Autoren: Constanze Budde, Julia Schlichtkrull, Philipp Schulz und Katerina Wagner

Alle Jahre wieder… geht es mit dem Zug an Weihnachten nach Hause zu der Familie, den alten Freunden und dem leckeren Essen von Mami. Zwischen all dem Schönen und mir liegen jedoch noch über zehn Stunden Zugfahrt. Es überrascht mich immer wieder, wie viel es auf einer Zugfahrt zu erleben und zu entdecken gibt. 

Welcher Engel?, frage ich mich. „Welcher Engel?“, fragen auch die Mutter und der Vater wie aus einem Munde. „Na, der Verkündigungsengel“, erklärt Hänschen. „Der Maria hat er gesagt, dass das Baby Jesus heißen soll, und bei uns hat er gesagt, dass wir Martha und Hänschen heißen sollen.“ „Ach so, der Engel. Der ist noch nicht dagewesen“, gibt Hänschens Mutter zu. Der kleine Junge macht große Augen. „Dann ist er aber spät dran! Woher sollen wir denn dann wissen, wie das Baby heißt, wenn es kommt?“

Eine gute Frage. Ich frage mich, wie man mit drei Jahren schon zu so großen philosophischen Gedanken fähig sein kann. Vor allem aber bin ich froh, dass ich diese Frage nicht beantworten muss. Ich hätte nämlich keine Ahnung. Aber ich glaube auch nicht, dass ich in dem Alter schon so genau über die einzelnen Protagonisten der Weihnachtsgeschichte Bescheid wusste.

Neugierig warte ich ab, was den Eltern wohl als Antwort auf die Frage ihres Sprösslings einfällt. Mir fällt auf, dass sie einander gerührte Blicke zuwerfen. „Der Engel kommt bestimmt noch“, meint der Vater schließlich zuversichtlich.

Wow! Dass die Antwort so einfach sein könnte, hätte ich nicht gedacht. Hänschen scheint beruhigt und gibt sich für den Augenblick damit zufrieden. Er stützt den Kopf in die Hände und schaut aus dem Fenster. Ich schlage mein Buch auf, dass ich schon seit einer Weile unbeachtet vor mir auf dem Tisch liegen habe, und lese ein paar Zeilen. Doch ich schaffe nicht einmal eine Seite, da wird meine Aufmerksamkeit wieder zu der Familie gelenkt.

Hänschen schaut noch immer aus dem Fenster – aber er hat angefangen zu singen. Etwas schief zwar, aber es ist doch deutlich zu erkennen, dass es „Ihr Kinderlein kommet“ ist. Seine Schwester fällt nach der zweiten Zeile mit ein und singt begeistert mit.

„Nicht so laut“, mahnt ihre Mutter. „Vielleicht stört es die anderen Leute.“ „Ach iwo“, beteuert die alte Dame. „Das ist doch herrlich, wenn die Kinder singen.“ Sagt es, und singt die zweite Strophe gleich mit. Ich klappe mein Buch wieder zu. Zwar bin ich nicht mehr so ganz textsicher, aber ich summe die Melodie trotzdem gedankenverloren mit. Zum Lesen komme ich in den nächsten Minuten sowieso nicht.

„Ihr Kinderlein kommet“ geht nahtlos über in „Kling Glöckchen“ und „Dicke rote Kerzen.“ Ich merke, wie die Fahrgäste um uns herum anfangs erst ein wenig überrascht schauen, aber dann fällt tatsächlich der ein oder andere Fahrgast mit ein. Ein völlig spontaner Flashmob – und die Kinder wissen nicht einmal, was das ist.

„So, jetzt ist aber mal gut“, meint die Mutter schließlich nach dem sechsten Weihnachtslied. „Nein, eins noch“, bittet Hänschen. „Das mit dem Kind, das schlafen will.“ Verwundert krame ich in meinem Hirn nach einem Lied mit einem solchen Inhalt. Aber so sehr ich auch überlege, mir fällt keines ein. Zum Glück weiß Hänschens Mutter besser Bescheid. Leise fängt sie an zu singen:

„Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will.“ Hänschen kreuzt die Arme auf der Tischplatte und legt den Kopf darauf. Gebannt lauscht er dem Gesang seiner Mutter. Genauso wie der Rest des Abteils. So leise habe ich einen Großraumwagen noch nie erlebt.

„Schlaf, schlaf, schlaf, mein liebes Kindlein, schlaf!“, singt die Mutter leise und sanft in der zweiten Strophe. Hänschen blinzelt immer heftiger, und am Ende der Strophe bleiben die Augen schließlich zu. Auch ich muss mich stark zusammenreißen, um nicht einzuschlafen. Es ist so lange her, dass meine Mutter mir ein Schlaflied gesungen hat, dass ich tatsächlich vergessen habe, wie stark die Wirkung sein kann. Vielleicht hängt es aber auch damit zusammen, dass ich ja schon geraume Zeit auf meinem Platz hier im Zug sitze. Um Martha ist es eine Strophe später geschehen. Ihre Zöpfe fallen auf den Tisch. Die Mutter lächelt zufrieden.

Beitragsbild: Claude Monet: Train in the Snow (1875) (public domain), bearbeitet von Philipp Schulz