moritz-Urgestein Ulrich Kötter (28) denkt zu viel und schreibt zu wenig, zumindest in letzter Zeit. Er studierte in Greifswald Kommunikations- wissenschaft und Politikwissenschaft. 2005 war er Chefredakteur des moritz-Magazins, später betreute er den flying moritz.

Eine gute Freundin von mir hat vor drei Monaten eine Tochter zur Welt gebracht. Es ist schon das zweite Kind, ihr Sohn ist mittlerweile zweieinhalb Jahre alt. Ab und zu schaue ich vorbei und wenn ich daran denke, bringe ich ein kleines Geschenk für den Nachwuchs mit. Die Rolle des Besuchsonkels ist schon nett, doch die beiden Wirbelwinde halten einen ganz schön auf Trab. „Onkel Uli“ liest wahlweise etwas vor, singt ein Lied oder baut mit Legosteinen, hilft beim Abendessen oder spontan beim Gang aufs Töpfchen. Auch ein bisschen Babyspucke ist schon auf der Hose gelandet. Das stört mich alles überhaupt nicht und ich freue mich auf jeden Besuch, aber ich weiß nicht, ob ich den Alltag mehrere Tage (und Nächte) durchhalten würde.

Wenn mir in Greifswald neuerdings etwas auffällt, dann sind es die vielen jungen Familien mit kleinen Kindern. Viele Kommilitonen und Bekannte sind Eltern geworden, auch einige, bei denen ich es nie erwartet hätte. Wie viele Studierende mit Kind es in Greifswald gibt, weiß man nicht so genau (siehe auch moritz-Magazin 92, S.20/21), aber gefühlt sind es einige. Der AStA und das Studentenwerk bemühen sich, studierende Eltern zu unterstützen. In einem Jahr soll sogar ein eigener Kindergarten eröffnet werden.

Es gibt wohl keine anspruchsvollere Aufgabe auf dieser Welt als Kinder. Wenn jetzt Betriebswirtschaftler und Juristen die Nase rümpfen und auf verantwortungsvolle Vorstandsposten verweisen, so sei ihnen gesagt, dass viele der hohen Schlipsträger entweder keine Kinder haben oder den Nachwuchs ins Internat abschieben. Bekanntlich wollen wir in der Erziehung alles das besser machen, was uns in der eigenen Kindheit gefehlt hat. Doch sieht man sich dann doch wieder mit sich selbst konfrontiert und es gehört schon eine gute Portion Selbstreflexion dazu, um nicht in die alten Muster zurückzufallen. Ich bewundere junge Eltern für ihren Mut.

Der Autor in seiner Frühzeit.

Wenn man den Entwicklungspsychologen glaubt, entscheidet sich in der Kindheit eine Menge, und läuft etwas schief, kann es mitunter lange dauern, bis man das Problem wieder ausgebügelt hat. Auch wenn wir das in unserer verstandes-sortierten Welt ungern hören: Der Umgang mit unseren Gefühlen wird in der Kindheit geprägt und begleitet uns danach ein Leben lang. Auch Politik fängt schon in der Kindheit an. Freiheit, Toleranz, Grenzen – alles Dinge, die man schon als Kind erlernt. Das kann besser und schlechter laufen.

Wann hört die Kindheit auf? Eigentlich nie, und das ist auch ganz gut so. Natürlich, irgendwann einmal verlieren sich die Spontaneität, der ungezügelte Gefühlsausbruch, das Rumblödeln und zeitlose Spielen, das Geborgensein und die Sorglosigkeit. Aber gottseidank nicht ganz, denn die Kehrseite kann unangenehm sein, der Erwachsene ist gefangen in der Vernunft, in der Planung und Karriere, in seiner Verlorenheit und Weltangst.

Auch wenn wir am Anfang vom Studium liebevoll „Erstis“ getauft werden, sind wir wieder Kinder, und zwar Kinder der Wissenschaft. Behutsam werden wir von der alma mater umfangen, und manchmal dauert es etwas länger, bis wir uns von ihr wieder lösen. Manchmal sind auch die Dozenten und Dozentinnen schuld, je nachdem wie väterlich oder mütterlich sie uns begegnen und uns für das jeweilige Fach zu begeistern vermögen. Natürlich werden wir gemäß dem Humboldtschen Bildungsideal gleich in die Welt der erwachsenen Wissenschaft geworfen, aber so richtig können wir uns erst nach dem Studienabschluss Wissenschaftler nennen.

Es ist doch schön, dass die Kindheit nicht aufhört. Dass wir weiter bereit sind, zu lernen, Amateur und Dilettant zu sein, und schon gar nicht dem Glauben verfallen, die Welt verstanden zu haben. Wer am Ende des Studiums zu dieser Einsicht gelangt, der hat schon viel gewonnen.

Fotos: Christine Fratzke (Kötter heute), privat (Kötter gestern)

Dieser Text ist Teil des webMoritz-Projekts “fünf x fünf – Die Kolumne”. Vom 20. Juni bis 22. Juli schreiben werktags fünf Autoren an je einem festen Tag eine Kolumne für den webMoritz. Weitere Infos gibt es hier. Morgen ist an der Reihe: Sophie Lagies