GustavschreibtGUStAV, wer ist eigentlich dieser GUStAV? Der Greifs­wal­der Universitäts-Studentischer Auto­ren­Ver­ein (GUStAV) ist ein Haufen schreibwütiger und literaturbegeisterter Studenten, auch bekannt als Gustels. Sie sin­nieren dar­über, was Lite­ra­tur sei und was nicht, besprechen vor allem die eige­nen Texte und stif­ten ein­an­der immer wie­der zum Schrei­ben an. Die Ergebnisse werden auf Lesungen präsentiert und können nun monatlich auf dem webMoritz gelesen werden.

Der Tod und der Astronaut

Auf seiner Anzeige wechselte Carters Symbol von Grün auf Rot. Collins verfolgte mit zusammengepressten Lippen, wie die dünne Linie von Carters Herzmonitor nunmehr grade über den Bildschirm lief. Carters langsam treibender Körper zuckte, als die Lebenserhaltungsysteme seines Raumanzuges mit den Wiederbelebungsmaßnahmen begannen. Collins Anzeige begann zu blinken, als Carters Anzug ihm ein Notsignal schickte. Der Rettungsplan sah vor, den Verletzten solange zu versorgen, bis er an Bord des Schiffes gebracht und dort versorgt werden konnte. Der Computer wusste nicht, dass diese Option nicht länger zur Verfügung stand. Im Inneren befand sich ebenso wenig Atemluft, wie in Carters Anzug.

Beiläufig schaltete er seinen Empfänger aus. Ohne das schrille Heulen des Alarms hörte er nur das dumpfe Echo seines eigenen schweren Atems. Seine Sauerstoffreserven waren nur geringfügig größer als Carters und würden im besten Fall noch zehn Minuten reichen. Bereits jetzt schmeckte die Atemluft schal, ein sicheres Zeichen für zu häufige Wiederaufbereitung. 

Ein Schatten fiel auf ihn und er hob den Kopf. Durch sein geschlossenes Schutzvisier erkannte er Carters leblosen Körper, der, die Glieder von sich gestreckt, schräg über ihm hing. Im rotgoldenen Visier seines Gegenübers sah er sein eigenes Spiegelbild, den identischen weißen Raumanzug.

Und hinter seinem treibenden Freund, in der Finsternis zwischen den Sternen, erstreckte sich der Messier-78 Nebel. Ein Gebilde gigantischen Ausmaßes, erstreckte sich der kosmische Nebel über eine Entfernung von beinahe einem Lichtjahr. Orange und weißblaue Streifen aus Staub und Gas glühten im Licht der Sterne. Dunkle Wirbel zerrten und krümmten den Raum um sich herum.
Selbst durch sein schützendes äußeres Visier stach das Licht des Nebels in seine Augen und er wandte den Blick wieder ab.
Carters Leichnam kam mit einem Ruck zum stehen, als er das Ende der Sicherungsleine erreichte, mit der an der Außenhaut des Schiffes befestigt war.
In Collins Anzeige blinkte ein zweites Licht auf. Der Reaktor des Schiffes stand kurz vor einem katastrophalen Versagen. “Ersticken oder verglühen? Die Spannung ist kaum auszuhalten.”

Das Sprechen löste ein Kratzen in seinem Rachen aus und er begann, heftig zu husten. Feine Tropfen roten Blutes trieben vor seinen Augen gegen das Glas und er schnitt eine Grimasse. Allem Anschein nach war die Reaktorkernummantelung nicht mehr vollständig intakt. Krächzend lachte er. “Jetzt stecken wir aber ganz schön in Schwierigkeiten, was Carter?” Das Warnlicht begann wie zur Antwort im Sekundentakt zu blinken.

Er dachte an sein fernes Zuhause. Sie waren so weit von der Erde und ihren Kolonien entfernt, das er nicht einmal mehr sagen konnte, welcher Stern der seine war. Collins bereute es, kein Bild seiner Familie aus dem Schiff gerettet zu haben. Natürlich hatte er ihnen gesagt, dass er sie liebte. Tiefenraumerforschung war ebenso berühmt für ihre Entdeckungen, wie sie berüchtigt war für die Verlustzahlen. Aber jetzt, wo sie eine Entfernung von einander getrennt waren, die er sich nicht einmal vorstellen konnte, wünschte er sich nichts sehnlicher, als seinen Mann und ihre Kinder noch einmal halten zu können.
Die Sauerstoffanzeige erreichte ihren Tiefststand. Die Reaktoranzeige blinkte beinahe durchgehend. Collins löste Carters Leine und schaltete seine Magnetstiefel aus. Mit einem kräftigen Tritt stieß er sich ab, umfasste den regungslosen Körper und trug ihn mit sich. Mit der freien Hand öffnete er das äußere Visier. Der atemberaubende Anblick des Nebels brannte sich in Micheal Collins Augen. Die Reaktoreindämmung kollabierte und die Lichter blinkten ein letztes Mal auf.

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Er sah Blitze. Flackernde, vielfarbige, umherspringende Blitze in völliger Dunkelheit. Das war seltsam, den er sollte blind sein und außerdem, und er musste sich eingestehen, dass das wohl der schwerwiegendere Faktor war, er müsste tot sein. Andererseits spürte er gar nichts, konnte sich nicht bewegen, konnte nicht einmal seinen Blick abwenden oder die Augen schließen. Für einen schrecklichen Augenblick malte sich sein Verstand aus, wie er in letzter Sekunde gerettet worden war, nur um jetzt verstümmelt für den Rest seiner jämmerlichen Existenz an ein Krankenbett gefesselt war, blind und zerbrochen und …. Er zwang sich zur Ruhe. Der Gedanke an eine Rettung entgegen jeder Wahrscheinlichkeit war reine Zeitverschwendung. Kein Schiff war in Reichweite gewesen, selbst das nächste hätte mehr als einen Monat für die Reise benötigt.

Mittlerweile hatte er erkannt, dass die Blitze einem Rhythmus folgten, einem wellenartigen anbranden. Er glaubte, Ananas zu hören und noch bevor er über die Sinnlosigkeit dieses Gedanken sinnieren konnte, beschleunigte sich das Flackern zu einem steten Pulsieren und jagte in seinen Schädel. Er besaß weder Mund, noch Zunge oder Stimmbänder, da war er sich inzwischen ziemlich sicher. Er schrie trotzdem.

Es dauerte eine Weile, bis die Schmerzen soweit nachgelassen hatten, das er seine Umgebung wieder wahrzunehmen vermochte. Er steckte wieder in seinem Anzug. Die Elektronik war ausgeschaltet und damit auch die Warnanzeigen. Ohne das leise Summen von Lebenserhaltung und Bordinstrumenten war es in seinem Helm unangenehm still. Hinter dem Glas des inneren Visiers sah Collins die vorbeiziehenden Wirbel des Nebels. Das äußere Visier war noch immer nach oben geschoben, aber das Licht, welches beim letzten Mal seine Augen verbrannt hatte, empfand er nun nicht einmal mehr als unangenehm. Ohne eigenen Antrieb glitt er durch die dichten Gasschwaden eines der langen Ausläufer des Nebels an der südöstlichen Spitze. Immer wieder warf beunruhigte Blicke auf die tote Anzeige. Der Sauerstoff war mit Sicherheit seit Stunden aufgebraucht. Zögernd öffnete er die Verschlussklammern seines Helmes.

Nichts gewagt, nichts gewonnen, dachte er und zog den Helm von seinem Kopf. Obwohl er bereits längere Zeit ohne Sauerstoff überlebt hatte, überraschte ihn sein ausbleibender Tod gewaltig.
Er hatte allerdings kaum Gelegenheit, sich darauf zu konzentrieren, denn ohne den schützenden Helm stürmten noch nie erlebte Sinneseindrücke auf ihn ein.
Er schmeckte den Nebel, der ihn umgab, roch die Äonen, die Staub und Gas anhafteten. Collins fühlte das Kitzeln von Atomen, hörte das dumpfe Grollen eines fernen Sterns, schmeckte dessen Strahlung und das aus einem zerstörten Schiff ausströmende radioaktive Feuer. Winzige Blitze zuckten um ihn herum und jetzt erkannte er sie als Protonen und Neutronen. Er sah alles, fühlte alles. Er hatte Einblick bekommen in die fundamentalen Verknüpfungen des Universums und er lachte ohne einen Laut, gackerte still irgendwo zwischen Verzückung und Wahnsinn, ob der Erkenntnis, die kein Mensch hätte besitzen sollen. Langsam trieb er vor sich hin, das einzige Lebewesen in einer Milliarde Kilometer Umkreis, glitt durch den kosmischen Staub.

Mit der Zeit lernte er, sich aus eigener Kraft zu bewegen und er dauerte nicht lange, bis er durch die orangen Partikel jagte wie ein Fisch durch das Wasser. Er erkundete den Nebel, jeden der langen Ausläufer, erforschte die großen Gravitationsquellen, tauchte hinein in das brodelnde Zentrum.
Er streifte seine alte Form und den Raumanzug ab, ließ sie ebenso zurück, wie er das bloße Menschsein zurück gelassen hatte.
Und als er alles gesehen hatte, suchte er sich den zweiten Stern zu seiner Rechten und steuerte darauf zu. Schneller als es jedem Schiff möglich gewesen wäre, raste er durch die Leere. Er entdeckte namenlose Welten unter namenlosen Sonnen, die noch nicht einmal eine Nummer besaßen. Er schwamm in der Korona eines Zwillingssterns und in den Gasmeeren eines jungen Planeten.
Einer Spur aus ionisiertem Plasma folgte er in ein System, dessen Bewohner Insekten waren, zwei Köpfe größer als er selbst und seine schillernde Form als göttliches Zeichen sahen.
Sie nannten ihn Sternenwanderer. Er blieb nicht zu lange unter ihnen, aber ihm Laufe seiner Entdeckungsreisen besuchte er sie immer wieder. Er beobachtete und half, wo es nötig war und sah, wie sie ihre Herrscher stürzten, ihren Planeten ausbeuteten, große Kunstwerke schufen, ihr eigenes Raumprogramm aufbauten. Der Anblick der schlanken Schiffe auf ihren Startrampen berührte etwas in seinem Inneren, ein Sehnsucht nach einer Heimat, die er nicht kannte.

Zur Ablenkung folgte er den Resten der Spur, die in ursprünglich in dieses System geführt hatte. Sein Willkommensgeschenk war eine Salve Raketen.
Für viele Sonnenzyklen zog er sich in das Nichts zurück, um nachzudenken. Als er aus seinem selbstauferlegten Exil zurückkehrte, lag die insektoide Heimatwelt in Trümmern. Asche und geschwärzte Chitinpanzer bedeckten die Straßen zwischen den großen Turmstöcken. Blind vor Zorn folgte er den Plasmaspuren, die gleich anklagenden Fingern auf die Täter zeigten.
Er kam über sie wie eine Naturgewalt, unaufhaltsam, unerbittlich, verbrannte ihre Welt zu Schlacke, ließ ihre Ozeane kochen und riss ihre Maschinen aus dem Himmel, um sie auf dem Boden zu zerschmettern.
Und als er sein Werk beendet hatte, weinte das Wesen, dass einmal Micheal Collins gewesen war, zum ersten Mal seit hunderten von Jahren, weinte bittere Tränen aus Strahlung in den Raum.
Auch weiterhin durchforstete er das All, stieß auf Welten deren gesamte Technologie auf Kristall basierte, reiste mit einer Schule aus Quallen durch den Perseus-Arm.
Aber mit der Zeit wurde der Wanderer dem Erforschen überdrüssig, wurde müde, wurde alt.
Überall, ganz egal welche Form es annahm, empfand er das Leben gleichermaßen korrupt und verdorben. Schließlich entschied er sich, an den Ort seiner Geburt zurückzukehren.
Die einst orangen Ausläufer des Messier-78 glänzten nun in einem tiefen Rotton. Beinahe zufällig stieß er auf die alten Reste eines primitiven Raumschiffes. Die Hülle war aufgerissen und die Überreste des Reaktors pumpten noch immer radioaktive Strahlung in den Nebel. Die Computer mussten schon vor Jahrhunderten ihre Arbeit aufgegeben haben, doch der Flugschreiber schien noch intakt zu sein.

Mit wachsendem Unbehagen sah der Sternenwanderer sich die Aufzeichnungen an. Der planmäßige Ablauf der Forschungsmission, der Alltag an Bord, bis hin zum katastrophalen Aussetzen der Reaktorkühlung. Zwei Männer hatte das Schiff in Raumanzügen verlassen können, während der Rest der Besatzung ums Leben gekommen war. Er sah sich die Crewliste an, bis sein Blick auf den Namen fiel.

Carter.

Ohne Rücksicht auf das gebeutelte Schiff stieß er durch die Bordwand, peitschte durch den Nebel. Er fand den schwebenden Astronauten über einer der vielen Gravitationsquellen. Hinter dem noch immer intakten Visier war der Körper ohne Luft beinahe perfekt erhalten. Der Wanderer stieß einen stummen Schrei aus. Er hatte seinen Freund hier vergessen, ein Stück toten Fleisches in einer toten Welt. Mit Carter kamen auch andere Erinnerungen zurück. Sein Mann, die Kinder, seine Eltern und Freunde. Seit tausenden von Erdenjahren tot, längst zu Staub zerfallen und vergessen.

Es dauerte einige Zyklen, aber letztlich konnte er die Koordinaten der Erde aus den Resten des Computers retten. Lange überlegte er, was er nun tun sollte. Die Erde, die er kannte, war längst Vergangenheit. Welchen Sinn machte es, in ein Zuhause zurückzukehren, das nicht mehr war, als ein Mausoleum? Und dennoch, alles in ihm verzehrte sich nach dieser Heimat, die er so lange Zeit vergessen hatte.
Er pumpte das Feuer einer Supernova in den Nebel und dann kehrte der Mann, der einmal der Sternenwanderer und davor Michael Collins gewesen war, der Feuerbestattung seines Freundes den Rücken zu.

FlorianHoff_KatrinHaubold

 

Florian Hoff studiert Politikwissenschaft und Geschichte seit 2011. Für das Sommersemester 2014 ist er GUStAV-Schriftführer. Er schreibt überwiegend Science-Fiction und seltener satirisches, wobei ihn vor allem Jules Verne und dessen Wissenschaftshelden inspiriert haben. Seine bisherigen Veröffentlichungen sind auf die GUStAV-Lesungen beschränkt.

 

GUStAV trifft sich montags und freitags 18 Uhr in der Germanistik, diese Treffen stehen allen Interessierten offen. Weitere Informationen zum Verein und zu den Mitgliedern, den regelmäßigen Treffen und den Lesungen finden sich auf der Internetseite.

Dies ist ein Beitrag der Reihe “GUStAV schreibt“. Weitere Werke der Gustels finden sich unter dem Link.

Fotos: Katrin Haubold (Portrait), Lisa Klauke-Kerstan (Buch)