Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Ich würde mich mehr freuen, als Sie sich vorstellen können! Eine Weihnachtsgeschichte vom Weihnachtsmann! Wäre das nicht was!” Während ich wieder zu meinem Platz zurück schlendere, dudeln noch immer die kitschigen Weihnachtslieder in meinem Kopf nach, obwohl ich schon vor einiger Zeit die Kopfhörer wieder abgesetzt habe. Glockenklingeln und Engelschöre sind halt doch extrem ohrwurmverheißend. Aber vielleicht müssen Weihnachtslieder so sein. Den Hirten vor den Toren von Bethlehem ist das „Halleluja“ und „Gloria in excelsis Deo“ der Engel ja auch nicht aus dem Kopf gegangen.

Während ich darüber nachdenke, wie dieses allererste Weihnachtslied wohl geklungen haben mag und mich auf meinen Platz plumpsen lasse, fällt mein Blick auf die Frau, die mir schräg gegenüber sitzt. Sie saß schon dort, als ich zugestiegen bin. Und obwohl alle anderen Fahrgäste um uns herum in den letzten Stunden mehr oder weniger ins Gespräch gekommen sind, ist über ihre Lippen noch kein Wort gekommen. Zwischendurch hat sie wohl geschlafen. Aber sonst… Ob sie vielleicht Ausländerin ist und gar nicht verstanden hat, worüber die Familie, die Omi, der Schaffner und ich geredet haben? Aber so unbeteiligt wirkte sie wiederum auch nicht.

„Darf ich noch einmal ein wenig Schokolade anbieten?“, fragt in diesem Moment die alte Dame und zieht den Plastikbeutel mit den Goldsternen aus ihrer Handtasche. Hänschen und Martha greifen begeistert zu, auch ich bediene mich noch einmal an den leckeren Pralinen.

„Und Sie, möchten Sie auch?“, fragt die Omi und hält ihrer Sitznachbarin die Tüte vor die Nase.

Diese schüttelt den Kopf. „Danke, mir ist nicht so nach Schokolade“, sagt sie.

Die Studentin neben mir schüttelt ungläubig den Kopf. „Wie kann es denn Momente geben, in denen man keine Schokolade möchte? Meine Schwester sagt immer: „Wenn Schokolade die Antwort ist, ist das Problem egal!“

„Das wäre schön, wenn es so einfach wäre“, antwortet die Frau. Um ihre Mundwinkel zuckt es heftig.

Dass fällt auch der schokoladebegeisterten Studentin auf.

„Oh je – da bin ich jetzt, glaube ich, voll in ein Fettnäpfchen getreten, oder?“, fragt sie betreten. „Tut mir Leid.“

Ein paar Tränen laufen aus den Augen der Frau. Dennoch winkt sie ab. „Schon in Ordnung. Können Sie ja nicht wissen.“

Die alte Dame stellt die Tüte mit der Schokolade zur Seite und zieht ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, das sie der Frau hinhält. Dankbar nimmt sie es entgegen und wischt sich damit über die Augen. Doch sobald sie das Taschentuch wieder abgesetzt und die leicht verschmierte Mascara offenbart hat, entfahren ihr heftige Schluchzer und die Tränen laufen erneut.

„Sie sehen nicht so aus, als ob Sie richtig in Weihnachtsstimmung wären“, sagt die Studentin hilflos und sieht die Frau mitfühlend an.

„Ich weiß einfach nicht, wie ich dieses Jahr feiern soll“, entgegnet die Frau.

Es scheint, als ob sie die ganze Zeit nur darauf gewartet hätte, erzählen zu dürfen. Auch, wenn es ganz offenbar keine schöne Geschichte ist, die ihr auf der Seele liegt, ist es ihr doch anzusehen, dass es ihr ein Bedürfnis ist, sie loszuwerden.

„Es ist das erste Weihnachten ohne meinen Mann“, erzählt sie. „Seinetwegen habe ich damals meine Heimat verlassen. Ihm zuliebe bin ich aus Danzig weggezogen und ihm nach Deutschland gefolgt. Als wir uns ’85 kennenlernten, konnten wir die Sprache des anderen noch nicht verstehen, aber da war etwas zwischen uns, das stärker war, als alles, was man mit Worten hätte ausdrücken können. Wenn wir später über etwas sprachen, gab es immer wieder Momente, in denen wir uns ansahen, und sagten: „Das habe ich immer schon über dich gewusst!“ – Selbst wenn wir nie zuvor darüber gesprochen hatten. Nach der Wende haben wir uns Stück für Stück unsere Welt erobert. Wir waren so lebenshungrig und neugierig, dass wir alles sehen und kennenlernen wollten. Zwar hatten wir nie viel Geld, obwohl wir beide hart gearbeitet haben. Für besondere exklusive Reisen hat es also nie gereicht. Aber wir luden die Welt einfach zu uns nach Hause ein. Da wir keine eigenen Kinder hatten, nahmen wir jedes Jahr Jungen und Mädchen aus anderen Ländern bei uns auf. In den letzten 15 Jahren hatten wir Gastschüler von überall aus der Welt bei uns. Zu den meisten haben wir noch immer Kontakt. Natürlich waren die schon groß und haben viel ihr eigenes Ding gemacht, aber Familienzeit war uns immer wichtig. Und obwohl wir auch die Stunden zu zweit sehr genossen haben, ist mein Mann jedes Mal neu aufgeblüht, wenn er einen unserer Gastschüler für unsere Heimat begeistern konnte. Er war sehr patriotisch, aber nicht im übertriebenen Sinn. Er wusste einfach zu schätzen, was unsere Region ihm bot, genauso wie er wusste, was ihr fehlte. Durch seine Liebe wurde seine Heimat auch meine Heimat. Am Wochenende sind wir immer spazieren gegangen. Bei jedem Wetter. Im Sommer mit kurzen Hosen und Eis in der Hand, seine Lieblingssorte war Erdbeer. Im Herbst gingen wir oft zusammen unter dem großen Regenschirm, den wir einmal beim Wichteln gewonnen hatten, im Winter sind wir oftmals durch den Schnee den Berg hochgestapft und haben oben auf dem Gipfel einen kleinen Schneemann gebaut. Und im Frühling haben wir gemeinsam die Krokusse bewundert, die sich durch den kalten Boden an die Oberfläche kämpften. Ich mag die deutsche Sprache sehr, deshalb haben mein Mann und ich immer in seiner Muttersprache gesprochen. Aber er wusste auch genau, wann ich es brauchte, in meiner Muttersprache zu reden. Und nie klang es schöner, als wenn er mir auf Polnisch sagte, dass er mich liebte.“

Die Frau macht eine Pause und lächelt verliebt.

Wahnsinn, denke ich, dass man auch nach so vielen Jahren noch so verliebt sein kann. Beinahe werde ich auch ganz verliebt, oder ist das einfach nur Freude darüber, dass diese Frau so ein Glück erfahren durfte?

„Vor drei Monaten haben sie bei ihm Krebs festgestellt. Metastasen, Endstadium – nichts mehr zu machen. Ich konnte das nicht glauben. Ich wollte es auch nicht glauben. Ich dachte, wenn ich es einfach nicht akzeptiere, dann ändert sich die Wahrheit vielleicht noch. Aber es ist leider nicht so gekommen. Vor vier Wochen ist er gestorben. Dabei hatte ich mich gerade widerstrebend daran gewöhnt, dass er krank ist. Jetzt ist es wieder genauso wie vor drei Monaten. Ich kann es einfach nicht glauben. Aber jeden Morgen, wenn ich aufwache, sehe ich, dass seine Betthälfte genauso unbenutzt ist, wie am Abend. Genauso wie seine Kaffeetasse seitdem unbenutzt im Schrank steht. Und an seinem Wintermantel klebt nur noch sein Geruch. Ich halte es in dieser Wohnung kaum noch aus. Jede Ecke und jedes einzelne Teil erinnert an ihn und schreit mir ins Gesicht, dass er nicht wiederkommen wird. Und obwohl ich natürlich dankbar bin für die vielen schönen Jahre, die wir hatten, und dafür, dass ihm ein langes Leiden erspart geblieben ist, fühle ich mich so heimatlos wie noch nie zuvor in meinem Leben.“

Ich schlucke. Auf einmal kann ich gut verstehen, warum diese Frau nicht in Weihnachtsstimmung ist. Mir fehlen die Worte. Was könnte ich auch sagen, was dieser Frau auch nur ansatzweise helfen würde. Das gängige „Mein herzliches Beileid“ klingt abgedroschen und leer, „Das wird schon“, ist absolut falsch. Tote kehren nicht zurück. Da lässt sich nichts dran rütteln. Und darauf zu spekulieren, dass, wenn der erste Schmerz erst vorbei ist, man auch wieder lachen kann, ist zwar vielleicht wahr, aber eben auch in diesem Moment zu weit gegriffen.

Die Omi tut das, was vielleicht am besten ist. Sie sagt nichts. Stattdessen legt sie ihren Arm um die Schulter der Frau.

Betretenes Schweigen herrscht. In den Augen der alten Dame sehe ich, dass sie zu diesem Thema eine Menge weiser Dinge zu sagen hätte. Aber sie sagt es ohne Worte.

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz