Autorin: Constanze Budde

Ein freies Leben in Einklang mit der Natur zu leben, wünschen sich einige, denen die Großstadt zu viel wird. Wirklich unabhängig zu leben, ist jedoch fast unmöglich, wenn Staat und Gesellschaft ihre Ansprüche erheben. Im Wagendorf Alt Ungnade wird der Wunschtraum nach Freiheit trotzdem wahr.

Sechs Kilometer hinter Greifswald, dort wo es eigentlich nur noch Landschaft zu sehen gibt, führt eine schmale Straße zwischen urwüchsigen Feldern und Gärten hindurch irgendwo ins Nirgendwo. Eine Straße, die ziemlich unbedeutend aussieht und auf den ersten Blick nicht unbedingt vielversprechend scheint. Hier kommt man wohl nur aus Versehen hin – oder wenn man etwas sucht. So wie wir.

Denn hier irgendwo zwischen den Feldern und Gärten befindet sich die Wagenburg Alt Ungnade. Nach ein paar vorsichtigen Schritten durch das Dickicht von Büschen und Bäumen, finden wir tatsächlich, was wir suchen. Eine Ansammlung von bunten Wagen, inmitten von unglaublich viel Grün.

Dort treffen wir auf Josefine Titze, genannt Tula, und ihre Familie. Tula, ihr Freund und die beiden kleinen Töchter, sitzen auf der überdachten Terrasse, die direkt vor ihrem roten Bauwagen installiert ist. Das Frühstück ist gerade beendet, ein lauer Wind weht über die Terrasse, Vogelgezwitscher und Bienengesumm vervollständigen die Idylle.

Freudestrahlend werden wir begrüßt. Wir sind neugierig und haben viele Fragen mitgebracht, aber erst einmal lädt Tula uns zu einer Führung über das Gelände ein. Ihre ältere Tochter nutzt die Gelegenheit, ihre Puppe im Puppenwagen zwischen den Wagen spazieren zu fahren. Und wir werden auf diesem Spaziergang wieder zu Kindern, die alles mit staunenden Augen beobachten.

Das Gelände des Wagenplatzes ist größer als wir vermutet hätten. Zwischen Wiesen und Bäumen findet sich an beinahe jeder Ecke ein Garten. Hier wachsen neben einer Hollywoodschaukel Zucchini, dort leuchten rote Paprika unweit der Solardusche, die mitten auf der Wiese steht.

„Mithilfe der Solarpanels wird Regenwasser erhitzt und man kann eine warme Dusche genießen“, erklärt Tula.

Ein wenig skeptisch schauen wir in den wolkenverhangenen Himmel. Und das soll funktionieren? Zu 20-Minuten Dauerduschen bei 35 Grad Wassertemperatur wird es wohl nicht reichen. Dafür verfügt der Wagenplatz aber über einen Luxus, von dem mancher Student im Wohnheim vergeblich träumt: eine eigene Sauna.

Diese befindet sich, wie könnte es anders sein, in einem eigene Wagen, der übrigens auch als Gästewagen genutzt wird. So auch jetzt, weswegen wir uns dieses „Schwitzhäuschen“ leider nicht genauer ansehen können. Stattdessen zeigt Tula uns ein anderes Schmankerl des Geländes. Die Badewanne. Wie die Solardusche steht auch diese mitten auf einer Wiese – unter freiem Himmel. Aufgebockt auf Ziegelsteinen, und seltsamerweise ohne Wasseranschluss. Das muss also von dem Badenden selbst herangeschafft werden. Immerhin muss nicht kalt gebadet werden. Unter der Badewanne kann ein Feuer entfacht werden, welches das Badewasser angenehm aufheizt. Leider aber auch den Boden der Wanne.

„Man muss sich schon eine Unterlage mitbringen, sonst verbrennt man sich den Hintern“, verrät Tula uns lachend.

Mittlerweile haben wir auf unserem Spaziergang die unscheinbare Straße überquert. Der Wagenplatz erstreckt sich auf dieser Seite noch weiter ins Grüne.

Unweit der Freiluftbadewanne befindet sich eines der beiden „Shiet-Hus“ – Biotoiletten in Blockhütten, die ein wenig an Baumhäuser erinnern. Vor diesem individuellen Klohäuschen befindet sich ein Beet, und davor, beinahe romantisch, eine weiße Parkbank.

Sollte man also mal warten müssen, bis das Klo frei ist, kann man sich ganz gemütlich auf die Bank setzen und den Blick schweifen lassen.

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Leben à la Peter Lustig

Zu entdecken gibt es nämlich noch eine ganze Menge. Um welche Ecke wir Tula auch folgen, immer wieder stoßen wir auf einen der zurzeit insgesamt 15 Bauwagen, die alle ihren ganz eigenen Charme haben. Manche sind klein und haben ein spitzes Dach und Schornstein – und erinnern so fast an ein Hexenhäuschen auf Rädern, andere Wagen erstrahlen in leuchtenden Farben und haben sogar eine zweite Etage.

Bei diesem Anblick erübrigt sich unsere Frage beinahe, aber wir stellen sie trotzdem: Kann man mit so einem Wagen eigentlich umziehen?

Mit solch aufwändig gestalteten Bauwagen wie den zweigeschossigen, ist das nicht mehr möglich. Aber auch mit den kleinen und verhältnismäßig einfach gehaltenen Wagen ist ein Umzug eher umständlich und mit viel Organisation verbunden. Es muss nämlich ein geeignetes Zugfahrzeug wie zum Beispiel ein Traktor gefunden werden, außerdem muss der Bauwagen TÜV-geprüft sein, um über öffentliche Straßen bewegt werden zu dürfen.

Am einfachsten ist es daher, erst einmal dort zu bleiben, wo man seinen Wagen hingestellt hat. Aber wie kommt man überhaupt an einen bewohnbaren Bauwagen?

„Einen fertigen voll ausgestatteten Bauwagen kann man eigentlich nirgendwo so kaufen“, erzählt Tula uns. Ein geeignetes Fahrgestell lässt sich aber beispielsweise bei ebay erstehen. Wenn man das hat, sind den eigenen Wünschen und der Kreativität maximal handwerkliche Grenzen gesetzt.

In der alten Scheune, einem der wenigen Gebäude auf dem Gelände, befindet sich unter anderem eine Wagenwerkstatt. Tula zeigt uns einen fahrbaren Untersatz, der gerade von einem der Bewohner zum Bauwagen umgestaltet wird. Viel zu sehen gibt es da eigentlich noch nicht. Auf den Radachsen ist eine große Holzplatte installiert, mit einer Fläche von ungefähr 15 Quadratmetern.

Das entspricht aber nicht der späteren Wohnfläche, wird uns erklärt. Schließlich nehmen Außen- und Innenwände, vor allem aber auch die nicht unwichtige Isolierung, noch mal einige Zentimeter Platz in Anspruch. Auf den Quadratmetern, die dann übrig bleiben, muss dann alles Platz finden, was man für den täglichen Bedarf braucht. Bett, Schrank, Herd …

Allerdings ist dem gesamten Gelände anzusehen, dass jemand, der sich für ein Leben im Bauwagen entscheidet, auch für ein Leben an der frischen Luft entscheidet.

So haben sich viele Wagenbewohner vor ihren Wagen ein Freiluftwohnzimmer eingerichtet und die Couch einfach ins Gras gestellt. Oder zwischen den Bäumen hinter dem Wagen ein weiteres Schlafzimmer in Form einer vom Laub überdachten Hängematte aufgebaut.

Grenzenlos gemeinsam

Bei so viel gelebter Offenheit bleibt natürlich die Frage nicht aus, ob man vielleicht nicht zu sehr auf dem Präsentierteller lebt. Denn Zäune gibt es hier an keiner Stelle. Andererseits stehen die Bauwagen weit genug auseinander, dass auf jeden Fall noch genug Platz für Privatsphäre ist. Unabhängig davon lehrt aber auch das Leben ohne sichtbare Grenzen den Respekt zum Nachbarn. Trotzdem ist es natürlich hilfreich, dass die Bewohner des Wagendorfes sich meistens alle sehr gut verstehen. Sie treffen sich regelmäßig zum Plenum und sprechen über gemeinsame Aktionen, notwendige Anschaffungen oder eben auch aufgetretene Probleme. Hat jemand Neues Interesse daran ins Wagendorf zu ziehen, kommt er ebenfalls zum Plenum, stellt sich vor und kann drei Monate zur Probe und zum Kennenlernen in einem Mietwagen wohnen. Anschließend entscheidet das Plenum gemeinsam, ob der „Neuling“ bleiben kann oder nicht. Mit Willkür oder besonderer Auswahl hat dieses Verfahren dabei gar nichts zu tun. Doch wenn man in einer Gemeinschaft lebt, in der viele Dinge geteilt werden, man aufeinander angewiesen ist und insgesamt offen miteinander gelebt wird, ist es wichtig, dass man gut miteinander auskommt.

Wir haben mittlerweile den wunderschönen Garten einer Wagenbewohnerin bewundert und den gemeinsamen Garten, in dem in Beeten großflächig eigenes Gemüse angebaut wird. Auch Obstbäume verteilen sich über das ganze Gelände. Eine beinahe vollständige Selbstversorgung ist also gewährleistet und soll noch weiter ausgebaut werden, erzählt Tula uns. Dazu gehören auch die Hühner, die uns zwischen den Bauwagen auf einem Stück unseres Spaziergangs begleiten.

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„Tagsüber laufen die Hühner frei herum, aber abends sperren wir sie doch im Stall ein. Trotzdem kommt es hin und wieder vor, dass ein Fuchs sich eines der Hühner schnappt.“ Auch Gänse gibt es hier, doch die haben gerade Nachwuchs bekommen und der Gänserich Karl weiß seine Familie mit aggressiven Lauten, Flügelschlagen und Schnabelschnappen zu verteidigen. Wir verziehen uns also lieber wieder.

Es hat angefangen zu regnen und wir folgen Tula zurück zu ihrem roten Bauwagen. Aber da die Terrasse ja überdacht ist, werfen wir nur einen kurzen Blick hinein in den Wagen, der urgemütlich eingerichtet ist und genug Platz für die vierköpfige Familie bietet. Auf der Terrasse lassen wir uns auf Kissen und Decken nieder und sprechen darüber, was Luxus ist, während der Regen auf das Plastikdach trommelt.

Tulas Antwort fällt ein wenig überraschend aus: „Luxus bedeutet für mich, morgens die Tür aufzumachen und direkt „da“ zu sein.“

Das wilde Grün vor der Haus – Pardon – Wagentür ist etwas, das bei einem Leben in der Stadt schwer zu finden ist, deshalb genieße sie es jeden Tag neu, diesen Luxus erleben zu dürfen. Auch die Freiheit, die sie und ihre Kinder auf diese Weise erleben dürfen, schätzt sie an dem Leben in der Wagenburg sehr. Freunde wohnen nur wenige Wagen weiter, man kann sich darauf verlassen, dass man Hilfe bekommt, wenn man welche braucht; dies alles trägt dazu bei, dass Tula überzeugt ist, ein reiches Leben zu führen.

„Warmes Wasser ist auch Luxus“, fügt sie schließlich schmunzelnd hinzu. „Und eine Spülmaschine!“

Diesen Luxus möchten sie und ihr Freund sich demnächst für ihren Bauwagen gönnen, denn abspülen tun sie beide nicht so gerne. Ansonsten genießen sie das einfache Leben.

Das zu glauben, fällt uns nicht schwer. Tula strahlt Zufriedenheit in alle Richtungen aus, so sehr, dass wir für eine Zeit sogar den Regen um uns vergessen. Hier draußen auf der Terrasse vor dem Bauwagen versinken wir schnell in inspirierenden Gesprächen und wechseln zwischenzeitlich die Rollen von Reportern und Interviewtem. Wir merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als Tula feststellt, dass sie eigentlich in einer halben Stunde verabredet ist, beenden wir unseren Besuch.

Als wir, im mittlerweile strömenden Regen, auf unsere Räder steigen, kommt uns die kleine Straße, die den Wagenplatz in zwei Hälften teilt, gar nicht mehr so unscheinbar vor. Für uns ist sie jetzt viel mehr der Weg in ein kleines Paradies auf Erden.

Fotos: Vincent Roth & Constanze Budde