Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Als wären ihre Hände es gewohnt, Wunden zu heilen. Für mehr als zwei Minuten ist es betreten still zwischen uns Dreien. Der Hund hat sich längst wieder aus dem Staub gemacht und außer den besorgten Blicken benachbarter Reisender bin ich mit den beiden Fremden auf mich allein gestellt. Wenigstens lächelt die Frau immer wieder liebevoll zu mir hinüber. Der Mann hingegen sieht aus, als würde er mich jeden Moment anspringen, als wäre er selbst der Hund. Das schwarze Haar zumindest besitzen sie beide, überlege ich.

Ich schmunzle leicht, fühle mich aber gleich schlecht dafür. Wenigstens ist mir nun warm. Der Mann, Spiller erinnere ich mich, reißt der Frau sein iPad aus der Hand und lässt sich nieder­geschlagen auf seinen Platz sinken, als hielte er ein totes Kind in den Armen. Dann plötzlich blitzen Tränen in seinen Augen auf.

Noch ehe ich etwas sagen kann, stellt die Frau den Kaffeebecher ab und wendet sich zu ihm. »Mein Gott, was ist denn? Das ist doch alles kein Grund zum Weinen. Legen Sie das da rüber, so was geht meistens wieder an, wenn es getrocknet ist.« Sie redet mit ihm, als wäre er ihr Sohn, dabei kann sie kaum älter sein als er. Dennoch scheint es ihn zu beruhigen.

Er reicht mir das Gerät, zittert dabei, und ich lege es auf den freien Sitz neben mir. Der Mann be­ginnt zu erzählen, ohne dass irgendjemand ihn dazu auffordern muss. »Meine Frau ist schwanger.« »Herzlichen Glückwunsch«, sage ich prompt und fühle mich gleich dumm dabei.

Glücklicherweise geht Spiller nicht auf meine Bemerkung ein. »Unsere erste Tochter. Sie wird ein Weihnachtsgeschenk. Aber ich werde nicht da sein, wenn sie auf die Welt kommt. Ich bin da in Singapur, geschäftlich. Wenn ich zurückkomme, wartet meine Frau wahrscheinlich schon Zuhause mit dem Kind auf mich. Sie wird ohne mich in den Wehen liegen und ich werde die Kleine nicht halten können, wenn sie da ist. Dieser besondere Moment und ich verpasse ihn.«

»Sagen Sie den Geschäftstermin doch einfach ab«, wirft die Frau ein, als wäre es das Einfachste auf der Welt. Vielleicht war es das ja sogar. »Das kann ich nicht. Es ist doch so wichtig, wissen Sie.« »Wichtiger als Ihre kleine Familie?« Er erwidert nichts darauf, hält nur den Kopf gesenkt und starrt auf seine Hände. Tränen sind nicht mehr zu sehen, dafür ist die Wut zurückgekehrt, hat viel­leicht die Trauer verdrängt. Die Frau seufzt und lehnt sich zurück.

»Ich bin Krankenschwester, wis­sen Sie. Ich hab lange auf der Neurochirurgie gearbeitet. Oft auch an Heiligabend. Da durfte mein Mann mitkommen, wenn er Zeit hatte, und helfen, auch wenn er selbst kein Krankenpfleger ist. DDR-Zeiten, da war Vieles noch nicht so genau wie heute.« Sie lächelt kurz in Gedanken, ehe sie fortfährt. »Wir hatten auch Komapatienten auf unserer Station, sogar recht häufig. Ich erinnere mich an das eine Weihnachtsfest, 1987 war es, glaube ich. Da musste ich nicht arbeiten, aber wir Schwes­tern hatten diese Abmachung getroffen, immer anzurufen an Heiligabend und zu fragen, wie viel Arbeit es gibt. Nur falls noch jemand gebraucht wird. Als die Schwester abnahm, hörte ich sie wei­nen, das war das Erste, was ich wahrnahm. Und dann leise Musik im Hintergrund. Ein Akkordeon.«

Sie lacht leise in sich hinein und sieht dann von ihren verschränkten Armen zu mir auf. »Das war natürlich seltsam für mich, ich wusste ja nicht, was los war. Hab mich auch gleich erkundigt, ob alles in Ordnung ist. Es war der Mann einer unserer Patientinnen. Sie lag schon viele Wochen im Koma und ihr Mann kam sie jeden Tag besuchen, saß von morgens bis abends an ihrem Bett, sprach mit ihr, obwohl niemand ihm sagen konnte, ob sie es überhaupt hören würde. An Heiligabend hat er sein Akkordeon genommen und seiner Frau ihre liebsten Weihnachtslieder vorgespielt. Über eine Stunde saß er neben ihrem Bett und spielte für sie, und sie rührte sich nicht. Und die Schwes­tern standen an der Tür, wann immer sie konnten, um ihm zuzuhören, selbst die Patienten in den Nebenzimmern wurden still. Er wusste nicht, ob seine Frau ihn hörte, aber er wusste, dass es ihr gefallen würde, wenn sie es hören konnte. Also spielte er.«

Sie schluckt. Ihre Augen wirken feucht und plötzlich merke ich, dass auch auf meiner rechten Wange eine nasse Träne hinunter geronnen ist. »Nur wenige Tage nach Weihnachten ist sie aus dem Koma aufgewacht. Sie war nicht völlig ge­heilt, natürlich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es ihr geholfen hat, dass er da war. Zu spüren, dass da jemand ist, der sie liebt. Der um sie sorgt.«

Die Krankenschwester hört auf zu erzählen und lange ist es still zwischen uns. Ich sehe aus dem Fenster. Eine Straße verläuft gerade neben den Schienen und die Laternenlichter glänzen wie Sterne in meinen nassen Augen. Sie hat recht, denke ich mir, es ist das Schönste auf der Welt, wenn es jemanden gibt, von dem man geliebt wird, gerade zu Weihnachten. Ich spreche meine Gedanken nicht aus. Ich spüre, dass wir in diesem Moment alle mit unseren Gedanken allein sein wollen.

Erst, als das iPad mit einem grellen Leuchten wieder anspringt, rutsche ich zurück in die Wirk­lichkeit. Die Kaffeeflecken auf dem Display sehen getrocknet aus. Es dauert einige Zeit, dann aber öffnet sich der Home-Bildschirm. Wie aus Reflex entsperrt Spiller das Gerät. Keine Minute ver­streicht, ehe ein Klingeln ertönt und ein Gesicht auf dem Display erscheint.

»Einer meiner Geschäftspartner«, erklärt Spiller, als müsste er sich entschuldigen. Seine Stimme ist heiser. »Gehen Sie ran«, sagt die Schwester lächelnd, »wir werden Sie nicht stören.« Sie blickt zu mir hinüber und zwinkert mir zu. Verdutzt lächle ich zurück. Spiller drückt auf das grüne Telefon, aber er schweigt.

»Frank? Bist du da? Die Verbindung war vorhin plötzlich weg und ich konnte dich nicht mehr erreichen. Alles in Ordnung bei dir? Hallo?« »Ja ja, alles gut.« Seine leiernde, raue Stimme straft seine Worte Lügen.

»Wenn du meinst. Ich habe dir noch einmal die Fakten geschickt, du weißt ja, die Leute von drü­ben erwarten einfach immer mehr, vor allem die aus Singapur, richtige Füchse in manchen Angele­genheiten. Kannst du es dir ansehen und mir kurze Rückmeldung schicken?« »Ja sicher … Oder … Nein …« Er unterbricht sich, sieht hinaus aus dem Fenster, dann zur Decke des Zuges hinauf. Er seufzt. »Es wird kein Meeting geben. Ich muss absagen.«

Kurze Stille. »Was meinst du damit, absagen? Ist wirklich alles in Ordnung?« Spiller lächelt, zum ersten Mal sehe ich ihn wirklich glücklich. »Ja, jetzt schon. Es gibt nur ein­fach … etwas Wichtigeres.« »Wichtiger als das Meeting?« »Oh ja.« Frank Spiller grinst beinahe. »Viel, viel wichtiger.«

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz