moritz sprach mit Eckard Schumacher, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie am Institut für Deutsche Philologie, über Kulturinteresse in Greifswald, Wolfgang Koeppen und über das Plattenauflegen im ländlichen Raum.
Herr Prof. Schumacher, Sie sind noch nicht so lange hier. Gefällt Ihnen die Universität und Greifswald ?
Nach vier Semestern gefällt mir Greifswald sehr. Es gibt so etwas wie eine Aufbruchstimmung an der Fakultät.
Welche Aufbruchstimmung meinen Sie?
In der Philosophischen Fakultät sind in den letzten zwei Jahren, speziell in den Philologien, einige Professuren neu besetzt worden, einige davon bilden das neue Dekanat. Neue Projekte werden angegangen und das in einer guten Arbeitsatmosphäre – sehr kollegial.
Wie bewerten Sie aufgrund Ihrer Veranstaltungen das Kulturinteresse?
Ich habe einen sehr guten Kontakt zum Alfried Krupp Wissenschaftskolleg und dort eine fortlaufende Vortragsreihe initiieren können, „Literatur. Kultur. Theorie“. Die ist vor einem Jahr verblüffend gut gestartet, mit namhaften Vortragenden, hohen Zuhörerzahlen und hoher Beteiligung von Studierenden. Das wäre in Berlin oder München gar nicht so leicht möglich. Das schätze ich an Greifswald, es ist überschaubar und zugleich extrem reizvoll und produktiv.
Sie sind gleichzeitig Leiter des Wolfgang-Koeppen-Archivs. Wie läuft die Zusammenarbeit mit dem Literaturzentrum Vorpommern?
Einer meiner Schwerpunkte liegt auf Gegenwartsliteratur und so habe ich in Kooperation mit dem Koeppenhaus seit meinem ersten Semester 2009 einige Autoren eingeladen. Das ist gut gelaufen, mit vielen Zuhörern für eine kleine Stadt. Im Vergleich mit meinen Erfahrungen in München und Köln gibt es hier gutes Potential in vielen Bereichen und hier ist Einiges möglich, was so in Großstädten nicht ohne weiteres zu realisieren ist.
Sie haben die Förderungsbewilligung für eine umfassende Arbeit zu Koeppens „Jugend“ erhalten. Was reizt Sie an dem Werk?
Das bedeutet sehr viel für mich, in vielerlei Hinsicht. Die Universität hat vor rund zehn Jahren den kompletten Nachlass von Wolfgang Koeppen erworben, der nun vom Koeppen-Archiv verwaltet wird. Der schmale Band „Jugend“ ist 1976 erschienen, nachdem Koeppen sehr lange nichts veröffentlicht hat. Dazu gehören aber noch rund 1 300 Skriptseiten, die bei uns im Archiv liegen. Darin finden sich Variationen einzelner Erzählstränge, es gibt aber auch nach wie vor die hoffnungsvolle Vermutung, dass sich dort auch der nie geschriebene große Roman von Koeppen verbirgt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat nun Mittel für Mitarbeiterstellen bewilligt, durch die eine umfassende Aufarbeitung und Edition von „Jugend“ möglich wird. Neben der Buchedition im Rahmen der neuen Werkausgabe ist das große Ziel des Projekts eine digitale Edition, welche die möglichen Verknüpfungen und Lesepfade der Typoskriptseiten vernetzen soll, um diese les- und erlebbar zu machen.
Eine typisch philologische Aufgabe?
Ja, eine sehr schwierige Arbeit, angelegt auf drei Jahre: Klärung der Datierung, was ist Vorstufe, Variante, Ausschuss, wie stellt man Zusammenhänge dar, was verweist eventuell auf ganz andere Zusammenhänge. Zwei Mitarbeiterinnen und eine wissenschaftliche Hilfskraft helfen dabei, aber auch ein Programmierer, um eine professionelle visuelle Aufarbeitung für die digitale Edition zu gewährleisten. Außerdem ist eine Tagung am Krupp-Kolleg geplant, die sich auch über Koeppen hinaus mit Problemen der Digitalisierung, der Editionsphilologie und der Frage nach dem Umgang mit Schriftstellernachlässen beschäftigen wird.
Wie ist sonst Ihr Draht zur Greifswalder Kulturlandschaft?
Er läuft vor allem über die beiden Kontakte zum Literaturzentrum und zum Krupp-Kolleg, aber über unseren Arbeitsbereich etwa auch zum Fallada-Haus. Es gibt Vorüberlegungen zu einem Literaturfestival, mit Kollegen planen wir einen interdisziplinären Romantikschwerpunkt, mit Beteiligung der Philologien, der Geschichtswissenschaft, der Musikwissenschaft, der Kunstgeschichte, und das mit engen Kontakten zum Caspar-David-Friedrich-Zentrum, zur Stadt und zum Pommerschen Landesmuseum. Was es sonst noch gibt, muss ich mir auch noch erschließen.
Beim Überfliegen Ihrer Texte ist uns aufgefallen, dass ein Teil oft direkten Bezug zur elektronischen Musik hat. Für einen Literaturprofessor doch ungewöhnlich, oder?
Eine naheliegende Frage, die sich für mich aber so nicht stellt. Den Zusammenhang von Literatur und elektronischer Musik musste ich nicht herstellen, der war schon da. Ich habe aber relativ spät angefangen mich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, obwohl ich schon lange in der Praxis aktiv war (lacht).
Sie waren als DJ aktiv?
In den Achtzigern habe ich in einer kleinen ostwestfälischen Stadt in dem Club „Forum Enger“ gearbeitet. Ich habe mich um das Konzertprogramm gekümmert, wir hatten am Wochenende viele amerikanische und britische Bands dort zu Besuch. Am Bekanntesten ist vermutlich „Nirvana“ neben „Go-Betweens“, „The Jesus & Mary Chain“ oder „Yo La Tengo“. Ich habe aber auch Lesungen organisiert, etwa mit Thomas Meinecke oder Max Goldt. Das war für eine Kleinstadt ungewöhnlich, vielleicht ist Vergleichbares in Greifswald heute möglich. Damals habe ich auch Platten aufgelegt, Alternative und Independent. Anfang der Neunziger wurde mir das zu langweilig und über den Umweg Hip Hop und Soul habe ich New Yorker House Music für mich entdeckt. Und seitdem habe ich eigentlich nur noch elektronische Musik aufgelegt, bin in Clubs gegangen, und habe nach anfänglicher Ablehnung dann auch Techno für mich entdeckt.
Ein typischer Wandel durch die Musikgeschichte, den Sie durchgemacht haben?
Ja, sicherlich, es gibt viele Bekannte, die eine ähnliche Entwicklung machten. Über Auftritte von „Leningrad Sandwich“ in Enger lernte ich etwa Dimitri Hegemann kennen, der bei der Band spielte. Er organisierte damals das „Berlin Atonal“-Festival und war später mit dem „Tresor“ in Berlin in Sachen Techno aktiv. Durch seinen Kontakt zu Vorläufern von „Underground Resistance“ entstand die Schiene Detroit-Berlin. Da ist jemand von der New Wave-Alternative-Szene im elektronischen Bereich gelandet, wie es etwas später bei mir und vielen anderen auch passierte. Die „Spex“-Redaktion, Anfang der Achtziger ein Ort für die Folgen von Punk und New Wave und Mitte der Achtziger dann für diverse Independent- und Alternative-Szenen, startete Ende der Achtziger in Köln den „Rave“-Club, in dem Hip-Hop und House in einem Keller, vereint waren. Das war damals ein Grund, von Bielefeld nach Köln zu fahren, nicht nur, weil ich seit Anfang der Achtziger „Spex“ lese.
Und wann wanderte das private Interesse in Ihre Hochschularbeit?
In Bielefeld habe ich bis Mitte der Neunziger regelmäßig in Clubs aufgelegt. Parallel zu meiner Uni-Arbeit, aber immer getrennt davon. Genau zu dieser Zeit hatte ich meine Promotion abgeschlossen und das neue Paradigma zu dieser Zeit hieß Kulturwissenschaften, gerne mit Bezug zur Gegenwartskultur. Und da ich die aktuellen Arbeiten zum Thema Popkultur unbefriedigend fand und selbst Erfahrung mit diesen Dingen hatte, habe ich meine zuvor recht strikte Trennung zwischen Wissenschaft und Nachtleben aufgegeben. Ich habe dann ein Projekt bewilligt bekommen, in dem ich zu Pop, Theorie, Techno und Schriftstellern wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister, die sich literarisch damit befassten, arbeiten konnte. Damit war die Tür für mich auf: Jetzt kannst du als Wissenschaftler auch darüber schreiben, in der Hinsicht kann man gut philologisch arbeiten.
Haben Sie sich damit auch eingeschränkt?
Eher nicht, ich schreibe ja auch über medientheoretische Fragen. Und meine Beschäftigung mit Gegenwartsliteratur zeigt, dass es ein wichtiger Bestandteil ist. Ich habe mich vor allem auf Popmusik fokussiert. Aber man könnte auch den ganzen Komplex um Videospiele, Blogs, YouTube und dergleichen betrachten. Vieles in der Gegenwartsliteratur ist unverständlich, wenn man dies nicht mit in den Blick nimmt. Wenn das dann auch noch Spaß macht und einen faszinieren kann, ist das eine sehr gute Kombination.
Konnten Sie schon die kleine elektronische Szene in Greifswald kennenlernen?
Ich habe leider bislang vieles verpasst, was ich gerne mitbekommen hätte. Ich musste ein Jahr zwischen Greifswald und München pendeln und war oft nicht hier, wenn etwas passierte. Ein verblüffendes Erlebnis hatte ich aber nach der Lesung mit Moritz von Uslar Anfang des Jahres, als wir noch gegen Mitternacht durch Zufall im TV-Club landeten. Dort wurde ein gut gemixtes Hip-Hop-Set gespielt, lustigerweise mit Stücken, die ich selber Anfang der Neunziger aufgelegt habe (lacht).
Herr Prof. Schumacher, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führten Daniel Focke und Luisa Pischtschan. Foto und Montage wurden von Daniel Focke erstellt.