Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Wir waren schon fünf oder sogar zehn Minuten wieder unterwegs als sich die Tür des Abteils öffnet. Zögerlich, fast zitternd schiebt sich ein riesiger, alter Lederkoffer hindurch, gefolgt von einer alten Dame. Sie sieht schon arg gebrechlich aus und hat einen tiefen Gang der von ihrem Buckel kommen muss, der sich unter dem schweren Mantel abzeichnet. Als sie den leeren Platz erblickt, den Red hinterlassen hat, huscht Hoffnung über ihr Gesicht. Ich rutsche ein wenig hin und her und fange an zu räumen, um ihr klar zu machen, dass sie sich gerne setzen kann. Als sie den Koffer in Richtung Platz schiebt und schleppt, fragt sie trotzdem mit überraschend fester Stimme: „Entschuldigen sie, ist dieser Platz noch frei?“ Ich stehe auf, um ihren Koffer entgegen zu nehmen und in die Ablage über unseren Köpfen zu heben. Dabei nicke ich lächelnd und sage: „Natürlich doch, kann ich Ihnen bei dem Koffer helfen?“ Sie bedankt sich und reicht mir das halbe Möbelstück. Als ich es entgegennehme, breche ich fast zusammen. Hat die Frau etwa ihre Steinsammlung dabei? Ich habe es jedoch angeboten und deswegen bucksiere ich den Koffer, ohne dabei allzu angestrengt auszusehen, in die Ablage. Ich habe ein wenig Angst, als ich direkt unter dem Gepäck Platz nehme.

Die alte Dame hat sich mittlerweile von ihrem Mantel befreit und sitzt, sichtlich erleichtert einen Platz gefunden zu haben und glücklich auf ihrem Sitz. Gerade als ich das Buch wieder in die Hand nehme und versuche zu ergründen, an welcher Stelle ich aufgehört habe, spricht sie mich an: „Ganz schön schwer der Koffer, oder? Wissen sie mein Enkel hat dieses Jahr angefangen zu studieren, Geologie. Da dachte ich, ich bringe ihm die alte Sammlung von seinem Opa mit. Die beiden konnte ja immer so gut und jetzt ist er ja im Sommer gestorben und mein Mann hat ja immer Quarze und andere Steine gesammelt. Da freut er sich bestimmt.“

Wahnsinn, denke ich. Wie wahrscheinlich ist das denn, das jemand wirklich mal seine Steinsammlung in einem Koffer hat. „Ja“, sage ich, „da würde ich mich auch freuen“. Die Ironie kann jedoch nicht ausgepfeilt genug gewesen sein, denn die alte Frau fragt mich: „Wirklich studieren sie denn auch mit Steinen?“ „Nein, aber sie verschenken eine so schön Erinnerung. Da würde ich mich drüber freuen.“ Die nächste halbe Stunde passiert nicht viel. Die Lichter der niedersächsischen Dörfer fliegen an uns vorbei, von dem flachen Land sieht man sonst nicht viel, es wird langsam dunkel. Ich bin ganz vertieft in mein Buch, als die alte Frau wieder sagt: „Sie werden recht haben. Wissen sie, mein Mann, der hat mit dem Sammeln schon angefangen bevor wir uns kannten. Mit 17 Jahren waren wir ja schon ein Paar. Das war damals 1945. Da gab es ja auch nur Erinnerungen zu Weihnachten.“

Die alte Frau schaut aus dem Fenster. Draußen ist es mittlerweile dunkel geworden und ihr Spiegelbild in dem verschmierten Fenster des Zuges lässt sie noch einmal älter aussehen als sie ohnehin schon seien musste. Ihre Augen suchen traurig etwas sehenswertes hinter der Scheibe, aber sie sieht nur das Bild des sich spiegelnden Treiben im inneren des Wagens.

„Wie war das damals“, frage ich. Zögerlich, als hätte ich sie ertappt, dreht die Frau ihren Kopf zu mir und guckt mich verdutzt an. „Was bitte? Was meinen sie?“ Ich lächel sie an, „der Winter und das Weihnachten nach dem Krieg? Das war doch bestimmt schwer?“

„Ach“, seufzt sie, „nein es ging, wir hatten ja uns. Mein Mann, seine Mutter und ich. Es war sogar eines der schönsten Weihnachtsfeste die ich hatte. Bevor ich die Feiertage mit meinen Kindern und Enkeln verbringen konnte natürlich. Wir haben damals auf einem kleinen Gehöft in Friesland gelebt. Meine Mutter war ja schon früher gestorben und mein Vater damals noch Kriegsgefangener.“ Sie macht eine Pause, als würde sie genau jetzt wieder in dem Jahr sein und alles vor ihren Augen haben. Sie schaut traurig auf mein Buch, ganz in Gedanken. Plötzlich huscht ein freches Grinsen über ihr Gesicht und sie hebt wieder an: „Die Mutter meines verstorbenen Mannes war damals schwanger. Das Essen war knapp, viele Säuglinge und Kleinkinder waren seit dem Krieg bereits gestorben, wir hatten ja nichts. Die Amerikaner durften uns nichts geben, das war irgendwie eine Sanktion um das ganze Volk zu bestrafen. Es gab nur Lebensmittelmarken.“ Als sie aufblickt, sieht sie, wie das halbe Abteil an ihren Lippen hängt. Selbst der kleine Hans hatte ganz vergessen, warum er nach dem Kasper geschrieen hatte und starrte sie an. Die alte Dame lächelt ihn liebevoll an. „Ja, weißt du was wir damals zum Essen hatten, an dem heiligen Abend?“ Hans schüttelt verblüfft den Kopf.

„Brennnesselsuppe,“ sagt die Frau. Hans steckt die Zunge raus und lässt ein lautes Bäh hören. „Aber das juckt doch dann im Mund?“ „Oh nein, die wurden gekocht. Aber geschmeckt hat es nie. Das Salz war so knapp. Heute finden das ja alle gesund und modern. Das versteh ich nicht.“ Ich muss ihr da beipflichten. Gesunde Ernährung ist ja wichtig, es gibt aber Grenzen. Jetzt bin ich aber auch gespannt, wieso dieses Fest so besonders war. Die Frau packt ein Käsebrötchen aus und beißt ab und krümelt dabei auf ihren Schoß. Sie räuspert sich kurz, aber stark und erzählt weiter. „An diesem Heiligabend schmeckte die Suppe jedoch besser. Wisst ihr, die Amerikaner verteilten damals die Briefe, wenn sie Kriegsgefangene gefunden hatten. An dem Abend kamen sie zu mir. Könnt ihr euch vorstellen, was das für eine tolle Nachricht war? Mein Papi lebte. Und sollte bald zurück kommen. Als der Soldat meine Schwiegermutter sah stockte er kurz. Eigentlich sollte er nur den Brief übergeben und mit mir die ganzen formalen Sachen klären. Und dann“ –

„NEIN. Herr Gott, Müller. Ich sitze im Zug, ich bin auf dem Weg nach Hause. Die Präsentation ist natürlich noch nicht fertig wenn die Deadline im Januar ist. Nein. Nein, ich – hören sie mal. Ich schicke ihnen den aktuellen Stand wenn ich daheim bin, ok?“ Alle gucken sich verdutzt um. Ein großer Mann im Anzug, mit Aktenkoffer und Telefon steht im Gang. Der Zug muss zwischenzeitlich angehalten haben. Entnervt schaut er sich um und sieht den freien Platz, zwei Sitze neben mir. „Ist da frei?“ herrscht er mich an. „Äh, also, ja natürlich,“ sage ich etwas geniert. Der Mann lässt sich auf den Platz fallen und blafft weiter in sein Handy: „Ich weiß wirklich nicht warum wir jetzt, heute, diese Diskussion führen. Das ist absolut unprofessionell und ein wirklich schlechtes Timing. Meine Frau hat mich bereits zweimal angerufen. Ich kann da nicht rangehen, wissen sie warum? Nein? Weil ich versuchen muss ihren klar zu machen, das diese Präsentation nicht fertig ist und von diesem Telefonat auch nicht fertiger wird…“

 

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz