Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Diese Version von Last Christmas macht wirklich absolut Spaß! Nach bestimmt einer Stunde Bordprogramm benötige ich dringend ein wenig Ruhe. Ich lächle mei­nen Mitreisenden zu, ehe ich mich von meinem Platz erhebe und langsam durch die Waggons schreite. Einmal bis ans Ende und wieder zurück. So schlage ich wenigstens einen kleinen Teil der Zeit tot, und irgendwie erfüllt es mich mit Vorfreude, all die erwartungsvollen Gesichter zu sehen, die sich ebenfalls auf Zuhause freuen.

Ich habe meinen Platz wieder erreicht, überlege es mir dann aber spontan anders. Etwas hat meine Aufmerksamkeit erregt, das mir zuvor noch gar nicht aufgefallen ist. Der alte Mann sitzt am Ende des Abteils hinten rechts in der Ecke, neben ihm eine jüngere Frau, vielleicht in meinem Alter, und ein Vater mit einem kleinen Kind vor ihm. Das Haar des Alten ist weiß wie Schnee, sein Bart strahlt in der gleichen Farbe. Er ist in einen roten Mantel gehüllt, der am Saum mit weißem Fell besetzt ist. Die rote Mütze mit der weißen Bommel knetet er unablässig in seinen Händen.

Dass sogar der Weihnachtsmann auf die Bahn angewiesen ist, habe ich noch gar nicht gewusst! Einen Moment stelle ich mir vor, wie ich zu ihm hinübergehe und ihn frage, ob er denn vergessen habe, wo er seine Rentier geparkt hat, wische diesen Gedanken dann aber beiseite, weil er mir doch sehr schnippisch erscheint. Außerdem spricht es sicher für schlechtes Karma, so kurz vor Weihnach­ten noch einen Witz über den Weihnachtsmann zu machen, und ihn dann auch noch an den Weih­nachtsmann selbst zu richten! Zwar war ich noch nie besonders abergläubisch, aber die ganzen Ge­schenke will ich trotzdem nicht aufs Spiel setzen.

Trotz allen Haderns merke ich plötzlich, wie es mich zu dem alten Mann hinüber zieht, fast als würde seine schlichte Anwesenheit wie ein Magnet auf mich wirken. Bald stehe ich vor ihm und starre zu ihm hinab. Ich komme mir ziemlich dumm vor in diesem Moment, merke wie der Vater und der Junge zu mir aufsehen, während die Frau keine Notiz von mir nimmt. Sie ist in eine Lektüre von Charles Dickens vertieft. Ich hoffe, dass es wenigstens Eine Weihnachtsgeschichte ist, die sie für interessanter erachtet als mich, das hätte noch eine gewisse Komik, wenn man schon neben dem Weihnachtsmann sitzt.

»Hohoho«, begrüßt mich der Alte plötzlich aus dem Nichts heraus und ich fahre leicht zusam­men. Seine Stimme ist tief und rau, im Grunde genauso, wie ich mir die Stimme des Weihnachts­mannes mein Leben lang vorgestellt habe. Er hat ein freundliches Lächeln unter seinem vollen Bart, doch als seine Worte noch einmal in meinem Kopf nachklingen, merke ich, dass sie falsch waren. Standardisiert und längst nicht mehr ernst gemeint.

Fieberhaft überlege ich, was ich sagen könnte, das nicht entweder wie aus einer schlechten Ko­mödie oder wie ein billiger Anmachspruch klingt. »Sie haben nicht zufällig auch ein Geschenk für mich dabei?« Innerlich ärgere ich mich über diesen Satz. Habe ich es gerade wirklich mit schlechter Komödie und Anmachspruch in einem versucht?

Der alte Mann lächelt, diesmal sieht es sogar echt aus. »Bist du nicht schon ein bisschen zu alt für den Weihnachtsmann?«

Ich versuche es mit einem Lächeln zurück. »Ich meinte ja auch nicht, dass ich gleich auf ihrem Schoß sitzen möchte.« Verdammt! Und da dachte ich gerade, ich würde es schaffen, von dem An­machspruch wegzukommen!

Zum Glück nimmt der Alte es mit Humor und lacht. Vielleicht hat er die unterschwellige Bot­schaft in meinen Worten auch gar nicht bemerkt. »Ich muss dich enttäuschen, aber meine Rentiere sind leider mit den ganzen Geschenken davon geflogen und haben mich vergessen.«

Dann also doch, triumphiere ich stumm, noch jemand, der so absurd denkt wie ich. Und der Junge sieht nur zu seinem Vater auf und haucht ein leises »Siehste?«

»Das ist aber schade«, meine ich. »Gibt es dieses Jahr denn keine Geschenke?«

»Das wäre ja eine Tragödie, mit der ich nicht leben könnte!« Er lacht wieder, jetzt klingt es bei­nahe traurig. »Natürlich bin ich auf dem Weg, meine Rentiere einzuholen. Einer meiner Weih­nachtswichtel erzählte mir, er habe die Tiere weit unten im Süden gesehen, da wo es viel zu heiß ist für sie. Scheinbar haben sie sich verflogen. Ich komme ihnen entgegen, schnappe den Schlitten und fliege danach sofort los. Kein Kind soll ohne Geschenk sein, das verspreche ich bei meinem langen Bart!« Theatralisch zieht er an seinem Bart und der Junge lacht.

Sein Vater drückt ihn fest an sich und lächelt zu dem Alten hinüber. »Es ist doch herrlich, wenn die Kleinen den Weihnachtszauber einfach nicht verlieren wollen, meinen Sie nicht auch? Felix ist so überzeugt davon, dass Sie die Geschenke bringen. Einmal hat er sich zur Bescherung nicht ins Wohnzimmer getraut, weil er durchs Schlüsselloch etwas Rotes in der Stube gesehen hat.« Er lacht und streichelt den Kopf seines Sohnes. »Ihre Kinder haben den Glauben an den Weihnachtsmann bestimmt auch nie aufgegeben, wo sie ihn doch immer wieder sehen.«

Plötzlich starren die Augen des Weihnachtsmanns traurig in die Ferne, als schwebe er in Erinne­rungen, die so weit entfernt liegen, dass wir ihm dahin nicht folgen können. »Ich habe keine Kin­der.«

Der Vater scheint seine Trauer nicht bemerkt zu haben, denn er zwinkert und sagt lächelnd: »Na­türlich nicht, Sie sind ja der Weihnachtsmann

Der alte Mann blinzelt und blickt dann kurz hinaus aus dem Fenster. Jeglicher Weihnachtscharm, der zuvor noch an ihm haftete wie ein wertvolles Parfum, ist nun plötzlich verflogen. »Nein, ich habe wirklich keine Kinder. Es sollte nicht so sein.«

Auch der Vater hat es nun begriffen, und plötzlich schaut er betreten drein. »Das … Das tut mir leid … Ich wusste ja nicht …«

»Machen Sie sich nicht lächerlich, wie sollten Sie das auch!« Der Weihnachtsmann versucht zu lächeln, es gelingt ihm nur mit viel Mühe. »Wir wussten es ja selbst nicht einmal, bis es uns endlich schmerzhaft bewusst wurde.«

Ich überlege kurz, ob dieses Gespräch wohl den Weihnachtszauber, von dem der Vater gespro­chen hatte, von dem Jungen reißen könnte, vergesse es aber schnell wieder. Der kleine Felix sieht zu jung aus, um überhaupt begreifen zu können, was der Weihnachtsmann da von sich gibt.

Schweigend lasse ich mich auf einen freien Platz gegenüber des Viererbereichs sinken, die Beine im Gang, sodass ich dem Alten voll und ganz zugewandt bin.

Er sieht von dem Vater zu mir und dann, mit einem liebevollen Lächeln, hinab zu dem Jungen. »Wir haben lange versucht, ein Kind zu bekommen, viele viele Jahre, haben unzählige Gebete zum Himmel geschickt, aber scheinbar blieben sie ungehört. Wir konnten nicht aufhören, es weiter zu versuchen. Wir waren doch so glücklich und es war das einzige, das uns noch zu unserem Glück fehlte.« Lächelnd sieht er zu dem Vater auf. »Ich habe damals noch in einem Fotografieladen gear­beitet, wir haben Filme entwickelt, so was gab es damals noch, heute braucht das ja niemand mehr.« Er zwinkert mir zu und ich verstehe, dass dies eine dieser Die Jugend von heute…-Ansprachen ge­wesen sein muss.

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz