Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Ihre Zöpfe fallen auf den Tisch. Die Mutter lächelt zufrieden. Die Lichter eines weiteren Bahnhofs verschwinden hinter uns in der Ferne und mit ihm auch die anderen kleineren hellen Punkte von Straßenlaternen oder erleuchteten Fenstern und ab und an, wenn die Häuser nah genug an den Gleisen stehen, sogar ein strahlender Weihnachtsstern an der einen oder anderen Scheibe.

Mit dem Licht verschwindet auch die Wärme, die ich bis dahin zumindest noch zu fühlen geglaubt hatte und eine eigentümliche Kälte durchfährt mich, zieht bis in meine Finger und Füße. Ich merke, wie ich schaudere. Vielleicht ist es auch die Müdigkeit, sage ich mir. Du hast wenig geschlafen. Das war noch nie gut für deinen Kreislauf.

Da mir nicht wirklich nach Schlafen ist, und ich den Geschmack der letzten Tasse Kaffee immer noch auf meiner Zunge spüre, gibt es nur eine andere Möglichkeit, mich aus meiner Halbschlaf­phase zu reißen. Ich erhebe mich so schnell, dass die Studentin neben mir vor Schreck zusammenfährt. Im Ge­gensatz zu mir hat sie wohl versucht zu schlafen, doch in meiner Eile muss ich sie angestoßen haben. Müde blinzelt sie zu mir auf, hin und her gerissen zwischen Verwirrung und vorwurfsvoller Anklage. Ich schenke ihr ein entschuldigendes Lächeln.

»Wollen Sie ein wenig Abendgymnastik machen?«, fragt mich die ältere Dame grinsend. »Ja, das ist immer eine gute Idee, wenn die Beine so schwer werden, ein wenig dehnen, dann spürt man auch die dicken Füße wieder. Wegen der Wassereinlagerung, Sie wissen schon.«

»Richtig, die Wassereinlagerung«, erwidere ich, als wüsste ich tatsächlich. Natürlich weiß ich es nicht. Blass ist mir in Erinnerung, dass sich meine Tante an manchen Tagen über dicke Füße be­klagte. Doch da mein Vater immer nur erwiderte, ihre Füße seien nicht das einzige Dicke an ihr, und damit meist einen Streit entfachte, der schnell in einer wochenlangen Fehde zwischen der Familien meiner Tante und unserer endete, hatte ich diese Erinnerungen früh aus meinem Kopf gestrichen.

Ich lächle die Frau noch einmal lieb an. »Eigentlich wollte ich mir aber nur die Beine vertreten. Ist ganz schön kalt geworden hier drin.« »Ja ja.« Sie lacht auf. »Im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt. Aber man schafft sich ja war­me Gedanken.« »Da haben Sie wohl recht.«

Sie bietet mir noch ein Stück ihrer Schokolade an, bevor ich gehe, aber ich lehne dankend ab. Ein kurzer Blick über die Schulter zurück, verrät mir, dass die Studentin bereits wieder in tiefen Schlaf versunken ist. Hoffentlich träumt sie von etwas Warmem, überlege ich. Einen kurzen Moment lang versuche ich wirklich, den Ratschlag der Frau in die Tat umzusetzen. Aber auch nach mentalen Bildern von heißer Schokolade, einem prasselnden Kaminfeuer oder einem dampfenden Bad wird mir nicht wirklich wärmer. Ein mentales Bad ist eben doch kein richtiges Bad. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, Badewannen in Züge einzubauen, verwerfe ihn dann jedoch schnell wie­der. Sicher würde so etwas nur in haufenweise Belästigungen und Verklagungen enden und die Fenster müsste man auch verhängen, wenn man nicht unfreiwillig zum ersten Pornografischen Zug Deutschlands mutieren wollte.

Ein Hund springt an mir vorbei und reißt mich aus meinen verstörenden Gedanken. Innerlich bin ich ihm dankbar dafür. Das Fell des Tieres ist schwarz und lang und ein Funke verspielter Wildheit glänzt in seinen dunklen Augen. Er dreht sich kurz zu mir um, bellt mich an, als wollte er nach etwas fragen, ehe er wieder kehrt macht und weiter den Gang des Abteils hinunter stürmt. Er kommt nicht weit. Nach nur zwei, drei größeren Sprüngen hat er eine Frau angestoßen, die sich gerade erst von ihrem Platz erhoben hatte. Sie taumelt und der Kaffeebecher in ihrer Hand gerät in eine ge­fährliche Schräglage.

Da ich das Unglück kommen sehe, beschleunige ich meinen Schritt kurz, als könnte ich den Kaffee mit meinen Händen auffangen. Ich bin zu langsam. Als ich ihren Platz erreiche, ist der Mann neben ihr schon aufgesprungen, sein Gesicht bleich vor Wut. Ich sehe Kaffeeflecken auf seinem teuren, dunkelblauen Anzug und, noch viel schlimmer, auf seinem iPad. Der Bildschirm des Geräts ist schwarz. Dem Gesicht des Mannes nach ist er das jedoch noch nicht allzu lange.

»Ist das etwa ihr verdammter Köter? Das ersetzen Sie mir aber, haben Sie gehört? Das Vieh ein­fach hier frei herumlaufen zu lassen, das ist doch kein Ort für so ein Tier, wissen Sie überhaupt, wie teuer Sie das kommt?« Er lässt mir kaum Zeit, mich zu rechtfertigen. Abwehrend hebe ich beide Hände. »Der … Der gehört nicht mir«, stammle ich mühsam, und füge noch hinzu: »Der Hund, meine ich. Wirklich nicht.«

Der Mann starrt mich an, die Augen zusammengekniffen, dass sie beinahe schwarz wirken. »Es ist mir völlig egal, wem das Tier gehört, Hauptsache ich bekomme das ersetzt! Und das Geld für einen neuen Anzug brauche ich auch, ich kann ja so nicht zum Meeting aufkreuzen!« »Aber, der Hund gehört nicht mir. Ich war nur zufällig hier.« »Ich heiße Spiller, nur für die Versicherung. Soll ich es Ihnen aufschreiben?«

Einen Moment überlege ich, ob ich es noch einmal mit einer Rechtfertigung versuchen soll, dann schweige ich jedoch. Der Mann scheint meinen Worten ohnehin kaum Beachtung zu schenken. Die Frau mit dem Kaffeebecher, in dem jetzt kaum noch Kaffee ist, legt behutsam die freie Hand auf meinen Arm. »Setzen Sie sich doch, bitte.« Sie deutet auf die gegenüberliegende Sitzreihe des Viererbereichs, die noch leer ist. Seufzend nehme ich Platz und beobachte, wie der Mann sich aus seiner Anzugjacke schält, um sie zum Trocknen über Tisch und Mülleimer zu legen. Die Frau stellt ihren Kaffeebecher ab und betastet vorsichtig das iPad. Als wären ihre Hände es gewohnt, Wunden zu heilen.

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz