick fällt auf den nun leeren Platz neben mir. Unten auf dem Fußboden liegt ein Blatt Papier. Ich hebe es auf – und blicke in einen Spiegel.

Sie hat mich gezeichnet. Nicht so genau und detailliert wie Frodo. Aber das bin doch unverkennbar ich auf dem Bild. Am unteren Bildrand entdecke ich eine weitere Zeichnung.

Ich erkenne die Szene: Gandalf, der sich an den Rand der Brücke von Khazad-Dûm klammert. Allerdings hat sie Gandalf Gesichtszüge durch ihre eigenen ersetzt und darüber eine kleine Sprechblase gemalt.

„Fly, you fools!“

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz