Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Weil ich versuchen muss, Ihnen klar zu machen, dass diese Präsentation nicht fertig ist und von diesem Telefonat auch nicht fertiger wird…“ Wir gucken nur noch verdutzter. Nach einer kurzen Zeit legt der Mann sein Handy auf und guckt in die Runde. „Verzeihung, ich bin bin…“ – Sein Handy klingelt erneut und er geht ran.

Die alte Dame hat mittlerweile ihr Brötchen aufgegessen. Ich schaue sie erwartungsvoll an, als würde es gleich die Bescherung geben. Sie weiß meinen Blick zu deuten und lächelt mich an. „Sie wollen wissen, wie es weiter geht, oder? Der Amerikaner wollte, wie gesagt, nur mit mir die formalen Dinge durchgehen und mir die frohe Botschaft überbringen. Ich war so froh, wissen Sie. Ich habe natürlich angefangen zu weinen, vor lauter Freude. Als mein Mann und seine Mutter das hörten, kamen sie sofort zu der Tür gelaufen, es hätte ja auch sonst was passiert sein können.“ Sie macht eine bedeutungsvolle Pause, als freue sie sich selbst, was gleich kommt. „Wissen Sie, als der Soldat die schwangere Frau sah, machte er große Augen. Er wusste gar nicht so recht, was er sagen sollte und stammelt etwa vor sich hin. Dann entschuldigte er sich und meinte, er ist gleich wieder da. Als er wieder kam, hatte er ein großes Stück Speck in der Hand.“

Jetzt grinst die Dame wirklich wie ein Honigkuchenpferd, von Ohr zu Ohr. „Er hat es uns einfach gegeben. Das kann man sich gar nicht vorstellen, oder? Er hat es uns einfach überlassen. Er hätte dafür in Teufels Küche kommen können. Die Brennnesselsuppe war an diesem Abend besonders lecker, das können Sie mir glauben.“ Ich stelle mir vor, was das für ein Gefühl gewesen sein muss. Und wie wenig es eigentlich braucht, um glücklich zu sein. In mir steigt ein unwohliges Gefühl auf. Muss ich mir dieses Jahr zu Weihnachten wirklich so teure Sachen wünschen?

Ich schaue wieder zu der Dame, erwartungsvoll wie die Geschichte weiter geht. Sie hat die Augen aber schon zu gemacht. Ich gucke mich im Wagen um. Es ist bei allen etwas nachdenklich geworden. Nur der Typ mit Handy versucht seiner Freundin irgendwie begreiflich zu machen, dass er mit einem Kollegen telefoniert hat, wirklich.

In der digitalen Wagenanzeige schwebt ein roter Leuchtstreifen durch den Balken. „Jazz, Klassik oder Pop – erleben Sie vielfältiges Musikprogramm hier an Bord.“

Da mein Handy-Akku ja eh gerade seinen Dienst quittiert hat, stöpsle ich kurzerhand meine Kopfhörer in den Kopfhörereingang an meinem Sitz. Im ersten Programm des Bordradios höre ich zunächst nichts. Vielleicht muss ich die Lautstärke erhöhen?

„Glooooooooriaaaaa!“, scheppert es mir so laut ins Ohr, dass ich mir beinahe reflexartig die Kopfhörer aus den Ohren reiße. Als ich mich von dem ersten Schrecken erholt habe, dringen leisere Töne an mein Ohr. Klingt nach Oper… hm, irgendwie nicht so ganz meins. Ich schalte also in den nächsten Sender. Offenbar drücke ich aber wohl zu fest auf den Knopf, und lande, statt im zweiten, schon im dritten Programm. Dem Kinderprogramm. Das, was gespielt wird, kommt mir nur zu bekannt vor. Ein stöhnendes Ofenrohr und ein etwas scheppernder Schellenkranz. Na klar, das ist die gute alte Weihnachtsbäckerei.

Aus Nostalgie bleibe ich dabei und singe in Gedanken den Text mit. Bei der zweiten Strophe halte ich jedoch inne. Ich erinnere mich, dass ich als kleines Kind nie wusste, was, zur Hölle, „Sukkade“ war. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich es immer noch nicht. Vielleicht sollte ich das mal schnell googeln? Ach nee, geht ja nicht. Der Akku ist ja leer. Dieser Weihnachtsklassiker macht richtig Lust auf Plätzchen, weshalb ich kurzerhand aus meinem Rucksack die Dose mit den Keksen vom letzten WG-Backen hervorziehe. Während ich einen Keks nach dem nächsten in meinen Mund schiebe, und so zum Glück vom lauten Mitsingen abgehalten werde, lausche ich den folgenden Liedern. Schneeflöckchen, Weißröckchen trifft auf den Schmetterling im Tannenbaum, und die Himmelskinder erzählen noch von Nikolaus und Weihnachtsmann.

Das richtig nostalgische Gefühl, wie bei der Weihnachtsbäckerei, will sich bei mir allerdings nicht mehr so richtig einstellen. Das darauf folgende Kinderhörspiel, dessen Sinn sich mir nicht so ganz erschließt, kann daran auch nichts ändern. Ich schalte also um und lande dieses Mal tatsächlich im zweiten Programm. Dort erwartet mich schon Christmas-Pop von seiner schlimmsten Seite. „… Feed the woooorld… Pling pling pling pling… Feed the woooorld, let them know it’s Christmas time…”

Ach ja, was wäre Weihnachten ohne eine anständige Charity-Platte?

Allerdings ist diese Version hier schon mega kitschig. Mir fällt ein Video ein, das eine Freundin mir im vorigen Jahr mal geschickt hat. In dem stellte eine Gruppe internationaler Studierender in Norwegen dar, wie sehr solche Bilder und Songs die Wahrnehmung verzerren. Sie erstellten ein Charity-Lied für Norwegen, in dem sie alle Afrikaner dazu auffordern, ihre Heizungen zu spenden, damit die Kinder in Norwegen nicht frieren müssen. Auf dieses Lied, das vom Kitsch-Grad nicht weit von Do they know it’s Christmas entfernt ist, warte ich allerdings vergeblich. Denn Band Aid wird von Mariah Carey abgelöst.

I don’t want a lot for Christmas, there is just one thing I need, I don’t care about the presents underneath the Christmas tree…” „Als ob!“, denke ich, während mir auffällt, dass ich tatsächlich zum ersten Mal bewusst auf den Text dieses Liedes geachtet habe. Ich frage mich, was Mariah Carey wohl für ein Gesicht machen würde, wenn tatsächlich nur dieser Jemand vor der Tür stehen würde, ganz ohne ein Geschenk. Gehören die nicht einfach zu Weihnachten dazu? – Aber vielleicht schätze ich Mariah da auch völlig falsch ein…

Da wirkt Melanie Thornton mit ihrem Wonderful Dream schon irgendwie überzeugender. „A wonderful dream of joy and fun for everyone, to celebrate a life where all are free…”  Erinnert mich wiederum etwas an John Lennon und Yoko Ono. Aber grundsätzlich haben sie ja alle irgendwie recht. Wirkt jedoch halt alles irgendwie nur so halb glaubwürdig, wenn das alles in schönstem kommerziellen Pop daherkommt.

Wenn zwar musikalisch auch nicht großartig anders, trifft Chris Rea gerade trotzdem meinen persönlichen Nerv. Denn ich bin ja schließlich gerade auch „driving home for Christmas.“ Und auch wenn’s kitschig ist, freue ich mich natürlich meine Familie jetzt an Weihnachten wiederzusehen. „It’s gonna take some time, but I’ll get there“, sing Chris weiter.

Ich schaue auf die Uhr in der Wagenanzeige. Ja, lange dürfte es tatsächlich nicht mehr dauern. Vorher aber werde ich noch von dem unsäglichen „Feliz Navidad“ beschallt. „Danke“, denke ich sarkastisch, „jetzt werde ich für die nächsten zwei Wochen dieses blöde Lied im Kopf haben.“ „I wanna wish you a meeerry Christmas, I wanna wish you a meeerry christmas… – from the bottom of my heart…” Mit Sicherheit! Schlimmer kann es jetzt eigentlich nicht mehr werden. Oder? Doch, das Bordprogramm hat noch etwas auf Lager. Ich höre diese verräterischen Glöckchen, die vertrauten Akkorde und dieses bekannte Schlagzeugmuster. „Nein, bitte nicht“, flehe ich innerlich. Aber dann zucke ich überrascht zusammen. Das ist nicht das befürchtete Last Christmas von Wham. Die Melodie ist es, unverkennbar. „Weihnachten ist mir doch egal, ich bin drei Karat Kaugummiautomat. Schenk dir ohne Papier mein billiges, billiges Herz.“

Oha! Was ist das? Gespannt höre ich weiter zu. „Komm, wir bleiben zwischen den Jahr’n, sollen doch die Reichen die Berge kaputt fahr’n…“ Ein amüsiertes Grinsen legt sich auf mein Gesicht. Diese Version von Last Christmas macht wirklich absolut Spaß!

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz